Schönheit, Zeit, Vergnügen, Enttäuschung
Händels weltliches Oratorium legt einen Kern der Oper frei, theatralischer als manches barocke Theaterspektakel. Die aktualisierende und wohl auch sexualisierende Präsentation von Regisseur Calixto Bieitos macht daraus ein lustvolles Opernvergnügen.
22 Jahre war Georg Friedrich Händel alt, als er in Rom das Oratorium vom Triumph der Zeit und der Enttäuschung komponiert: "Il Trionfo del Tempo e del Didisinganno. Opern durften bei Händels Aufenthalt in Rom nicht öffentlich geboten werden und selbst weltliche Oratorien hatten mit Einschränkungen zu rechnen. Und so ist es bis heute unbekannt, wo genau in Rom Händels Werk 1707 zur Aufführung gebracht wurde - doch es ist voll leidenschaftlicher, streitlustiger, abwechslungsreicher, vergnüglicher und dann immer wieder abgründig berührender Musik voller Schwermut und nimmt musikalisch viele spätere Entwicklungen des Opernkomponisten Händel vorweg.
Personal sind vier Begriffe, oder genauer: allegorische Personen, "Schönheit", "Zeit", "Vergnügen" und "Enttäuschung" - aber schon in der Textvorlage sind dies ja keine statuarischen Abstraktionen, sondern Figuren, die im Dialog ihre Ansichten verteidigen und damit auch ihre Widersprüche sichtbar machen – ein philosophisches Räsonieren, dem eine biblische Geschichte zugrunde gelegt ist, nämlich die Bekehrung der schönen, sinnlichen, freizügigen Maria Magdalena und ihre Einsicht. Noch weit mehr als der Text entfaltet die Musik die dynamisch-sinnliche Kraft der abstrakten Figuren. Händels weltliches Oratorium legt damit sogar einen Kern der Oper frei, theatralischer als manches barocke Theaterspektakel.
Calixto Bieitos aktualisierende und wohl auch sexualisierende Präsentation macht aus dem Disput der abstrakten Begriffe ein lustvolles, sehr theatralisches Opernvergnügen. Einerseits bedient er die allegorische Ebene: Ein Kettenkarussell, das zunächst Kinder benutzen, zu dem im zweiten Teil nur in Unterwäsche bekleidete alte Leute schlurfen, symbolisiert wohl den Kreislauf der Zeit, Luftballons die Weltkugel etc. Andererseits ist es moderne Psychologie: die Geschichte, die Bieito erzählt, ist eine moderne Beziehungsgeschichte, in der sich zwei junge Partner, "Zeit" und "Schönheit", entfremdet haben, weil sie merken, dass sie altern. "Schönheit" wirft sich deshalb – vergeblich - in die Arme des "Vergnügens" und Konsums, der "Triumph" am Ende nach "Enttäuschung" ist ein Wieder-Zusammen-Kommen der beiden.
Es sind sehr sinnliche Figuren, die agieren und in jeder einzelnen Nummer nicht nur ein musikalisches, sondern auch ein komödiantisches Feuerwerk abbrennen. Camilla de Falleiro, Ezgi Kutlu, Marina Prudenskaja und Charles Workman. Ja das "Vergnügen" verteilt aufgekratzt sogar Küsschen im Publikum. Und wenn sich das Karussell zur Händels Orgelpositiv dreht, dann ist Transzendenz und Jahrmarktsvergnügen gleichzeitig spürbar. Mag sein, dass die sexualisierte Ästhetik von Bieito und seiner Ausstatterin Susanne Gschwender oder die kaum bekleideten Greise, nicht alle überzeugte, es gab unter dem Schlussapplaus auch ein paar Buhrufe. Die philosophische Disputation ist insbesondere auch durch die dynamische musikalische Leitung von Sébatien Rouland in Stuttgart eindrucksvolles nie langweilendes Musiktheater, eine lohnende Entdeckung! Mit Recht wird Händels frühes Oratorium schon in der nächsten Spielzeit, in der Berliner Staatsoper in einer weiteren Inszenierung durch Jürgen Flimm zu sehen sein.
Staatsoper Stuttgart
Leandra Overmann knallt alle ab
Calixto Bieito inszeniert Mauricio Kagels "Aus Deutschland"
Fast so etwas wie eine Sternstunde des Musiktheaters
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Personal sind vier Begriffe, oder genauer: allegorische Personen, "Schönheit", "Zeit", "Vergnügen" und "Enttäuschung" - aber schon in der Textvorlage sind dies ja keine statuarischen Abstraktionen, sondern Figuren, die im Dialog ihre Ansichten verteidigen und damit auch ihre Widersprüche sichtbar machen – ein philosophisches Räsonieren, dem eine biblische Geschichte zugrunde gelegt ist, nämlich die Bekehrung der schönen, sinnlichen, freizügigen Maria Magdalena und ihre Einsicht. Noch weit mehr als der Text entfaltet die Musik die dynamisch-sinnliche Kraft der abstrakten Figuren. Händels weltliches Oratorium legt damit sogar einen Kern der Oper frei, theatralischer als manches barocke Theaterspektakel.
Calixto Bieitos aktualisierende und wohl auch sexualisierende Präsentation macht aus dem Disput der abstrakten Begriffe ein lustvolles, sehr theatralisches Opernvergnügen. Einerseits bedient er die allegorische Ebene: Ein Kettenkarussell, das zunächst Kinder benutzen, zu dem im zweiten Teil nur in Unterwäsche bekleidete alte Leute schlurfen, symbolisiert wohl den Kreislauf der Zeit, Luftballons die Weltkugel etc. Andererseits ist es moderne Psychologie: die Geschichte, die Bieito erzählt, ist eine moderne Beziehungsgeschichte, in der sich zwei junge Partner, "Zeit" und "Schönheit", entfremdet haben, weil sie merken, dass sie altern. "Schönheit" wirft sich deshalb – vergeblich - in die Arme des "Vergnügens" und Konsums, der "Triumph" am Ende nach "Enttäuschung" ist ein Wieder-Zusammen-Kommen der beiden.
Es sind sehr sinnliche Figuren, die agieren und in jeder einzelnen Nummer nicht nur ein musikalisches, sondern auch ein komödiantisches Feuerwerk abbrennen. Camilla de Falleiro, Ezgi Kutlu, Marina Prudenskaja und Charles Workman. Ja das "Vergnügen" verteilt aufgekratzt sogar Küsschen im Publikum. Und wenn sich das Karussell zur Händels Orgelpositiv dreht, dann ist Transzendenz und Jahrmarktsvergnügen gleichzeitig spürbar. Mag sein, dass die sexualisierte Ästhetik von Bieito und seiner Ausstatterin Susanne Gschwender oder die kaum bekleideten Greise, nicht alle überzeugte, es gab unter dem Schlussapplaus auch ein paar Buhrufe. Die philosophische Disputation ist insbesondere auch durch die dynamische musikalische Leitung von Sébatien Rouland in Stuttgart eindrucksvolles nie langweilendes Musiktheater, eine lohnende Entdeckung! Mit Recht wird Händels frühes Oratorium schon in der nächsten Spielzeit, in der Berliner Staatsoper in einer weiteren Inszenierung durch Jürgen Flimm zu sehen sein.
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