"Schmerztherapie ist eine Kunst"
Rund 15 Millionen Menschen in Deutschland leiden an chronischen Schmerzen - doch nur etwa 20 Prozent von ihnen erhalten auch eine geeignete Therapie. Das liegt auch an mangelnden Konzepten in der Medizinerausbildung, sagt die Ärztin Marianne Koch.
Katrin Heise: Der körperliche Schmerz soll warnen bei Verletzung oder Krankheit und damit den Menschen schützen. Wenn der Schmerz aber immer wieder kommt, lernt unser Hirn diesen Schmerz – er kann chronisch werden und anhalten, obwohl der Grund überhaupt gar nicht mehr vorhanden ist. Bis zu 15 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter chronischen Schmerzen. Vier bis fünf Millionen davon sind dadurch stark beeinträchtigt, und trotzdem ist die Schmerztherapie ein Randgebiet der Medizin, und das, obwohl sich in den Gesundheits- und Sozialsystemen sogar sparen ließe, man denke an die Folgen wie zum Beispiel Arbeitsunfähigkeit durch Schmerzen, würden nur Wissen und Strategien der Schmerzmedizin konsequent in der Medizinerausbildung vermittelt und erfolgreiche Konzepte auch flächendeckend umgesetzt werden. Dafür setzt sich die Ärztin Marianne Koch, die viele auch als Schauspielerin kennen, seit vielen, vielen Jahren ein, unter anderem als Präsidentin, jetzt Ehrenpräsidentin der Deutschen Schmerzliga. Ich grüße Sie, Frau Koch, schönen guten Tag!
Marianne Koch: Ja, guten Tag, Frau Heise!
Heise: An Schmerzen leiden die Menschen ja nun schon ewig, auch an chronischen Schmerzen. Aber in Deutschland gab es die ersten schmerztherapeutischen Einrichtungen erst in den 70er-Jahren. Warum zu dem Zeitpunkt, warum erst so spät?
Koch: Ich denke, das hat zwei Gründe: Zum einen ist bei uns dieses christliche Erbe – mit Schmerzen musst du gebären und wer hienieden große Schmerzen leidet, hat es im Jenseits leichter –, ich glaube, dass da ein gewisses Überbleibsel dieser christlichen Vorstellung vom Leiden dabei ist, und zum anderen haben wir einfach noch nicht genügend über die Mechanismen einer Schmerzkrankheit gewusst. Das wurde dann erst in diesen 70er-, 80er-, 90er-Jahren, gerade auch von deutschen Forschern, ganz großartig herausgestellt, warum es so ist, dass Menschen, die immer wieder Schmerz erleiden, oder sehr starke Schmerzen erleiden, zum Beispiel auch während einer Operation, bei der nicht genügend Schmerzmittel gegeben werden, dass es dann eben zu Veränderungen im Gehirn kommt, zu einem sogenannten Schmerzgedächtnis, und dieses Schmerzgedächtnis dann wieder zu löschen, ist sehr, sehr schwer. Und alle diese Zusammenhänge waren damals noch nicht klar, und es war ganz sicher auch bei den Patienten, bei der Bevölkerung diese fatalistische Einstellung, da kann man nichts machen, Schmerz ist etwas Schreckliches, was eben schicksalsmäßig ist, und wo man eben nichts tun kann.
Heise: Also einerseits hat sich die Schmerzempfindung in der Gesellschaft verändert, dass man heutzutage auch die Haltung hat, …
Koch: Die Wahrnehmung.
Heise: … die Wahrnehmung, aber auch die Haltung dazu, ein Problem muss gelöst werden. Nimmt aber auch nicht die Zahl der chronischen Schmerzpatienten schon allein deshalb zu, weil die Menschen länger leben, älter werden?
Koch: Das hat man früher auch immer gesagt: Du bist älter, du hast Schmerzen im Kreuz oder wo auch immer – schau mal auf den Geburtsdatum. Dass älter werden und alt werden nicht gleichbedeutend ist mit Schmerzen haben müssen, das mussten die Menschen auch erst lernen und von den Ärzten gesagt bekommen.
