Schmerzhafte Grenzerfahrung

Von Andreas Wenderoth · 01.01.2010
Mitten in Deutschland liegt ein Kloster des chinesischen Kampfordens der Shaolin-Mönche, die mit höchster Körperbeherrschung und geschultem Geist jeden bewaffneten Gegner ausschalten können. Neulinge scheitern wegen des überaus harten Trainings häufig bereits am ersten Tag.
Die Nachbarin: "Also heute früh, als ich raus bin, hab ich ja diese Gruppe Menschen gesehen, und irgendjemand hat dann die Kommandos gegeben, und dann zack, standen die da. Und ich hab gedacht, ich bin im Gospelchor, und wenn unserer Dirigent mal so'n Befehl geben könnte, das wär' Disziplin."

Der Mönch: "Nein, ich hab keine Angst vor dem Sterben, das hört sich vielleicht komisch an, und das ist 'ne Frage, die man vielleicht nicht jedem stellen würde. Aber bei einem Kampfmönch schon. Jemand, der hier das macht, was ich mache und Angst vor dem Tod hat, ist hier fehl am Platz. Der hat etwas nicht begriffen. Es nimmt einem die Angst, nicht nur Angst vor dem Tod selbst, sondern auch Angst, an Sachen ranzugehen, weil man Angst hat, ah, was passiert jetzt als Nächstes, sei es jetzt der Job, den man nicht bekommt oder man arbeitslos wird, viele Leute machen sich ja wirklich kaputt damit, ja, die leiden darunter …"

Der Abt: "Kämpfen hat nichts mit Aggression zu tun. Ein Kämpfer, der voller Aggression ist, wird vermutlich unterliegen. Wer es wirklich kann, zumindest aus shaolinischer Sicht, kämpft mit ganz kühlem Geist, ist mit sich selbst in Frieden. Da darf man äußere Form und inneres Gefühl nicht verwechseln."

Otterberg in der Pfalz ist ein Ort weniger Versuchungen. 5500 Einwohner, eine sanierte Stadtmauer, ein Brunnen mit Findling, eine Abteikirche, eine Handvoll Schreinereien, eine Schmiede. Seit ein paar Monaten gibt es ein Shaolin-Kloster. Vielleicht denkt man bei einem Tempel der chinesischen Kampfkunst nicht unbedingt an ein zweistöckiges, cremefarbenes Wohnhaus, in dem früher amerikanische Offiziere lebten. Vielleicht stellt man es sich eher freistehend vor. Ohne Reihenhäuser daneben. Mit Pagoden. Chinesischer. Aber wer eine Weile hinter dieser mit zwei Granitlöwen gerahmten Haustür verbringt, hat sich ohnehin von einem Großteil seiner Erwartungen gelöst.

"Erstmal hier abstellen, denn kann man schon mal runterschicken ... Rucksack kann man auch noch mal abstellen. Zunächst mal, herzlich willkommen, ich hoffe, alle sind fit, allen geht’s gut, darf ich grad schon mal ärztliches Attest, so, vielen Dank, so, ja gut. Zum heutigen Tagesablauf ganz kurz, es wird so sein, dass Sie jetzt gleich von einem der Novizen Arbeiten zugewiesen bekommen, dann gibt’s Mittagessen ..."

Die Neuen kommen an. Abt Shi Heng Zong, in brauner Robe, nimmt Luigi, Marcel, Markus und Nadim im Empfang. Besucher, die eine Woche "Kloster auf Zeit" gebucht haben, Shaolin-Touristen, wenn man so will. Das buddhistische Shaolin-Kloster Otterberg ist die einzige Novizen-Ausbildungsstätte dieser Art in Europa. Und nur hier gibt es auch für Nicht-Buddhisten die Möglichkeit, für 350 Euro eine Woche am Klosterleben teilzunehmen. Gleich nachdem die Neuen ihre spartanischen Zweibettzimmer bezogen haben, werden sie eingeteilt zur täglichen Gartenarbeit.

