Schneider: Bei Arbeitsstress Grenzen setzen lernen

Hilmar Schneider im Gespräch mit Ulrike Timm |
Es sei wachsender "Verantwortungsstress", der heute an die Stelle körperlich schwerer Arbeit getreten sei, erläutert Hilmar Schneider vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit. Er empfiehlt, den Herausforderungen mit "Neinsagekompetenz" zu begegnen.
Ulrike Timm: Arbeitsverdichtung, steigender Zeitdruck und der Fluch der ständigen Verfügbarkeit betreffen längst nicht mehr nur Führungskräfte: 20 Minuten hat ein Pfleger, um einen Bettlägerigen ganz zu waschen, zwei bis drei Minuten, um ihm beim aufs Klo gehen zu helfen. Und was, wenn der Pflegefall ein Spastiker ist, der mit Krämpfen reagiert, oder ein dementer alter Mensch, der sich wehrt? Immer mehr Menschen erleben sich bei der Arbeit wie im Hamsterrad. Rund ein Drittel aller Arbeitnehmer nimmt Arbeit ganz selbstverständlich nach Hause mit, und immer mehr müssen auch in ihrer Freizeit erreichbar sein. Das sagt nicht nur eine Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes, die gerade herausgekommen ist, das sagt genauso der Gesundheitsreport der DAK. Die Krankenkassen müssen für ihre Mitglieder ja zahlen, wenn die den Anforderungen nicht mehr gewachsen sind und krank werden. Darüber möchte ich sprechen mit Dr. Hilmar Schneider. Er ist Direktor für Arbeitsmarktpolitik am Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn. Schönen guten Morgen, Herr Schneider!

Hilmar Schneider: Guten Morgen, Frau Timm!

Timm: Früher waren das ja vor allem die Führungskräfte, und man sprach nicht ganz ohne Stolz von der Managerkrankheit. Inzwischen greift diese Entwicklung immer weiter um sich, auch die einfachen Berufe trifft sie. Wo liegen eigentlich die Gründe dafür?

Schneider: Ja, das ist mehr als ein Grund, aber im Prinzip ist das ein Trend, der sich schon seit vielen Jahren abzeichnet, und der hat vor allen Dingen etwas mit gestiegenem Wettbewerbsdruck zu tun, aber auch mit Märkten, die sich verändert haben. Wir haben im Grunde das Zeitalter der Massenproduktion verlassen, und wir sind heute mit industriellen Methoden in der Lage, sehr individualspezifische Produkte herzustellen. Und das charakterisiert unsere Märkte, und es charakterisiert natürlich damit auch Arbeitsprozesse, und in diesen Arbeitsprozessen wird es immer wichtiger, da mit der Vielfalt der Möglichkeiten, die wir da haben, umzugehen. Das erfordert also auch insbesondere an der Schnittstelle zwischen Unternehmen und Kunden Arbeitnehmer, die in der Lage sind, diese Bedürfnisse zu erkennen, auch diese veränderten Märkte relativ früh zu erspüren, und es braucht Mitarbeiter, die in der Lage sind, die Kunden bei diesem Dschungel an Möglichkeiten zu leiten. Und da brauchen sie Verantwortung, die sozusagen von oben nach unten runter delegiert wird. Und dieser Prozess, dass sich also Verantwortung und unternehmerische Risiken damit letzten Endes auch zunehmend auf die Schultern von Arbeitnehmern verlagern, das ist ein natürlicher Reflex auf diese Veränderung, mit der wir da konfrontiert sind.

Timm: Können Sie uns mal ein Beispiel geben, wie sich unternehmerische Verantwortung zum Beispiel in einem großen Versandhaus auf den kleinen Boten verlagert, der im Stress ist und unter Zeitdruck blitzschnell zustellen soll?

Schneider: Das sind so Dinge wie – es kommt darauf an, wie auch dieser Bote jetzt letzten Endes sein Paket ausliefert. Das ist nicht einfach so, dass der klingelt und einem das Paket in die Hand drückt und dann wieder verschwindet, sondern es ist auch eine Frage dessen, wie begrüßt er den Kunden, hat man das Gefühl als Kunde, dass man da vernünftig behandelt worden ist und so. Das geht auch ...

Timm: Aber meistens trifft er ihn nicht an und muss dann unter Zeitdruck noch mal rennen und kriegt das nicht bezahlt.