Heise: Welche Rolle spielt eigentlich die Psyche bei Schmerzen und dann eben auch bei der Schmerztherapie?
Koch: Eine ganz große. Und zwar ist schon die Angst vor Schmerzen etwas, was den vielleicht danach kommenden Schmerz verstärkt. Und eine positive Einstellung – da gibt es auch sehr gute Trainingsmöglichkeiten von den Psychologen –, eine positive Einstellung zu einer Schmerzkrankheit kann sehr dazu helfen, diese Schmerzkrankheit zu überwinden. Aber natürlich ist es das nicht alleine, es ist ja nichts Eingebildetes, es ist nichts Simuliertes, sondern die Schmerzwahrnehmung ist da. Und das ist eben auch die ganz große Schwierigkeit gewesen und ist es teilweise heute noch, dass die Menschen sagen, ich habe Schmerzen, aber es gibt keine Laborbefunde, es gibt kein – so etwas wie Ultraschall, EKG oder so etwas, wo man dann nachweisen kann, wie stark die Schmerzen tatsächlich sind, und da ist eben die Deutsche Schmerzliga zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie auf die Idee verfallen, eine bereits international evaluierte und eingeführte Schmerzmessung auch hier in Deutschland durchzusetzen. Und dadurch kam eben diese Initiative Schmerz messen zustande. Und das ist eine ganz einfache Sache.
Heise: Die Sie mit gegründet haben? Vor zehn Jahren ist diese Initiative Schmerz messen gegründet worden.
Koch: Das war vor zehn Jahren, ja.
Heise:Sie, Marianne Koch, waren dort mit initiativ. Was bedeutet denn das, kann man denn Schmerzen eigentlich messen, also objektiv messen?
Koch: Es ist keine objektive Messung. Man kann ja nicht objektiv messen, aber es ist eine subjektive Messung: Es ist eine ganz simple Skala, die geht von null bis zehn. Zehn ist der stärkste vorstellbare Schmerz für diesen persönlichen Patienten, also für dieses Individuum, Null ist kein Schmerz. Und er kann auf dieser Schmerzskala sehr leicht einstellen, wo er seine derzeitigen Schmerzen einstufen möchte. Und für den Arzt ist das insofern sehr wichtig, weil die Ärzte ja auch keine Möglichkeit haben, die Schmerzstärke, die Schmerzqualität und alles das bei einem Patienten wirklich richtig zu beurteilen. Im Gegenteil, es hat große Studien gegeben, in denen dann herauskam, dass die Ärzte das eben nicht richtig beurteilt haben und immer noch eigentlich zu wenig Schmerz bei dem betreffenden Patienten angenommen haben. Das ist, wie gesagt, international evaluiert, und vor allem, es ist deshalb so gut, weil die eigene, die individuelle Schmerzwahrnehmung ja von Patient zu Patient eine andere ist. Und jeder kann für sich darlegen, wie stark sein Schmerz jetzt gerade ist. Und das ist eine große Hilfe für die Patienten, weil sie eben von der Umgebung immer mit na ja, jetzt stell dich nicht so an, reiß dich zusammen und alle diese Sprüche immer hören mussten.
Heise: Seit zehn Jahren also gibt es in Deutschland die Initiative Schmerz messen, wie wir vorhin gesagt haben. So in den 70er-Jahren kam überhaupt die Schmerztherapie auf, und nach alldem, wenn man sich die Zahlen vor Augen führt, cirka 15 Millionen Menschen in Deutschland eben leiden unter chronischem Schmerz. Warum erhalten nur 20 Prozent der Schmerzpatienten tatsächlich eine ausreichende Behandlung?