"Also ich bin der Lugi Mele, komm aus Zürlich, 42, als Sprachkursleiter tätig. Warum bin ich hier? Kurzfristiger Ausstieg, keine Option, länger hier zu bleiben, gesundes Leben, Sonnenaufgänge mitzuerleben, 'ne Rauchpause zu machen. Vielleicht, dass es mir mehr Energie gibt."

"Ich heiße Markus Klunk, aus der Nähe von Trier, bin 16 Jahre und geh jetzt in der 11. Klasse, deswegen bin ich gekommen, wegen der Härte, wollt was anderes erleben als jetzt Mallorca-Urlaub ... Was jetzt Kung Fu betrifft, bin ich ganz neu, ich mach Fechten, aber das hat wenig damit zu tun."

"Ich heiße Nadim, geh in Kaiserslautern aufs Heinrich-Heine-Gymnasium, 16 Jahre, mache seit einem Jahr Kung Fu, ich mach Tempel auf Zeit, um Traditionen und alles kennen zu lernen. Ich weiß ja, was auf mich zukommt, ob ich durchsteh, kann's noch nicht einschätzen, aber ich bin optimistisch."

"Also ich bin Marcel Scherer, ich komm aus Kesselbach. Ich hab diese Shaolin schon immer bewundert, ihr ganzes Dasein, ihre Kultur, das fasziniert mich. Über Freunde erfahren, dass es Kloster hier gibt. Ich sag schon, es ist hart, aber ich denke mir, das ist schaffbar. Werden wir sehen, was kommt."

Zunächst einmal kommt die Mittagszeremonie. Vor einem Buddha-Altar im Keller, reichlich mit Kerzen und Kunstblumen geschmückt, knien sie nieder. Der Abt schlägt den Gong und spricht vor.

Auch im Stockwerk drüber, im Büro des Abtes, befinden sich allerlei rituelle Klangschalen, Goldglitzernde Drachen als chinesisches Symbol für Glück, Tiger, die für Kraft und Stärke stehen, und 53 Buddha-Figuren. An der Wand ein Zettel: "Eine Armee von Schafen geführt von einem Löwen ist mächtiger als eine Armee von Löwen geführt von einem Schaf." Der raumgreifende Deutschamerikaner, der mit lustig funkelnden Augen hinter einer schmalen Metallbrille hervorschaut, ist der erste nichtchinesische Mönch seit rund 200 Jahren, der in den Shaolin-Orden aufgenommen wurde. Mit ruhigen Worten erklärt er die Parallelen zwischen Kampf und Meditation:

"Wir müssen nie mehr im Hier und Jetzt sein, als in dem Moment, wo wir kämpfen. Jedes In-einer-anderen-Zeit-sein führt zur Niederlage. Wir müssen immer achtsam sein auf das, was links und rechts von uns passiert. Man muss den Kampf immer freihalten von Interpretation. Ein Kämpfer, der interpretiert, wird fehl interpretieren und falsch liegen. Er kann nur reagieren auf das, was ist, und nicht auf das, was er vermutet: Wissen und Willen müssen in einem Kampf verbunden sein - das Wissen, wie man siegt, mit dem Willen, zu siegen. Das Wissen ohne den Willen wird niemals funktionieren und deswegen ist die Kampfkunst eigentlich eine optimale Form der Meditation, wenn sie in diesem Geist betrieben wird."

Während draußen zwei Mönche Schlagkombinationen einüben, erklärt der Abt mit beredten Worten die fast mythische Tradition der Shaolin, die bis ins Jahr 495 nach Christus zurückgeht. Damals wird auf Befehl des chinesischen Kaisers am Fuße der Songshan-Berge das erste Kloster errichtet. Der indische Mönch Bodhidharma begründet dort den Zen-Buddhismus und verbindet ihn mit Kampfkünsten zur Selbstverteidigung. Der Abt blickt etwas traurig, als er darauf hinweist, dass spätere Kaiser die Mönche wegen ihrer Fähigkeiten auch gern in den Krieg schickten. Heutige Shaolin betreiben Kampfkunst ausschließlich als hohe Form der Meditation. Zum Beispiel Shi Heng Zuan, 21, der gerade trainiert. Bei Bedarf könnte er im Bruchteil einer Sekunde einen Menschen mit bloßen Händen töten. Sein Blick ist nach innen gekehrt, sein Gang aufrecht, sein Gesicht aufgeräumt wie das Wattenmeer am frühen Morgen.

