Schopenhauer zum Hausgebrauch
In seiner Schopenhauer-Biografie erzählt Robert Zimmer den Werdegang, die Denkbewegungen und Eigenarten des Philosophens. Zimmer bietet Fakten, Deutungen, Zusammenhänge – mehr aber auch nicht.
Jedes Zeitalter versucht sich in der Geistesgeschichte zu spiegeln, um das eigene Weltbild historisch zu untermauern. Deshalb werden die großen Denker und Künstler, die sich gegen ihre Vereinnahmung nicht mehr wehren können, gern vor den Karren des jeweiligen Zeitgeistes gespannt. Lautet dieser Patriotismus, hebt man ihre "vaterländische Gesinnung" hervor, lautet er Sozialismus, macht man sie zu Vorboten eines "Arbeiter- und Bauernstaates". Luther, Goethe, Hegel, selbst Hölderlin – sie alle dienten im 20. Jahrhundert den verschiedenen politischen Moden zur Rechtfertigung.
Heute muss, wer für die Gegenwart relevant sein will, "global denken", "liberal", "weltoffen" und ein "Stichwortgeber der Moderne" sein. Auch ein "Migrationshintergrund" ist gern gesehen. Konsequenterweise trägt Robert Zimmers Schopenhauer-Biografie den Untertitel "Ein philosophischer Weltbürger." Und natürlich trifft diese Bezeichnung auf Schopenhauer auch zu; genauso wie "Ein antidemokratischer Einzelgänger" oder "Ein misanthropischer Tierfreund" zutreffend gewesen wäre, wenn der Zeitgeist nach Betonung dieser Eigenschaften verlangt hätte.
Wer ein Buch über eine sehr bekannte und schon sehr häufig dargestellte Persönlichkeit schreiben will, muss verdeutlichen, was seine Schilderung von anderen unterscheidet und warum eine weitere überhaupt erforderlich ist. Also bezieht Zimmer sofort Position: Allein auf den ersten zehn Seiten wird dreimal wiederholt, dass Schopenhauer täglich die englische Times gelesen habe, da ihn alles bloß Deutsche als zutiefst provinziell abstieß; Schlüsselwörter wie "Aufklärung", "internationaler Kontext", "Weltoffenheit", "Common Sense" und immer wieder "kosmopolitisch" drängen sich auf engstem Raum und verhelfen, Schopenhauer ins politisch korrekte Licht zu rücken. Denn:
"Unter den deutschen Philosophen seiner Zeit ist er der Mann von Welt. Weit davon entfernt, ein philosophischer Sonderling zu sein, ist er einer der wahren Internationalisten in der deutschen Philosophie."
Erst, nachdem der Autor klargestellt hat, dass also auch Schopenhauer eigentlich schon immer einer "von uns" gewesen sei, entfaltet das Buch seine Qualität. Denn Zimmer versteht es durchaus, den Werdegang, die Denkbewegungen und Eigenarten des selbstbewussten Philosophen kurzweilig zu erzählen. Deshalb handelt es sich um eine weitere solide, kenntnisreiche, gut lesbare und durchweg verständliche Lebens- und Werkbeschreibung. Zimmer stellt Schopenhauer so deutlich wie noch kein Biograf zuvor in den Kontext der europäischen Literatur, und betont immer wieder dessen Brückenfunktion zwischen dem »westlichen« und dem »östlichen«, also vor allem buddhistischen Denken.
"Kein europäischer Denker vor und nach ihm hat eine solche Synthese vorgelegt, keiner das Bedürfnis nach rationaler Analyse ebenso befriedigt wie das nach weltanschaulicher Sinngebung. Schopenhauer, der philosophische Weltbürger, gehört sowohl in die westliche als auch in die östliche Tradition des Denkens."
Damit bietet Zimmer, was der Leser von einer fundierten Biografie erwarten darf: Fakten, Deutungen, Zusammenhänge – mehr aber auch nicht. Denn Zimmers Buch ist weit weniger als etwa der 1987 erschienene und inzwischen als Taschenbuch vorliegende Konkurrenzband Rüdiger Safranskis, "eine Liebeserklärung an die Philosophie." Bedauerlicherweise, denn gerade ein Denker wie Schopenhauer bietet wunderbar Gelegenheit, den Leser auf gedankliche Abwege zu locken, ihn geistig anzuregen und zum Selbstdenken zu verführen. Dazu bedarf es jedoch einer gewissen Distanz zum Common Sense, den Zimmer allerdings zum Maßstab erhebt und dadurch jemandem wie Schopenhauer nur schwer gerecht werden kann.