Koch: Das hängt in erster Linie damit zusammen, dass die Schmerzdiagnostik und Schmerztherapie immer noch nicht, wie Sie schon in Ihrem Eingangsstatement gesagt haben, ein wichtiger und unverzichtbarer Teil der Medizinerausbildung ist. Die jungen Ärzte kommen aus einem langen Studium heraus, haben weiß der Teufel was alles gelernt, haben aber nie gelernt oder fast nicht gelernt: Was ist Schmerz? Wie wichtig ist es, akute Schmerzen sofort zu behandeln? Und vor allem: Was tue ich mit Patienten, die chronische Schmerzen haben?
Heise: Warum ist das so, dass sich so wenige dem widmen? Sie bezeichnen die Schmerztherapie als Kunst, tatsächlich eine Kunst, weil sie so individuell zugeschnitten werden muss, ist es also so anstrengend, so vielfältig für die Medizin?
Koch: So vielfältig. Sagen wir mal, bei einer Gürtelrose ist ein vollkommen anderer Schmerz als Schmerz bei Migräne. Rückenschmerzen gliedern sich auf in unendlich viele – sei es Spinalstenose, sei es nur muskuläre Verspannungen –, alles das, das heißt, das muss man lernen, und die Ärzte werden eigentlich nicht ermutigt, sich dieses Wissen, auch nachdem sie sozusagen niedergelassen sind oder in der Klinik arbeiten, sich dieses Wissen anzueignen. Im Gegenteil, viele Ärzte, die zunächst mal als Schmerztherapeuten angefangen haben – meistens waren das Neurologen oder Internisten oder Anästhesisten –, die haben dann auf diese Schmerztherapie wieder verzichten müssen, weil sie einfach es finanziell nicht durchgehalten haben. Also Schmerz …
Heise: Das leuchtet mir überhaupt nicht ein, weil letztendlich ja tatsächlich für die Gesellschaft sehr viel gespart werden könnte, wenn man beispielsweise Schmerzen tatsächlich eingrenzen könnte, behandeln könnte, die Leute also nicht beispielsweise in die Arbeitsunfähigkeit kämen.
Koch: Vollkommen richtig, und vor allem, Sie wissen auch, dass diese Frühberentung – und das ist fast immer Rückenschmerz und dieses Dinge. Nicht immer, aber sehr häufig.
Heise: Warum ist es dann immer noch so ein Stiefkind?
Koch: Weil das eine längerfristige Strategie der Gesundheitspolitik erfordern würde, die die jeweiligen Chefs, die da zugange sind, nicht wahrnehmen oder nicht wahrnehmen wollen, und weil die Ermutigung an die Ärzte, da wirklich sich zu engagieren und sich als Schmerztherapeut auszubilden, diese Ermutigung erfolgt nicht, im Gegenteil: Die werden abgeschreckt.
Heise: Wenn Sie, Frau Koch, so die letzten Jahre betrachten – 97 sind Sie eben Präsidentin der Deutschen Schmerzliga geworden –, bei aller Klage, aber auch bei Forschungsergebnissen und der Öffentlichkeit, die erreicht worden ist, wie schauen Sie in die Zukunft, was die Schmerztherapie angeht? Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass sich das durchsetzt?
Koch: Ich bin ganz sicher, dass sie sich durchsetzt, auch aus den Gründen, die Sie schon angeführt haben, nämlich, dass ein gut behandelter Schmerzpatient ein billigerer Patient ist als einer, der schlecht behandelt ist. Und in ganz vielen fällen kann man ja diese Chronifizierung der Schmerzen vollkommen vermeiden, wenn man rechtzeitig richtig behandelt. Aber wenn ich zurückdenke, 1997, da muss ich sagen, da haben wir schon sehr, sehr viel erreicht. Wir haben erreicht, dass das Bewusstsein der Patienten, dass es Hilfe gibt, dass das gestärkt wird, und dass sich das doch ziemlich weit durchgesetzt hat, auch mithilfe der anderen Medien, die das dann aufgenommen haben. Aber zusätzlich denke ich, dass die Forschungsergebnisse eben auch sehr, sehr positiv sind und dass man heute weiß, dass Schmerztherapie eben eine multimodale Sache ist. Das heißt, es müssen der Schmerztherapeut, es muss der Physiotherapeut, es muss der Psychologe und es muss vor allem der Patient selber dazu beitragen, und gemeinsam kann man eben auch sehr schwere Schmerzzustände fabelhaft behandeln und lindern, wenn nicht sogar heilen.