"So wie ich jetzt bin, mein Charakter, das hab ich hauptsächlich dem Tempel zu verdanken, ich bin auch sehr froh darüber. Ich kann von mir selbst sagen, dass ich ein zufriedener Mensch bin, in dem Sinne, dass ich vielleicht ein wenig freier bin als andere in meinem Alter. Dass ich Dinge vielleicht anders betrachte, aus anderen Blickwinkeln und etwas weiter sehen kann."

Das Leben im Kloster folgt bestimmten Regeln. Es gibt Verpflichtungen. Keinen weltlichen Besitz, Zölibat, Gehorsam. Waschen, Putzen, Gartenarbeit. Dafür auch Vorteile. Keine modischen Verwirrungen morgens vor dem Spiegel, denn alle Roben sind gleich. Keine Steuererklärung, keine Miete, keine Geldsorgen. Dafür Tage mit Struktur und innerem Sinn. Achtsamkeit, Reduktion auf das Wesentliche. Heng Zuan ist im Kloster, seit er elf ist. Damals trennen sich seine Eltern, die aus Laos stammen. Anders als die anderen, die im Kloster leben, ist er Laienmönch und darf im Prinzip heiraten. In seinem weltlichen Leben studiert er Wirtschaftsingenieurwesen. Vom Entspannen hat er ganz andere Vorstellungen als seine Kommilitonen.

"Entspannung heißt hier, eher etwas für sich zu tun, an sich zu arbeiten, das entspannt dann. Wenn ich zum Beispiel erschöpft bin von einem harten Arbeitstag, dann ist nicht so, dass ich mich auf Couch hock und Augen schließe und bisschen schlafe. Entspannung bedeutet für mich dann, ich geh hin und mache ein bisschen Qigong, ein bisschen Meditation, da krieg ich meinen Kopf frei, da krieg ich freie Gedanken. Aber das ist etwas, da muss ich an mir arbeiten, ich muss was tun. Später fühl ich mich viel, viel besser als wenn ich mich da hingelegt hab."

Vor einigen Jahren, als er noch zur Schule geht, aber schon Meisterschüler ist, erzählt er, packt ihn jemand grundlos am Kragen und wirft ihn gegen die Wand. Er verhält sich so, wie er es gelernt hat. Heng Zuan ist äußerlich vollkommen ruhig. Er hat keinerlei Aggressionen gegenüber dem Aggressor. Aber auch keinerlei Angst. Sein Ego verstellt ihm nicht den Blick auf die Situation. Je näher eine Szene auf einen Kampf zuläuft, desto nüchterner und rationaler denkt er. Jetzt sind es nur die Formen der verschiedenen Kung Fu-Tierstile, die in seinem Kopf ablaufen wie ein Film. Was er mit dem anderen anstellt, sollte der zuschlagen. Welchen der weit über 100 Nervenpunkte er wie intensiv attackieren wird.

"Es war wirklich so'n Standardgriff, mit zwei Händen am Kragen gepackt, mit voller Wucht gegen die Wand geworfen. Natürlich war ich auch sehr aufgebracht. Ich wollte mich wirklich wehren, mich verteidigen, nur habe ich aber in dem Moment auch ganz schnell wieder runtergeschaltet und erkannt, dass es jetzt falsch wäre. Es wäre jetzt falsch, etwas zu tun ... Wäre es natürlich so gewesen, dass ich das Gefühlt hätte, er würde jetzt zuschlagen, oder gar nicht mehr aufhören oder morgen wiederkommen, wäre es vielleicht etwas anderes gewesen. Aber so wusste ich, dass es in diesem Moment richtig war, nicht zu verteidigen."

Wollte er sich beweisen, könnte er es eindrucksvoll tun. Aber er muss sich nicht beweisen. Er tut einfach nichts. Dennoch bewirkt er etwas.