"So tritt uns der Pessimist im Biedermeier-Interieur bei näherem Hinsehen in einer ganz anderen Gestalt entgegen: Als ein Denker mit weitem Blick, der Horizonte öffnet und kulturelle Grenzen überwindet, ein Denker, der die kritischen Traditionen der westlichen Philosophie bewahrt und diese gleichzeitig erweitert und bereichert."
Der Common Sense sei das Naive, erklärte einmal Robert Spaemann, und bei Martin Heidegger kann man lesen, dass die Philosophie "wesenhaft unzeitgemäß" sei. Warum also Schopenhauer unbedingt zum Vertreter der Jetztzeit verklären? Gehörte doch gerade er zu denjenigen, die sich unter allen Umständen einen eigenen Kopf bewahrten und sich eben nicht schlechterdings mit der Welt "arrangierten", wie bei Zimmer öfter zu lesen ist, sondern dem Mittelmäßigen und Gewöhnlichen gegenüber immer auf Abstand blieben. Doch so etwas dem heutigen, auf Kompromissbereitschaft trainierten Leser zuzumuten, fällt naturgemäß schwer. Also wird der zeitlebens streng eigensinnig denkende Schopenhauer am Ende sogar zum Vermittler zwischen allem Gegensätzlichen: zwischen Körper und Geist, Europa und Asien, Metaphysik und Wissenschaft.
"Wir sollten Schopenhauer als philosophischen Lebensbegleiter und Gesprächspartner begreifen, der uns unseren Egozentrismus und die Grenzen unserer Vernunft bewusst macht, der uns aber auch an unsere enge Verwandtschaft mit allem erinnert, was lebt; ... der uns Demut ohne Gott, Skepsis ohne Verzweiflung und pragmatische Weltklugheit lehrt."
Schopenhauer zum Hausgebrauch, Philosophie als Lebenshilfe. Der Verlag darf auf höheren Absatz rechnen, der Autor eckt nicht an und niemand kommt ins Grübeln. Damit ist allen gedient – außer Schopenhauer. Und dem Leser.
Robert Zimmer: Arthur Schopenhauer. Ein philosophischer Weltbürger
dtv, München/2010
Heute muss, wer für die Gegenwart relevant sein will, "global denken", "liberal", "weltoffen" und ein "Stichwortgeber der Moderne" sein. Auch ein "Migrationshintergrund" ist gern gesehen. Konsequenterweise trägt Robert Zimmers Schopenhauer-Biografie den Untertitel "Ein philosophischer Weltbürger." Und natürlich trifft diese Bezeichnung auf Schopenhauer auch zu; genauso wie "Ein antidemokratischer Einzelgänger" oder "Ein misanthropischer Tierfreund" zutreffend gewesen wäre, wenn der Zeitgeist nach Betonung dieser Eigenschaften verlangt hätte.
Wer ein Buch über eine sehr bekannte und schon sehr häufig dargestellte Persönlichkeit schreiben will, muss verdeutlichen, was seine Schilderung von anderen unterscheidet und warum eine weitere überhaupt erforderlich ist. Also bezieht Zimmer sofort Position: Allein auf den ersten zehn Seiten wird dreimal wiederholt, dass Schopenhauer täglich die englische Times gelesen habe, da ihn alles bloß Deutsche als zutiefst provinziell abstieß; Schlüsselwörter wie "Aufklärung", "internationaler Kontext", "Weltoffenheit", "Common Sense" und immer wieder "kosmopolitisch" drängen sich auf engstem Raum und verhelfen, Schopenhauer ins politisch korrekte Licht zu rücken. Denn:
"Unter den deutschen Philosophen seiner Zeit ist er der Mann von Welt. Weit davon entfernt, ein philosophischer Sonderling zu sein, ist er einer der wahren Internationalisten in der deutschen Philosophie."
