Schonungslose Selbstbefragung

Mit persönlichen Äußerungen zu Leben und Werk hat sich Joyce Carol Oates bisher zurückgehalten. In "Meine Zeit der Trauer" überschreitet sie zum ersten Mal diese Grenze: Sie erzählt von ihrem Leben als Witwe.
Joyce Carol Oates und Raymond Smith waren 47 Jahre lang verheiratet, als er plötzlich stirbt. Die beiden kannten sich seit dem Studium, gründeten zusammen eine Literaturzeitschrift, die er bis zu seinem Tod herausgab, gingen miteinander durch dick und dünn. Niemals waren sie länger als ein oder zwei Tage getrennt und das nur, wenn sie zu Lesungen oder Vorträgen unterwegs war. Ein ideales Paar also - auch in den Augen ihrer Freunde. Den unfassbaren Schock, als sie mit einem Schlag allein ist, das Grauen einer Existenz ohne den anderen, vergegenwärtigt Joyce Carol Oates in ihrem Erinnerungsbuch auf erschütternde Weise.

Sie beschreibt, wie sie Nacht für Nacht wach liegt trotz Schlaftabletten und Antidepressiva, dass sie nicht mehr denken, nichts mehr essen kann. Wie sie Angst hat, zu erblinden, weil am Rande ihres Gesichtsfelds plötzlich halluzinatorische Bilder auftreten, ein schuppengepanzertes Wesen, das sie durch den Tag verfolgt ebenso wie der unabweisbare Gedanke an Selbstmord. Minutiös schildert sie, wie die Gesetze rationalen Handelns außer Kraft gesetzt werden. Weil ihre Kleider sie an glückliche Tage erinnern, wirft sie sie auf den Müll, außer sich vor Zorn führt sie haltlose Selbstgespräche darüber, dass sie ihren Mann nicht retten konnte. Monatelang weigert sie sich, die Ansage ihres Mannes auf dem Anrufbeantworter zu löschen - und ruft ihn immer wieder an, um seine Stimme zu hören.

Eindringlich beschreibt sie ihre Angst, das Haus zu verlassen, weil jede Frage von Fremden nach dem Verbleib ihres Mannes - im Supermarkt, im Fitnessstudio - sie in Tränen ausbrechen lassen könnte. Aber das Haus, "aus dem sich der Sinn verabschiedet hat, wie Luft aus einem Ballon entweicht", wird nie mehr ihr Zufluchtsort sein. Doch sie beschreibt auch, wie sie Halt gewinnt, indem sie weiter ihrer Arbeit an der Universität nachgeht, wie sie bei ihren Freunden zwar keinen Trost aber tätige Hilfe findet.

Dass diese schonungslose Selbstbefragung, der sich Oates in der Ichform unterzieht, nicht zu einer Suada aus Selbstmitleid entartet, liegt an der klugen, die Privatheit ins Allgemeine erweiternden Komposition der Autobiografie. Es ist eine Mischung aus Tagebuch, ausgewählten E-Mails an Freunde wie Richard Ford, Philip Roth oder Gloria Vanderbilt und immer wieder eingestreuten knappen Episoden ihrer Ehe. Bei allem Verlustschmerz spart Oates aber auch nicht mit wohldosierter Selbstironie: Wenn sie sich in ihrer haltlosen Trauer bei Gesten ertappt, so melodramatisch wie "King Lear auf der Heide, bloß ohne die Shakespearesche Note", oder wenn sie ihr bisheriges Leben lakonisch als "so geordnet und gesittet" bestaunt "wie eine Laura-Ashley-Tapete". Das ist tatsächlich staunenswert – bei einer Autorin, deren Stärke immer darin bestand, dass sie für ihre rasenden Heldinnen und Helden jede Menge an Trennungskatastrophen erfand.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Joyce Carol Oates: Meine Zeit der Trauer
Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz,
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2011
494 Seiten, 24,95 Euro

Linktipp:
Brillant und bedrückend - Joyce Carol Oates: "Die Lästigen", Eichborn Verlag, Frankfurt 2011, 381 Seiten(Kritik vom 20.6.2011, DKultur)
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