"Er hat auch gemerkt, dass es nichts bringt. Weil er sich gedacht hat, was mach ich hier überhaupt. Es hat viel damit zu tun, wie man auf jemand wirkt. Das ist etwas, was ihn auch verwirrt hat, denn normalerweise, wenn man jemand gegen die Wand stößt, kriegt derjenige Angst, ja, oder sagt: 'Hör auf!' Die Art, wie ich gewirkt hab, hat ihn wahrscheinlich verwirrt, etwas, das er nicht gekannt hat, das hab ich an seinem Blick gesehen, an der Art, wie er reagiert hat."

Im Kino sind dies die Szenen, in denen der Zuschauer sich den Kampf herbeisehnt, weil er weiß, dass der Gute gewinnen wird. Im realen Leben tun die Mönche alles, um einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen, sagt der Mönch und lächelt still. Auch sein Cousin, Shaolin-Meister Shi Heng Yi, hat es versucht. Als er im Bus von zwei Jugendlichen mit "Schlitzauge, geh doch nach Hause" begrüßt und von ihnen herumgeschubst wurde, sagte er: "Hört doch bitte auf, das kann weh tun." Sie dachten, er meinte sich. Als sie zuschlugen, wussten sie jedoch, dass sie gemeint waren.

Nachmittagstraining in der Burgherrenhalle. Bewegungsabläufe, Schlag- und Trittfolgen. Spagat. Dann Mabu, breiter Stand, sehr tief in den Knien, Blick und Arme nach vorn. Je zwei Kämpfer treten sich nun gegenseitig auf die Außenseite der Oberschenkel, rechts, links, im Wechsel, immer wieder, eine halbe Stunde lang. Der Schweizer lächelt, Marcels Gesicht ist bereits schmerzverzerrt. Oben vom Podest spricht der Abt: "Schmerzen sind nur eine Illusion. Dummerweise eine schmerzhafte." Eine halbe Stunde danach bricht Marcel das Training ab. Dem "Abhärtungstraining" fühlt er sich nicht länger gewachsen. Der Abt versucht, ihn umzustimmen:

"Wenn alles weh tut, kann´s nur besser werden. Entweder die Schmerzen enden oder du stirbst dran, dann endet´s auch, aber du wirst nicht dran sterben, also von daher. Du hast die Möglichkeit, du stehst, du läufst, du kannst ja sogar noch mit mir diskutieren."

Marcel: "Für mich ist es gelaufen, ich geb' auf, ich geb' mich geschlagen!"

Abt: "Das brauchst du nicht, du darfst keine Angst entwickeln, dir geht’s gut, du stehst wie eine Eins, es blutet nichts. Du hast dich beworben, Kampfmönch zu werden."

Marcel: "Ich will Sie auch nicht enttäuschen."

Abt: "Es ist allein deine Entscheidung."

Xiao Fengs Tritte in den Bauch sind zuviel für Marcel, obwohl der andere später versichern wird, mit maximal 20 Prozent Energie zugetreten zu haben. Der Abt räumt ein, dass dies von außen sehr brutal wirke. Aber es ist eine gängige Kung Fu-Übung, es geht um die Anspannung der Muskeln, die Lenkung der Chi-Energie. Könner beherrschen sie so perfekt, dass sie Holz- oder Stahlstangen über Kopf oder Körper zerbrechen können, ohne sich dabei zu verletzen. Marcel hat noch Probleme mit seinem Chi:

"Ich hör jetzt ganz auf. Es tut mir sehr leid, dass ich Sie enttäuschen muss. Also, er hat mir zwei-, dreimal gegen den Brustkorb getreten, ich habe keine Luft mehr bekommen, und er hat keine Gnade gezeigt, ich bin fast umgekippt und wenn es weiter so geht, dann hör ich auf, ich will nicht, dass mir da irgendwas an den Lungen passiert."

Beim Abendbrot ist der Tisch schon deutlich dezimiert, die meisten sind zu erschöpft, um noch etwas zu essen. Der Abt leitet mit dem Gong die Essenszeremonie ein. Nächster Morgen, 6.30 Uhr, die Restgruppe quält sich, leichter Nieselregen dämpft die Schmerzensschreie.

