Schmerzvolle Auseinandersetzung
In Eva Baronskys Roman stehen sich zwei ungleiche Protagonistinnen gegenüber: Wilhelmine ist 91 und muss nach einem Sturz gepflegt werden. Zu diesem Zweck wird die 23-jährige Jelisaweta aus Russland eingestellt.
Eva Baronskys "Magnolienschlaf" ist ein Kammerspiel für zwei Personen. Ort und Zeit sind begrenzt. Gefangen wie unter einer Glocke stehen sich zwei ungleiche Protagonistinnen gegenüber. Wilhelmine ist 91 Jahre alt und geistig hellwach. Sie muss nach einem Sturz gepflegt werden. Zu diesem Zweck wird eine Betreuerin aus Russland engagiert: Jelisaweta, 23, in ihrer Heimatstadt Smolensk zuvor in einem Krankenhaus beschäftigt. Die junge Frau verlässt in den wenigen Wochen, die sie mit Wilhelmine verbringt, kaum deren kleines Häuschen im Umland von Frankfurt. Die Tage sind quälend lang. Umso mehr Dynamik entwickelt die Beziehung zwischen den Frauen. Sie löst eine schmerzvolle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aus.
Zunächst scheinen sich die beiden Frauen gut zu verstehen. Jelisaweta ist beflissen und Wilhelmine zufrieden mit dem "umsichtigen Kind". Umgekehrt freut sich die Pflegerin über die Genügsamkeit ihrer Patientin. Die Harmonie endet abrupt, als Wilhelmine eines Tages zufällig ein Gespräch Jelisawetas in russischer Sprache mithört. "Lachend spricht sie in das Telefon. Spricht Worte, längst vergessen geglaubte, beißende Worte, und Wilhelmine ist, als risse ein Vorhang entzwei, hinter dem sie sich all die Jahre verborgen hatten."
Die erste Reaktion ist heftig. Wilhelmine wirft ein Wasserglas nach dem sanften Mädchen. Zutiefst gekränkt, reagiert Jelisaweta bald ähnlich aggressiv. Die gegenseitige Schikane wird immer rabiater. Parallel zum Psychoterror nehmen Innenschau und Rückblenden immer mehr Raum ein – denn das Gefühl der Kränkung verbindet die Gegenwart mit der Vergangenheit. Jelisaweta kehrt in Gedanken zurück in ihre Kindheit und erinnert sich an Babka, ihre Großmutter, die anders war als andere Omas. Sie vergleicht und stellt Vermutungen an, was Wilhelmine erlitten haben könnte. Sie will einem fremden Trauma auf die Spur kommen: Jelisaweta glaubt an eine Vergewaltigung Wilhelmines im Zweiten Weltkrieg – und wird, wie die Leser, von einem ganz anderen Finale überrascht.
Nicht alles in diesem Roman überzeugt. Ein Schuss Melodramatik im Plot, auch die etwas schablonenhafte Zeichnung einer Nebenfigur trübt das Lesevergnügen ein wenig. Vieles aber macht das Buch lesenswert – allen voran die beiden Hauptfiguren. Immer mehr alte Menschen in Deutschland werden zu Hause von einer Pflegekraft aus Osteuropa betreut. Literarisch ist diese Konstellation Neuland. "Magnolienschlaf" schildert eindringlich das gegenseitige Ausgeliefertsein. Baronsky zeigt, welche komplexen und widersprüchlichen Gefühle im Spiel sind – wie viel Scham und Pragmatik, aber auch wie viel Qual und Selbstverleugnung. Als Leser meint man, die beiden Frauen am Ende des Buches sehr gut zu kennen, so sensibel ist die Autorin in ihr Innerstes geschlüpft, so genau hat sie sich auf die unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Generationen eingelassen. Sie gibt beiden Frauen in einer unprätentiösen, poetischen Sprache eine unverwechselbare Stimme.
Besprochen von Olga Hochweis
Eva Baronsky: Magnolienschlaf
Aufbau Verlag, Berlin 2011
185 Seiten, 17,95 Euro
Zunächst scheinen sich die beiden Frauen gut zu verstehen. Jelisaweta ist beflissen und Wilhelmine zufrieden mit dem "umsichtigen Kind". Umgekehrt freut sich die Pflegerin über die Genügsamkeit ihrer Patientin. Die Harmonie endet abrupt, als Wilhelmine eines Tages zufällig ein Gespräch Jelisawetas in russischer Sprache mithört. "Lachend spricht sie in das Telefon. Spricht Worte, längst vergessen geglaubte, beißende Worte, und Wilhelmine ist, als risse ein Vorhang entzwei, hinter dem sie sich all die Jahre verborgen hatten."
Die erste Reaktion ist heftig. Wilhelmine wirft ein Wasserglas nach dem sanften Mädchen. Zutiefst gekränkt, reagiert Jelisaweta bald ähnlich aggressiv. Die gegenseitige Schikane wird immer rabiater. Parallel zum Psychoterror nehmen Innenschau und Rückblenden immer mehr Raum ein – denn das Gefühl der Kränkung verbindet die Gegenwart mit der Vergangenheit. Jelisaweta kehrt in Gedanken zurück in ihre Kindheit und erinnert sich an Babka, ihre Großmutter, die anders war als andere Omas. Sie vergleicht und stellt Vermutungen an, was Wilhelmine erlitten haben könnte. Sie will einem fremden Trauma auf die Spur kommen: Jelisaweta glaubt an eine Vergewaltigung Wilhelmines im Zweiten Weltkrieg – und wird, wie die Leser, von einem ganz anderen Finale überrascht.
Nicht alles in diesem Roman überzeugt. Ein Schuss Melodramatik im Plot, auch die etwas schablonenhafte Zeichnung einer Nebenfigur trübt das Lesevergnügen ein wenig. Vieles aber macht das Buch lesenswert – allen voran die beiden Hauptfiguren. Immer mehr alte Menschen in Deutschland werden zu Hause von einer Pflegekraft aus Osteuropa betreut. Literarisch ist diese Konstellation Neuland. "Magnolienschlaf" schildert eindringlich das gegenseitige Ausgeliefertsein. Baronsky zeigt, welche komplexen und widersprüchlichen Gefühle im Spiel sind – wie viel Scham und Pragmatik, aber auch wie viel Qual und Selbstverleugnung. Als Leser meint man, die beiden Frauen am Ende des Buches sehr gut zu kennen, so sensibel ist die Autorin in ihr Innerstes geschlüpft, so genau hat sie sich auf die unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Generationen eingelassen. Sie gibt beiden Frauen in einer unprätentiösen, poetischen Sprache eine unverwechselbare Stimme.
Besprochen von Olga Hochweis
Eva Baronsky: Magnolienschlaf
Aufbau Verlag, Berlin 2011
185 Seiten, 17,95 Euro