Schneider: Gut, das ist ja noch mal was anderes. Aber ich wollte sagen, auch die Kassiererin an der Supermarktkasse spürt diese Verantwortung, denn es kommt darauf an, wie sie mit den Kunden spricht, davon hängt ab, ob die Kunden wiederkommen oder das nächste Mal in einen anderen Laden gehen. Das ist das, was ich mit unternehmerischer Verantwortung meine, die sich dann plötzlich auf den Schultern von Arbeitnehmern wiederfindet, die gar keine Managementfunktion haben oder schon gar nicht irgendwelche Entscheidungsbefugnisse für das Unternehmen, und trotzdem tragen sie Mitverantwortung.

Timm: Es gibt ja vermeintliche und tatsächliche Sachzwänge. Ein vermeintlicher mag sein, alle zwei Minuten in die Mails schauen zu müssen. Wenn aber in einem Unternehmen Mitarbeiter in Asien, in den USA und in Europa zusammenarbeiten auf allen Ebenen, dann haben sie schon durch die Zeitverschiebung eine Struktur, die Aufmerksamkeit rund um die Uhr erfordert. Wenn sich dieser Prozess noch weiter steigert, werden wir dann aus dem Hamsterrad nicht schlicht auch mal rausfliegen?

Schneider: Also es gibt eine natürliche Grenze für all diese Prozesse, und das sind unsere menschlichen Unzulänglichkeiten. Wir können Menschen ja nicht über das Maß hinaus belasten, das sie in der Lage sind überhaupt zu bewältigen. Insofern sind wir nur im Augenblick dabei, neue Grenzen auszuloten. Und das ist ein Prozess, dem sich die Menschheit schon immer ausgesetzt gesehen hat, es war nur – sagen wir mal, früher war es ein anderer Stress, früher war es körperlicher Stress, und da hat man auch in bestimmten Phasen der Menschheitsgeschichte das bis zum Exzess ausgelotet, bis man dann irgendwann gemerkt hat, da geht es nicht weiter. Und wir haben heute eben eine andere Form von Stress. An die Stelle von körperlichem Stress tritt heute dieser Verantwortungsstress. Und da müssen wir auch lernen, mit umzugehen, und das werden die Menschen auch schaffen, aber in dem Prozess sind wir jetzt gerade, und es gibt viele Beispiele dafür, wie Unternehmen auch versuchen, sich mit dieser Sache auseinanderzusetzen. Also sagen wir mal, es gibt zum Beispiel – ich kenne das von einigen Unternehmen, die sich selbst eine sogenannte Silent Hour verordnet haben. Das heißt, die Mitarbeiter bekommen eine bestimmte Zeit am Tag eine Stunde oder vielleicht auch mehr, wo sie nicht durch Telefonate oder durch Besprechungen oder so etwas gestört werden, sondern wo sie wirklich mal eine Stunde Zeit haben, sich um das zu kümmern, wofür sie eigentlich angestellt sind. Und das ist ein Beispiel dafür, dass Unternehmen gemerkt haben: Es hat gar keinen Sinn, den Arbeitsablauf so zu fragmentieren, dass man im Grunde völlig den Überblick verliert und nicht mehr zu dem kommt, was man eigentlich machen soll. Und wenn Arbeitnehmer selber da Schwierigkeiten haben, sich sozusagen da Grenzen zu setzen, dann versucht man das halt mit solchen Regeln. Was sich da am Ende durchsetzt, das werden wir sehen. Aber wir sind mitten in einem Prozess, wo wir lernen müssen, mit neuen Herausforderungen umzugehen.

Timm: Meint Hilmar Schneider. Er ist Direktor für Arbeitsmarktpolitik im Forschungsinstitut Zukunft der Arbeit in Bonn. Herr Schneider, Sie haben es eben beschrieben, ein Beispiel Silent Hour. Die Frage ist ja, ob man damit schon weit genug ist und ob das reicht, denn bisher sah man ja Arbeitstempo und Arbeitsverdichtung und den daraus resultierenden Stress vor allen Dingen als Aufgabe für Psychologen und Mediziner, die das dann wieder reparieren. Sind da nicht auch die Ökonomen und ist da nicht auch die Wirtschaft selbst gefordert? Viel stärker als bisher?