"Dasselbe wie vorhin. Spagat. Mehr, mehr. Nicht so nah, Kopf hoch, blick nach vorn, wenn der Kopf nach unten geht, wollt ihr eher aufhören, deshalb nach vorne gucken. Halten und Atmen. Nicht an die Schmerzen denken. Keiner geht hoch, keiner bewegt sich. Ich versprech euch, es wird nichts passieren, nichts reißen, noch nie etwas passiert, es ist nur der Schmerz. Schmerz kontrollieren. Halten, halten. Ein bisschen schneller, oder wir beginnen von vorne."

Der Gedanke ans Aufgeben ist nun ein ständiger Begleiter. Die Abbrecherquote liegt bei über 90 Prozent. Auch Markus, der sich tapfer an seine Grenzen quält, fühlt sich bereits am Limit.

"Ich weiß überhaupt nicht, wie lang ich das noch durchhalte, wenn überhaupt. Hab gestern schon gesehen, war fünf Zentimeter von der Bank gewesen, hatte keine Kraft mehr, mich auf die Bank zu setzen. Mehr erschöpft sein kann man eigentlich gar nicht. Am schlimmsten fand ich jetzt Liegestütze auf Fäusten, und die Dehnübungen, wo man fast Spagat machen musste."

Nadim, der äußerlich am wenigsten erschöpfte der Gruppe, erklärt sein Erfolgsrezept:

"Wenn man in einer Lage ist, aus der man raus will, muss man dran denken, dass man irgendwann aus der Lage rauskommt, statt an diesen Moment zu denken, denn dann denkt man nur an den Schmerz, und das bringt einen dazu, aufzugeben, das ist halt der Fehler, man muss das versuchen, zu überwinden, es ist machbar."

Markus: "Ich wollte mit Ihnen sprechen. Ich denke mal, bin zu dem Schluss gekommen, dass ich dann doch heute eher aufhören werde."

Abt: "Du? O.k., das überrascht mich. Warum? Zu hart?"

Markus: "Mit der Härte hab ich natürlich gerechnet, aber konditionsmäßig hab ich mich einfach überschätzt, ich dachte einfach, dass ich mehr aushalten würde."

Abt: "Ich muss dir aber sagen, als Kompliment, für jemand, der keine Kampfkunst bisher gemacht hat, ist das 'ne Klasseleistung gewesen, und ich hoffe, du meldest dich mal wieder."

Am Mittag wirft auch Markus hin.

"Das Training war jetzt richtig hart, ich bin jetzt richtig am Boden, ich musst auch fast dreimal erbrechen, konnte mich aber grad noch so halten, hab überall Schürfwunden, so fertig war ich noch nie in meinem ganzen leben, das kann ich ganz ernsthaft behaupten."

Inzwischen trifft Marcels Mutter ein, um ihren Sohn abzuholen.

Marcel: "Hallo, guten Tag, ach, da ist ja meine Mutter, dann kann 'se gleich ... Hallo, Haare doch ab, die wachsen nach. Fühlt sich schon sehr komisch an."

Mutter: "Und war's doch nicht das, was du dir erhofft hast."

Marcel: "War mir am Anfang jetzt erstmal zu hart ..."

Mutter: "Ja, o.k. ... Gut, musst du noch irgendwas machen?"

Marcel: "Meine Schuhe muss ich noch holen und meine Sachen."

Mutter: "Gut, da darf ich, glaub ich, nicht mit, gut, dann wart ich mal."

Der Novize Shi Xiao Feng schleift am Nachmittag in der Halle die Verbliebenen. Im Allgemeinen hat der 20-Jährige mit dem kahl geschorenen Kopf und dem breiten Kreuz kein Mitleid mit Klosterbesuchern, die herkommen, um ihre Grenzen zu erfahren. Er verlange von ihnen nur das, was auch von ihm verlangt worden sei. Es habe ihm nicht geschadet. Früher sei er unberechenbar und jähzornig gewesen. In jener Zeit, in der er mehr Probleme gemacht als gelöst habe, prügelte er sich so oft, dass er, wie er heute meint, nach der Karma-Lehre noch einige Leben brauchen werde, um all das Negative wieder abzubauen, das er in die Welt gesetzt hat. Erst das Kloster habe ihn zu einem selbstbewussten Menschen gemacht. Er vermisse hier nichts. Seine Familie, die schon, aber sonst. Sein Zimmer wird auf eigenen Wunsch auch im Winter nicht beheizt.