Heise: Sagt Marianne Koch. Sie ist Ehrenpräsidentin der Deutschen Schmerzliga und Mitbegründerin der Initiative Schmerz messen. Vielen Dank, Frau Koch, für die Informationen!
Koch: Ja, gerne!
Heise: Bis zum Wochenende tagt der interdisziplinäre Schmerz- und Palliativkongress ab heute im Frankfurt am Main.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Marianne Koch: Ja, guten Tag, Frau Heise!
Heise: An Schmerzen leiden die Menschen ja nun schon ewig, auch an chronischen Schmerzen. Aber in Deutschland gab es die ersten schmerztherapeutischen Einrichtungen erst in den 70er-Jahren. Warum zu dem Zeitpunkt, warum erst so spät?
Koch: Ich denke, das hat zwei Gründe: Zum einen ist bei uns dieses christliche Erbe – mit Schmerzen musst du gebären und wer hienieden große Schmerzen leidet, hat es im Jenseits leichter –, ich glaube, dass da ein gewisses Überbleibsel dieser christlichen Vorstellung vom Leiden dabei ist, und zum anderen haben wir einfach noch nicht genügend über die Mechanismen einer Schmerzkrankheit gewusst. Das wurde dann erst in diesen 70er-, 80er-, 90er-Jahren, gerade auch von deutschen Forschern, ganz großartig herausgestellt, warum es so ist, dass Menschen, die immer wieder Schmerz erleiden, oder sehr starke Schmerzen erleiden, zum Beispiel auch während einer Operation, bei der nicht genügend Schmerzmittel gegeben werden, dass es dann eben zu Veränderungen im Gehirn kommt, zu einem sogenannten Schmerzgedächtnis, und dieses Schmerzgedächtnis dann wieder zu löschen, ist sehr, sehr schwer. Und alle diese Zusammenhänge waren damals noch nicht klar, und es war ganz sicher auch bei den Patienten, bei der Bevölkerung diese fatalistische Einstellung, da kann man nichts machen, Schmerz ist etwas Schreckliches, was eben schicksalsmäßig ist, und wo man eben nichts tun kann.
Heise: Also einerseits hat sich die Schmerzempfindung in der Gesellschaft verändert, dass man heutzutage auch die Haltung hat, …
Koch: Die Wahrnehmung.
Heise: … die Wahrnehmung, aber auch die Haltung dazu, ein Problem muss gelöst werden. Nimmt aber auch nicht die Zahl der chronischen Schmerzpatienten schon allein deshalb zu, weil die Menschen länger leben, älter werden?
Koch: Das hat man früher auch immer gesagt: Du bist älter, du hast Schmerzen im Kreuz oder wo auch immer – schau mal auf den Geburtsdatum. Dass älter werden und alt werden nicht gleichbedeutend ist mit Schmerzen haben müssen, das mussten die Menschen auch erst lernen und von den Ärzten gesagt bekommen.
Heise: Welche Rolle spielt eigentlich die Psyche bei Schmerzen und dann eben auch bei der Schmerztherapie?
