David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian Albrechts Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes- und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
Kommentar zum Bugatti-Raser
Ein stehender Bugatti. Möglicherweise verrät schon die Anschaffung, nicht erst das Rasen, einen Mangel an Urteilskraft? © Unsplash / Flavien
Schneller, als es der Verstand erlaubt
04:59 Minuten
Verboten war nicht, was ein Raser aus Tschechien tat. Aber wie steht es um das moralische Urteilsvermögen eines Mannes, der im Sportwagen mit 400 Sachen über die Autobahn jagt? David Lauer kommentiert einen ungleichen Kampf von Augenmaß und Bleifuß.
Ethisch zu handeln, das hat nach einem geläufigen Verständnis damit zu tun, den richtigen Regeln zu folgen. An solchen ist kein Mangel: Du sollst den unschuldig Verfolgten in der Not zu Hilfe kommen, du sollst nicht lügen, du sollst andere nicht übervorteilen.
Es gibt nicht für alles Regeln
Es gehört jedoch zu den Grundeinsichten der philosophischen Ethik, dass es ein System moralischer Regeln, das uns wie ein mathematischer Kalkül für jede Situation die richtige Handlungsweise ausspuckt, nicht geben kann. Das hat vielerlei Gründe.
Erstens hat jede Regel nur eine unscharf begrenzte Reichweite. Regeln werden immer auf bestimmte Normalbedingungen hin formuliert. Sind die Umstände des Handelns außergewöhnlich, führt die sture, mechanische Weiteranwendung der Regel zu inakzeptablen, möglicherweise grausamen Härtefällen.
Nicht jeder Fall ist vorhersehbar
Zweitens können Regeln miteinander in Konflikt geraten. Was ist beispielsweise, wenn ich der unschuldig Verfolgten nur dadurch helfen kann, dass ich jemanden anlüge? Es spricht wenig dafür, dass es uns gelingen kann, eine universal akzeptierte Hierarchie moralischer Regeln zu konstruieren, die für jeden denkbaren Fall dieser Art bestimmt, was Vorrang hat.
Drittens dehnen sich die Felder des menschlichen Handelns so schnell und unüberschaubar aus, dass schlicht nicht alles immer schon geregelt sein kann. Gerade in Bereichen wie der Medizin oder den Medien stoßen wir schnell auf Situationen, die uns vor schlicht unvorhergesehene ethische Fragen stellen.
Und manche Handlungsweisen erscheinen einfach so weit hergeholt, dass wohl niemand es für nötig erachtet hat, ihnen bereits vorab durch Regeln einen Riegel vorzuschieben. Wie etwa, einen drei Millionen Euro teuren Supersportwagen zu nehmen und mit 400 Stundenkilometern über eine öffentliche Straße zu brettern, auf der keine Geschwindigkeitsbegrenzung gilt.
Die Klugheit besteht im Abwägen
Schon der Philosoph Aristoteles meinte daher, es gebe kein gutes ethisches Leben ohne ein Vermögen, das er phronesis nannte. Dieses griechische Wort wird häufig mit „Klugheit“ übersetzt. Der Philosoph Immanuel Kant sprach in einem strukturell ähnlichen Zusammenhang von „Urteilskraft“. Gemeint ist das Vermögen, in einer komplexen Handlungssituation die ethisch relevanten Faktoren auf einen Blick richtig abzuwägen und so die angemessene Entscheidung darüber zu treffen, was hier und jetzt zu tun oder zu unterlassen ist.
Die Klugheit sieht, welche Regel in diesem einzigartigen Fall alle anderen übertrumpft, und zwar ohne für dieses Urteil selbst wieder eine Regel zu haben. Sie ist, wie Kant es von der Urteilskraft sagt, „ein besonderes Talent, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will“.
Wenn die Urteilskraft versagt
Die Urteilskraft macht einen relativ häufigen Typ ethischen Versagens verständlich. Dieses ist häufig nicht das Ergebnis mangelnden Wissens über die geltenden Regeln oder einer ausdrücklichen Absicht, ihnen zuwiderzuhandeln. Die Handelnden kennen die Regeln und bilden sich sogar ein, sie zu respektieren. Sie legen Wert darauf, nur in den Lücken zu agieren, in denen sie keine Vorschriften verletzen. Sie sehen nicht (oder wollen nicht sehen), was jede durch Klugheit sensibilisierte Person auf einen Blick erkennen würde, obwohl dieses Urteil nicht aus klar gesatzten und fixierten Regeln abgeleitet werden kann: dass ihr Handeln falsch ist, unverantwortlich, rücksichtslos.
Es handelt sich um ein Versagen der Urteilskraft. Der Mangel an Urteilskraft aber, so schreibt Kant, „ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.“