Schneider: Natürlich. Es ist ja auch gar nicht im Interesse von Unternehmen, wenn sie sozusagen ihre Mitarbeiter so weit belasten, dass die dann am Ende unter der Last zusammenbrechen, das kann niemand wollen, und das will auch kein Unternehmen. Das geht schon gar nicht im Anbetracht der demografischen Veränderungen, die vor uns stehen. Also wenn das vielleicht vor zehn Jahren noch möglich war, dass man Mitarbeiter ersetzt hat, die den Belastungen nicht gewachsen waren, dann wird das in Zukunft so auch nicht mehr möglich sein. Und schon alleine deshalb, aber natürlich auch aus der Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern, ist es notwendig, dass sich Unternehmen hier was ausdenken. Und das sind ganz subtile Herausforderungen, die da zum Beispiel mit verbunden sind. Wir brauchen in Zukunft zum Beispiel auch Manager, die lernen oder gelernt haben, Signale für Überlastung zu erkennen. Also bislang waren wir immer der Ansicht, dass Manager Durchsetzungsvermögen haben müssen, und die brauchen Ellbogen und so was. Das brauchen sie auch in Zukunft – aber sie brauchen gleichzeitig immer mehr auch Einfühlungsvermögen, also wir brauchen Manager mit Ellbogen und Einfühlungsvermögen gleichzeitig. Das ist eine Herausforderung, die auch nicht ganz einfach zu bewältigen ist, und diese Sorte von Manager ist bislang noch selten, aber das gehört einfach zu den Dingen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, und die wir lernen müssen, sonst werden wir mit diesen Anforderungen nicht mehr klarkommen.

Timm: Es gibt ja auch das schöne Bild vom rasenden Stillstand, wenn der Mensch überdreht. Und das ist vielleicht ein Grund für die vielen psychischen Krankschreibungen in den letzten Jahren, das sind doppelt so viele wie vor 15 Jahren. Und DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach meinte jetzt, notwendig seien Arbeitsbedingungen, die weniger Stress produzieren, kein Konditionstraining zur besseren Stressbewältigung. Stimmen Sie ihr zu?

Schneider: Na, ich bin ein bisschen vorsichtig. Also das schürt ja ein bisschen die Vorstellung, man könnte beispielsweise durch gesetzliche oder tarifliche Vereinbarungen sich diesem Stress entziehen. Ich glaube, dass das ein Trugschluss ist. Was ich da geschildert habe, dass also die Märkte sich verändert haben, das ist ja ein Prozess, den wir nicht einfach durch tarifliche Vereinbarungen aufhalten können, sondern das ist ein Prozess, bei dem spielt man entweder mit oder man ist draußen aus dem Spiel. Und es ist so, wie Menschen schon immer damit konfrontiert waren, dass die Welt immer wieder neue Herausforderungen für sie bereithält.

Timm: Aber der Faktor Mensch ist das Rädchen, an dem man womöglich nicht unbegrenzt drehen kann.

Schneider: Nein, das habe ich ja gesagt: Der Mensch ist da die natürliche Grenze, aber so die Vorstellung, wie das bei den Gewerkschaften doch immer wieder anzutreffen ist, zurück in die 60er-Jahre, die wird mit diesen Herausforderungen nicht klarkommen – das ist nicht die richtige Antwort darauf. Wir müssen zum Beispiel Menschen dazu erziehen, oder sie müssen lernen, Grenzen setzen zu lernen. Sie müssen lernen, Neinsagekompetenz zu entwickeln. Und das ist das, was ich meine, wenn ich sage, dass auch Manager erkennen müssen, wenn Mitarbeiter sagen, es geht jetzt gerade nicht mehr, dass sie das auch akzeptieren und einschätzen lernen.

Timm: Herr Schneider, Arbeitsverdichtung, immer weniger Zeit für immer mehr Arbeit – hatten Sie in den letzten zehn Minuten eigentlich Ihr Smartphone an?

Schneider: Ich habe es vorhin ausgemacht, vor unserem Gespräch.

Timm: Das heißt, Sie gönnen sich das?

Schneider: Ich mache das regelmäßig abends auch aus, und ich gucke auch am Wochenende nur sporadisch mal in meine E-Mails. Und wenn das Wetter schön ist und ich was Interessantes unternehme, dann tue ich das Ding auch ganz weg.

Timm: Hilmar Schneider, Direktor für Arbeitsmarktpolitik im Forschungsinstitut Zukunft der Arbeit in Bonn. Herzlichen Dank fürs Gespräch, Herr Schneider!

Schneider: Ich danke Ihnen, Frau Timm!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Links bei dradio.de:

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