Koch: Eine ganz große. Und zwar ist schon die Angst vor Schmerzen etwas, was den vielleicht danach kommenden Schmerz verstärkt. Und eine positive Einstellung – da gibt es auch sehr gute Trainingsmöglichkeiten von den Psychologen –, eine positive Einstellung zu einer Schmerzkrankheit kann sehr dazu helfen, diese Schmerzkrankheit zu überwinden. Aber natürlich ist es das nicht alleine, es ist ja nichts Eingebildetes, es ist nichts Simuliertes, sondern die Schmerzwahrnehmung ist da. Und das ist eben auch die ganz große Schwierigkeit gewesen und ist es teilweise heute noch, dass die Menschen sagen, ich habe Schmerzen, aber es gibt keine Laborbefunde, es gibt kein – so etwas wie Ultraschall, EKG oder so etwas, wo man dann nachweisen kann, wie stark die Schmerzen tatsächlich sind, und da ist eben die Deutsche Schmerzliga zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie auf die Idee verfallen, eine bereits international evaluierte und eingeführte Schmerzmessung auch hier in Deutschland durchzusetzen. Und dadurch kam eben diese Initiative Schmerz messen zustande. Und das ist eine ganz einfache Sache.
Heise: Die Sie mit gegründet haben? Vor zehn Jahren ist diese Initiative Schmerz messen gegründet worden.
Koch: Das war vor zehn Jahren, ja.
Heise:Sie, Marianne Koch, waren dort mit initiativ. Was bedeutet denn das, kann man denn Schmerzen eigentlich messen, also objektiv messen?
Koch: Es ist keine objektive Messung. Man kann ja nicht objektiv messen, aber es ist eine subjektive Messung: Es ist eine ganz simple Skala, die geht von null bis zehn. Zehn ist der stärkste vorstellbare Schmerz für diesen persönlichen Patienten, also für dieses Individuum, Null ist kein Schmerz. Und er kann auf dieser Schmerzskala sehr leicht einstellen, wo er seine derzeitigen Schmerzen einstufen möchte. Und für den Arzt ist das insofern sehr wichtig, weil die Ärzte ja auch keine Möglichkeit haben, die Schmerzstärke, die Schmerzqualität und alles das bei einem Patienten wirklich richtig zu beurteilen. Im Gegenteil, es hat große Studien gegeben, in denen dann herauskam, dass die Ärzte das eben nicht richtig beurteilt haben und immer noch eigentlich zu wenig Schmerz bei dem betreffenden Patienten angenommen haben. Das ist, wie gesagt, international evaluiert, und vor allem, es ist deshalb so gut, weil die eigene, die individuelle Schmerzwahrnehmung ja von Patient zu Patient eine andere ist. Und jeder kann für sich darlegen, wie stark sein Schmerz jetzt gerade ist. Und das ist eine große Hilfe für die Patienten, weil sie eben von der Umgebung immer mit na ja, jetzt stell dich nicht so an, reiß dich zusammen und alle diese Sprüche immer hören mussten.
Heise: Seit zehn Jahren also gibt es in Deutschland die Initiative Schmerz messen, wie wir vorhin gesagt haben. So in den 70er-Jahren kam überhaupt die Schmerztherapie auf, und nach alldem, wenn man sich die Zahlen vor Augen führt, cirka 15 Millionen Menschen in Deutschland eben leiden unter chronischem Schmerz. Warum erhalten nur 20 Prozent der Schmerzpatienten tatsächlich eine ausreichende Behandlung?
Koch: Das hängt in erster Linie damit zusammen, dass die Schmerzdiagnostik und Schmerztherapie immer noch nicht, wie Sie schon in Ihrem Eingangsstatement gesagt haben, ein wichtiger und unverzichtbarer Teil der Medizinerausbildung ist. Die jungen Ärzte kommen aus einem langen Studium heraus, haben weiß der Teufel was alles gelernt, haben aber nie gelernt oder fast nicht gelernt: Was ist Schmerz? Wie wichtig ist es, akute Schmerzen sofort zu behandeln? Und vor allem: Was tue ich mit Patienten, die chronische Schmerzen haben?
Heise: Warum ist das so, dass sich so wenige dem widmen? Sie bezeichnen die Schmerztherapie als Kunst, tatsächlich eine Kunst, weil sie so individuell zugeschnitten werden muss, ist es also so anstrengend, so vielfältig für die Medizin?
