Schottischer Lyriker Robin Robertson

In der schwarzweißen Schattenwelt

29:52 Minuten
Robin Robertson trägt ein dunkelblaues Sakko, ein hellblaues Hemd und schaut in die Kamera.
Nicht sich mit seiner Lyrik "der Ängste und Schrecken, der Beklemmungen und Begierden an": Robin Robertson © picture alliance / DPR
Von Thomas David |
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Robin Robertson konzentriert sich auf den Augenblick. In seinen Gedichten geht es um den Versuch, das Vergängliche im Moment des Verschwindens zu fassen. Jetzt ist sein Erzählgedicht "Wie man langsamer verliert" auf Deutsch erschienen.
In seinem Langgedicht "Wie man langsamer verliert" folgt der Lyriker Robertson einem Kriegsveteranen in den 1940er- und 50er-Jahren durch New York und Los Angeles. Als Walker im Herbst 1946 in New York eintrifft, ist er wie gebannt vom Anblick der Stadt. Walker, ein 26-jähriger, aus dem kanadischen Cape Breton stammender Veteran der North Nova Scotia Highlander, ist vom Krieg traumatisiert. Nach allem, was er in Europa erlebt hat, kann er nicht ins Idyll seiner kanadischen Heimat zurück. In New York hofft er, Anonymität und Vergessen zu finden.

Eine Figur wie aus einem Film noir

An einem Tag im Februar sitzt Robin Robertson in seinem Haus in London vor dem Bildschirm seines Computers und erzählt via Zoom von der Arbeit an dem Gedicht:
"Als ich die Figur konzipierte, fand ich, er müsse Kanadier sein und einer ländlichen Gemeinde entstammen. Und er sollte auch wie die Figur aus einem Film noir sein. Diese Figuren sind oft Einzelgänger, Alkoholiker mit einer Neigung zu plötzlicher Gewalt, einsam, gebrochen. Anständig, aber verloren. Ich dachte, wenn ich über das Nachkriegs-Amerika schreiben will und wie es auseinanderfällt, dann aus der Perspektive eines Kriegsveteranen. Walker hat all die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung, als er zu Beginn des Buchs in New York eintrifft."
Robertson erzählt, wie sein Protagonist Walker auf seinen Streifzügen durch die Straßen von Manhattan immer wieder von Erinnerungen heimgesucht wird:
"Im Verlauf des Buchs verdrängen die Erinnerungen an den Krieg die Erinnerungen an Kindheit und Jugend und überwältigen Walker und gewissermaßen auch das Buch, weil er mit seinem Leid klarzukommen versucht – mit einer großen Scham, die er wegen etwas, das er getan hat, empfindet."

Faszination für die amerikanische Kultur

Der 1955 im Nordosten Schottlands geborene Lyriker hat seiner Figur die ambivalenten Gefühle eingeschrieben, die er selbst empfand, als er in den siebziger Jahren von Schottland nach London zog. Diese Gefühle verbindet er mit seiner Faszination für die amerikanische Kultur und den Erinnerungen an seine Besuche in New York, Los Angeles und San Francisco.
"Ich schuf also eine Figur, die gewisse Ähnlichkeiten mit mir hat", erzählt er. "Denn Walker teilt als Kanadier zwar die Sprache mit dem größeren, mächtigeren Nachbarn USA, wird aber dennoch als Outsider betrachtet. So sah man mich, als ich von Schottland nach London zog. Ich musste mein Vokabular erneuern, weil niemand mich verstand. Das schien mir ein guter Ausgangspunkt zu sein."
Walker lernt in einer Bar beim Union Square zufällig den Regisseur Robert Siodmak kennen, der in New York seinen Film "Cry of the City" abdreht. "Wie man langsamer verliert" ist durchdrungen von der Stimmung und der Metaphorik des Film noir. Vom Nihilismus dieses weitgehend von europäischen Exilanten geprägten Genres. Vom kalten Licht einer schwarzweißen Schattenwelt, das Robertson in eine intensive lyrische Bildsprache überträgt.

Endlose Neugier als Voraussetzung

Als Voraussetzungen für seine poetische Verfahrensweise nennt Robertson "endlose Neugier, ein Auge für Schönheit, aber auch ein Auge für Hässlichkeit und Horror".
"Das ist etwas ganz und gar Schottisches: ähnlich dem osteuropäischen Verständnis, dass die Realität nicht angenehm ist", sagt die schottische Schriftstellerin A.L. Kennedy. "Es handelt sich um dieses generelle poetische Verfahren: das Verlangen, eine Sache sehr genau zu betrachten und ihr etwas zu entlocken, das ihr etwas hinzufügt. Da ist also dieser Grundimpuls, aber was Robin zur Betrachtung auswählt und wofür er sich interessiert, zeugt von seiner Liebe für das Groteske. Er hat einen sehr schwarzen Humor."
Und der schottische Schriftsteller und Lyriker John Burnside meint: "Es handelt sich um eine besondere Wahrnehmung, im Vorbeigehen die Dinge zu registrieren. Ich nehme an, das ergibt sich ganz selbstverständlich aus einem Gedicht, das zumindest in Teilen beinahe ein Road Movie ist."
Als Lektor beim Londoner Literaturverlag Secker & Warburg hatte Robertson Mitte der 1980er-Jahre Autor*innen wie Burnside und A. L. Kennedy etabliert und sie als langjähriger Publisher des Imprints Jonathan Cape bis zu seiner Pensionierung Ende 2020 verlegt.