Erst, nachdem der Autor klargestellt hat, dass also auch Schopenhauer eigentlich schon immer einer "von uns" gewesen sei, entfaltet das Buch seine Qualität. Denn Zimmer versteht es durchaus, den Werdegang, die Denkbewegungen und Eigenarten des selbstbewussten Philosophen kurzweilig zu erzählen. Deshalb handelt es sich um eine weitere solide, kenntnisreiche, gut lesbare und durchweg verständliche Lebens- und Werkbeschreibung. Zimmer stellt Schopenhauer so deutlich wie noch kein Biograf zuvor in den Kontext der europäischen Literatur, und betont immer wieder dessen Brückenfunktion zwischen dem »westlichen« und dem »östlichen«, also vor allem buddhistischen Denken.
"Kein europäischer Denker vor und nach ihm hat eine solche Synthese vorgelegt, keiner das Bedürfnis nach rationaler Analyse ebenso befriedigt wie das nach weltanschaulicher Sinngebung. Schopenhauer, der philosophische Weltbürger, gehört sowohl in die westliche als auch in die östliche Tradition des Denkens."
Damit bietet Zimmer, was der Leser von einer fundierten Biografie erwarten darf: Fakten, Deutungen, Zusammenhänge – mehr aber auch nicht. Denn Zimmers Buch ist weit weniger als etwa der 1987 erschienene und inzwischen als Taschenbuch vorliegende Konkurrenzband Rüdiger Safranskis, "eine Liebeserklärung an die Philosophie." Bedauerlicherweise, denn gerade ein Denker wie Schopenhauer bietet wunderbar Gelegenheit, den Leser auf gedankliche Abwege zu locken, ihn geistig anzuregen und zum Selbstdenken zu verführen. Dazu bedarf es jedoch einer gewissen Distanz zum Common Sense, den Zimmer allerdings zum Maßstab erhebt und dadurch jemandem wie Schopenhauer nur schwer gerecht werden kann.
"So tritt uns der Pessimist im Biedermeier-Interieur bei näherem Hinsehen in einer ganz anderen Gestalt entgegen: Als ein Denker mit weitem Blick, der Horizonte öffnet und kulturelle Grenzen überwindet, ein Denker, der die kritischen Traditionen der westlichen Philosophie bewahrt und diese gleichzeitig erweitert und bereichert."
Der Common Sense sei das Naive, erklärte einmal Robert Spaemann, und bei Martin Heidegger kann man lesen, dass die Philosophie "wesenhaft unzeitgemäß" sei. Warum also Schopenhauer unbedingt zum Vertreter der Jetztzeit verklären? Gehörte doch gerade er zu denjenigen, die sich unter allen Umständen einen eigenen Kopf bewahrten und sich eben nicht schlechterdings mit der Welt "arrangierten", wie bei Zimmer öfter zu lesen ist, sondern dem Mittelmäßigen und Gewöhnlichen gegenüber immer auf Abstand blieben. Doch so etwas dem heutigen, auf Kompromissbereitschaft trainierten Leser zuzumuten, fällt naturgemäß schwer. Also wird der zeitlebens streng eigensinnig denkende Schopenhauer am Ende sogar zum Vermittler zwischen allem Gegensätzlichen: zwischen Körper und Geist, Europa und Asien, Metaphysik und Wissenschaft.
"Wir sollten Schopenhauer als philosophischen Lebensbegleiter und Gesprächspartner begreifen, der uns unseren Egozentrismus und die Grenzen unserer Vernunft bewusst macht, der uns aber auch an unsere enge Verwandtschaft mit allem erinnert, was lebt; ... der uns Demut ohne Gott, Skepsis ohne Verzweiflung und pragmatische Weltklugheit lehrt."
Schopenhauer zum Hausgebrauch, Philosophie als Lebenshilfe. Der Verlag darf auf höheren Absatz rechnen, der Autor eckt nicht an und niemand kommt ins Grübeln. Damit ist allen gedient – außer Schopenhauer. Und dem Leser.
Robert Zimmer: Arthur Schopenhauer. Ein philosophischer Weltbürger
dtv, München/2010