Sigrid Rieuwerts, Hans Thill (Hg.): "Unter der dünnen Mondsichel. Gedichte aus Schottland"
Zweisprachig. Übersetzt von Daniela Danz, Sina Klein, Uwe Kolbe u.a.
Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2020
155 Seiten, 25 Euro.
Die Highlands liegen nicht mehr abgeschieden
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Wie jedes Jahr hat Autor Hans Thill Dichter zum gemeinsamen Übersetzen eingeladen. Diesmal kamen sie aus Schottland. In dem Band "Unter der dünnen Mondsichel" ist nun ein breites Spektrum von Gedichten versammelt - zwischen Natur-Topoi und Anti-Idyllen.
In einem der Gedichte des Bands "Unter der dünnen Mondsichel" spannt Iain Galbraith eine Kindheitswelt auf. Hochwasser, Sonne, der Strand voller Algen. Der Sprecher erinnert sich an sein verbranntes Gesicht, an Liedzeilen und an die Kastenkrabben, die "zu Tausenden die Mauer querten."
Irgendetwas haben die Kinder mit ihren Spaten ausgegraben, vielleicht den Rest eines Schiffs. Doch plötzlich löst sich alles in Lichtflecken auf. Bevor der Junge sich verlieren kann, flüchtet er und rennt die Küste entlang. Und ist verblüfft, auf der Straße ein verliebtes Paar zu hören: "Ihre dunkle / Sprache hatte mein Ohr erfasst." Doch wir sind an der Küste Schottlands. So bleibt offen, um welche Sprache es sich handelt: Unterhalten sich die beiden auf Englisch, auf Scots – oder sogar auf Schottisch-Gälisch?
Wahl der Sprache politische Entscheidung
Die Kategorie "schottischer Dichter" sei äußerst vage, hat Jan Wagner einmal mit Blick auf die Vielfalt der Sprachen geschrieben. In der schottischen Poesiegeschichte sei die Wahl der Sprache immer auch eine politische Entscheidung gewesen, ein "Beharren auf Eigenständigkeit".
Andererseits bietet vielleicht gerade in der Gegenwart die Mehrsprachigkeit die Chance, jede Suche nach Eindeutigkeit oder fester Identität elegant zu untergraben. So passt es womöglich sehr gut, dass sich im letzten Jahr in dem Weinstraßen-Städtchen Edenkoben, wo sich das Schriftdeutsche mit dem Pfälzischen mischt und Badisch und Französisch nicht weit sind, elf Dichterinnen und Dichter aus Schottland und Deutschland zum gemeinsamen Übersetzen getroffen haben.
"Landmasse" beginnt zu "torkeln"
"Poesie der Nachbarn" heißt die Reihe, zu der der Dichter Hans Thill einmal im Jahr ins Künstlerhaus Edenkoben einlädt. Dabei wird stets in eine Richtung übersetzt, die deutschsprachigen Poeten übertragen die Texte ihrer Gäste, und zwar ohne dass es feste Paarungen gäbe. Bei gutem Wetter sitzt man draußen zwischen den Weinbergen und kann sich freuen, dass im besten Fall zu jedem Gedicht mehrere Versionen auf Deutsch entstehen.
Und während sich die Sprachen überlagern, verschieben sich die Zeitschichten. Wo Iain Galbraith die Erinnerung an die Kindheit beschwört, nimmt Meg Bateman die bisweilen triste Gegenwart in den Blick: "Die Highlands liegen nicht mehr abgeschieden", heißt es bei ihr. Andernorts schreibt sie: "Here you see the land lurching", was sich auf Gälisch so liest: "An seo chithear an talamh a’ tuisleachadh". Uwe Kolbe macht daraus "Hier siehst du Land, das sich zusammenzieht", bei Daniela Danz sieht man "das Land wanken", und in der Übersetzung von Tobias Roth beginnt die "Landmasse" sogar zu "torkeln".
Natur-Topoi und Anti-Idyllen
So unterschiedlich die teilweise großartigen Übersetzungen ausfallen, so unterschiedlich sind die Gedichte. Claire Askew, mehr als 25 Jahre später als Bateman geboren, spitzt deren Deutung zu. Sie schreddert Natur-Topoi, schreibt Anti-Idyllen, in denen Tourismus, Industrie und die Zerstörung der Landschaft prägend sind: "Jedes alte Jahr stirbt lauter, / brutaler als das letzte."
Nicht weniger spannend sind die sprachspielerischen Gedichte von Peter Manson. Seine "birth windows" und "gum-loving ribbon lips" finden wortstarke Entsprechungen in Übertragungen von Lea Schneider und Paul-Henri Campbell. Mansons Idee der dauernden "Ablenkung" und Abschweifung beschreibt vielleicht ganz gut die Mischung aus Freiheit und Brüchigkeit, die in all diesen Gedichten spürbar wird.