Das Magische im Alltäglichen

In seinem 2019 auf Deutsch erschienenen Buch "Über Liebe und Magie" beschreibt Burnside eine Art der Wahrnehmung, die auch Robertsons Wahrnehmung auszeichnet: "jenen verzauberten", im Altschottischen als glamourie bezeichneten "Zustand, in dem alles, auch das einfachste Ding, das simpelste Ereignis, voll magischer Möglichkeiten steckt."
"Wenn ich ein Gefühl der Verbundenheit zu einem anderen Schriftsteller verspürte, der mit diesem Ideal der glamourie schreibt, dann wäre es Robin Robertson", sagt Burnside. "Wir haben darüber nie wirklich gesprochen, aber ich glaube, es durchdringt unser beider Arbeit."
"Glamourie ist ein faszinierendes Wort. Es ist gleicher Abstammung wie grammar. Glamour und Grammatik sind also das Gleiche", sagt Don Paterson, schottischer Lyriker und Lektor bei Picador Books, wo seit 1997 Robertsons Gedichtbände erscheinen: "Robin geht es nicht um den glamourösen, oberflächlichen Aspekt. Es geht ihm darum, das Magische im Alltäglichen und das Abwegige zu entdecken. Wenn man die Dinge auf die richtige Weise ins Licht hält, verwandeln sie sich in etwas Unerwartetes und oft sehr Überraschendes. Dafür hat Robin ein Händchen."
Burnside ergänzt: "Diese Ahnung, dass sich die Dinge permanent verändern, ist Teil von glamourie. Und ich glaube, unsere Art zu sehen, in einer Kultur, die das deduktive Denken überbetont, schließt Möglichkeiten aus, die demzufolge keinen Sinn ergeben. Während jemand, der sich der glamourie bewusst ist, weiß, dass sich alles jeden Moment verändern kann."
Robertson sagt: "Ich würde noch immer dazu stehen, dass Lyrik sich der Ängste und Schrecken, der Beklemmungen und Begierden annimmt, die in unserem Unterbewussten begraben sind. Und genau wie Träume versucht, sie zu entwirren oder ein Drama zu erzeugen, das die Verstrickung entknotet."

Die Schattenseite des American Dream

Als Walker, die Hauptfigur in Robertsons Langgedicht "Wie man langsamer verliert", im Frühjahr 1948 nach langer Zugfahrt in Los Angeles eintrifft, sieht er Orangen- und Avocadobäume im warmen Sonnenlicht. Das verheißungsvolle Land seiner neuen Zukunft. Ein paar Straßen weiter dann die Bettler und Nutten, GIs und Dockarbeiter: das kaleidoskopische Treiben einer Menschenmenge, die sich in der Stadt der Engel durchs Delirium unerfüllter Träume schiebt. Die erste Nacht in L. A. verbringt Walker im Kino.
"Die Bildsprache von 'Wie man langsamer verliert' geht zu einem großen Teil auf meine frühe Liebe für den Film noir zurück," sagt Robertson. "Ich habe diese Filme als Kind in Aberdeen gesehen, sie waren für mich von einer verhängnisvollen Anziehungskraft. Aber erst, als ich nach London zog und mich in dieser riesigen Stadt wie ein Outsider und Fremder fühlte, begriff ich, worum es in diesen Filmen wirklich ging."
Sein Büro bei Jonathan Cape hat Robertson vor wenigen Monaten nach 27 Jahren geräumt. Er ist inzwischen 65 Jahre alt. Robertson erzählt von Walker, der in den Wochen und Monaten nach seiner Ankunft in Los Angeles Streifzüge durch die Altstadt unternimmt. Walker sieht die Bulldozer und Bagger, die den ständigen Wandel der Stadt vorantreiben. Er beobachtet die Filmcrews auf den Straßen von Bunker Hill und begegnet abermals Robert Siodmak, der im Juni 1948 mit Burt Lancester und Yvonne De Carlo sein fatalistisches Melodram "Criss Cross" dreht.
Robertson erzählt von den Ausgestoßenen und Verlorenen, die Walker, der irgendwann einen Job als Reporter annimmt, auf seinen Streifzügen trifft, den Obdachlosen, die in der Skid Row hausen. Er erzählt von der Nachtseite des American Dream:
"Ich wollte auf Amerika sowohl als Ort eines unendlichen Versprechens blicken, der Erregung und des Glamours, aber auch, wie wir inzwischen wissen, als gescheitertes Empire. Nach Ende des zweiten Weltkriegs war Amerika bloßgestellt und geschwächt. Es war zutiefst traumatisiert."
Walker wird in Los Angeles zunehmend von den Erinnerungen an das Massaker in der Normandie überwältigt, dem er als einziger seiner Einheit entkommen ist. Von den Erinnerungen an eine verdrängte Schuld und an seine kanadische Heimat und die Frau, die er niemals wiedersehen wird.
"Man hat den Eindruck einer drohenden Apokalypse", sagt Robertson. "Ob diese real ist oder nicht, muss der Leser entscheiden."
(DW)

Robin Robertson: "Wie man langsamer verliert"
Aus dem Englischen von Anne Kristin Mittag
Hanser Verlag, München 2021
256 Seiten, 25 Euro

Sprecher*innen: Frank Arnold, Tonio Arango, Luise Wolfram und Joachim Schönfeld
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Ton: Andreas Stoffels
Redaktion: Dorothea Westphal

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