Koch: So vielfältig. Sagen wir mal, bei einer Gürtelrose ist ein vollkommen anderer Schmerz als Schmerz bei Migräne. Rückenschmerzen gliedern sich auf in unendlich viele – sei es Spinalstenose, sei es nur muskuläre Verspannungen –, alles das, das heißt, das muss man lernen, und die Ärzte werden eigentlich nicht ermutigt, sich dieses Wissen, auch nachdem sie sozusagen niedergelassen sind oder in der Klinik arbeiten, sich dieses Wissen anzueignen. Im Gegenteil, viele Ärzte, die zunächst mal als Schmerztherapeuten angefangen haben – meistens waren das Neurologen oder Internisten oder Anästhesisten –, die haben dann auf diese Schmerztherapie wieder verzichten müssen, weil sie einfach es finanziell nicht durchgehalten haben. Also Schmerz …
Heise: Das leuchtet mir überhaupt nicht ein, weil letztendlich ja tatsächlich für die Gesellschaft sehr viel gespart werden könnte, wenn man beispielsweise Schmerzen tatsächlich eingrenzen könnte, behandeln könnte, die Leute also nicht beispielsweise in die Arbeitsunfähigkeit kämen.
Koch: Vollkommen richtig, und vor allem, Sie wissen auch, dass diese Frühberentung – und das ist fast immer Rückenschmerz und dieses Dinge. Nicht immer, aber sehr häufig.
Heise: Warum ist es dann immer noch so ein Stiefkind?
Koch: Weil das eine längerfristige Strategie der Gesundheitspolitik erfordern würde, die die jeweiligen Chefs, die da zugange sind, nicht wahrnehmen oder nicht wahrnehmen wollen, und weil die Ermutigung an die Ärzte, da wirklich sich zu engagieren und sich als Schmerztherapeut auszubilden, diese Ermutigung erfolgt nicht, im Gegenteil: Die werden abgeschreckt.
Heise: Wenn Sie, Frau Koch, so die letzten Jahre betrachten – 97 sind Sie eben Präsidentin der Deutschen Schmerzliga geworden –, bei aller Klage, aber auch bei Forschungsergebnissen und der Öffentlichkeit, die erreicht worden ist, wie schauen Sie in die Zukunft, was die Schmerztherapie angeht? Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass sich das durchsetzt?
Koch: Ich bin ganz sicher, dass sie sich durchsetzt, auch aus den Gründen, die Sie schon angeführt haben, nämlich, dass ein gut behandelter Schmerzpatient ein billigerer Patient ist als einer, der schlecht behandelt ist. Und in ganz vielen fällen kann man ja diese Chronifizierung der Schmerzen vollkommen vermeiden, wenn man rechtzeitig richtig behandelt. Aber wenn ich zurückdenke, 1997, da muss ich sagen, da haben wir schon sehr, sehr viel erreicht. Wir haben erreicht, dass das Bewusstsein der Patienten, dass es Hilfe gibt, dass das gestärkt wird, und dass sich das doch ziemlich weit durchgesetzt hat, auch mithilfe der anderen Medien, die das dann aufgenommen haben. Aber zusätzlich denke ich, dass die Forschungsergebnisse eben auch sehr, sehr positiv sind und dass man heute weiß, dass Schmerztherapie eben eine multimodale Sache ist. Das heißt, es müssen der Schmerztherapeut, es muss der Physiotherapeut, es muss der Psychologe und es muss vor allem der Patient selber dazu beitragen, und gemeinsam kann man eben auch sehr schwere Schmerzzustände fabelhaft behandeln und lindern, wenn nicht sogar heilen.
Heise: Sagt Marianne Koch. Sie ist Ehrenpräsidentin der Deutschen Schmerzliga und Mitbegründerin der Initiative Schmerz messen. Vielen Dank, Frau Koch, für die Informationen!
Koch: Ja, gerne!
Heise: Bis zum Wochenende tagt der interdisziplinäre Schmerz- und Palliativkongress ab heute im Frankfurt am Main.
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