"Alkohol, muss ich sagen, vermiss ich eigentlich gar nicht, hab's früher getrunken, in Gesellschaft, es ist auch fürs Training sehr hinderlich, man merkt das schon, hab ja auch früher viel trainiert, wenn man abends was trinkt, die Kraft ist nicht da, die Ausdauer nicht, und das mit der Freundin, es ist nicht immer einfach, die körperliche Nähe war schon sehr schön, aber es gibt in Beziehungen immer wieder Probleme und ich bin mir nicht mehr sicher, ob es sich lohnt, für die schöne Zeit, die man miteinander hat, die Probleme auf sich zu nehmen. So denk ich, dass es schöner ist, wenn man allein ist und keine Probleme hat."

Der Novize, der früher auf den Namen Julian hörte, hat eigentlich Graveur gelernt und ist der einzige Novize, der in den letzten drei Jahren angenommen wurde. Seit ihm liegt die Messlatte hoch. Sein Meister sagt: Zufriedener kann man mit einem Schüler nicht sein. Xiao Feng hat ein stark geschwollenes Fußgelenk, eine Prellung am Außenrist. Er sagt, er habe starke Schmerzen. Und lacht dabei. Der Schmerz ist nichts, was ihn beherrschen könnte. Er ist es, der den Schmerz beherrscht: Beim Waldlauf ist er über zehn Kilometer doppelt so schnell wie der schnellste der Verfolgergruppe. Er kann seine Energie so stark fokussieren, dass er eine gewöhnliche Nähnadel durch eine Glasscheibe werfen kann. Man könnte sagen, es ist ein Fehler, sich mit ihm anzulegen. Einmal, als er seine Eltern besuchte ...

"Ich bin auf Toilette gegangen und aufm Rückweg stand jemand vor mir und hat mich beschuldigt, seine Freundin angemacht zu haben. Ich kannte den Typen nicht, hab die Freundin nie gesehen und ich hab gesagt, ja o.k., es tut mir leid, ich wollte einfach keinen Ärger, hab mich dann entschuldigt, das ist schon auch eine Überwindung, sich zu entschuldigen, wenn man nichts gemacht hat. Aber der wollt nicht locker lassen, wieso ich sie angraben würde, was ich denke, wer ich bin. Ich hab gesagt, es kommt nicht mehr vor, dann hat er mich gegen die Wand geschubst, ich hab nur gesagt, er sollte jetzt keinen Fehler machen, wenn er jetzt irgendwas macht, ist für beide der Abend gelaufen. Und da hat er das nicht wirklich verstanden. Und dann hab ich ihm einfach die Hand auf die Schulter gelegt und hab gesagt, geh noch was trinken und hab einen schönen Abend mit deiner Freundin, dann bin ich gegangen."

De Novize erzählt die Geschichten ohne jeden Anflug von Angeberei. Er erzählt sie auch nicht von allein, sondern nur, wenn man ihn danach fragt. Er sieht sie nicht als Heldentat, mit der er sich brüstet, sondern als mögliche Art mit Konfrontationen umzugehen. Viele Menschen in seinem Alter, sagt er, machen sich das Leben unnötig schwer.

"Dass die oftmals nur fürs Wochenende leben, unter der Woche ist alles Scheiße, mit Arbeit und Schule und keine Ahnung, ist total kacke, dann Wochenende ist total super, saufen, Party, Weiber, bis Sonntagnachmittag, und dann ist scheiße, denn man denkt schon wieder an Montagmorgen. Und ich denke, das sollte auch nicht der Fall sein. Ich denke, dass es wichtiger wäre, die Welt mehr als Gebrauchsgegenstand zu sehen, sie ist natürlich wichtig, um den Körper am Leben zu erhalten, aber die eigentliche Arbeit dreht sich nicht darum, was um uns herum ist, sondern die Arbeit muss mehr nach innen gehen, man muss mehr an sich selbst arbeiten. Wenn man mit sich selbst zufrieden ist, hat man auch viel mehr Zufriedenheit in der Welt außen."