Ein Hammerschlag für die Regionalisierung Europas
Schottland bleibt zwar bei Großbritannien. Trotzdem sollte Brüssel das Streben einiger Regionen nach Unabhängigkeit ernst nehmen – auch wenn Europa diesmal mit einem blauen Auge davon gekommen ist, kommentiert Jörg Münchenberg.
Das schottische Referendum kommt einem Hammerschlag gleich. Auch wenn sich jetzt eine deutliche Mehrheit der Schotten für den Verbleib im britischen Königreich ausgesprochen hat. Spätestens seit den knappen Umfragewerten im Vorfeld dieser Volksbefragung ist klar – Europa wird sich dem wachsenden Separatismus in vielen Mitgliedstaaten stellen müssen.
Natürlich ist die Versuchung jetzt groß, die schottische Entscheidung schnell wieder abzuhaken. Schließlich ist nicht nur der britische Premierminister David Cameron an einem politischen GAU gerade noch so vorbei geschrammt. Auch Europa ist mit einem blauen Auge davon gekommen.
Doch nur ein paar Prozentpunkte mehr für die Befürworter einer Abspaltung und plötzlich hätte sich die politische Landkarte der EU grundlegend verschoben. Die Union hätte sich einer neuerlichen Erweiterungsdebatte stellen müssen, dabei knirscht es schon jetzt gewaltig in den Institutionen, weil die bestehenden Strukturen mit 28 Mitgliedstaaten und 28 Einzelinteressen hoffnungslos überfordert sind. Ein 29. EU-Mitgliedsland Schottland hätte den Apparat weiter gelähmt.
Was passiert in Südtirol und Katalonien?
Ganz abgesehen davon, dass auf die EU eine quälende wie langwierige Erweiterungsdebatte zugerollt wäre – mit ungewissem Ausgang, denn gerade Großbritannien, aber auch das sezessionsgeplagte Spanien wären hier sicherlich auf der Bremse gestanden.
Zugleich hätte aber auch Großbritannien nach seiner merklichen Schrumpfung deutlich an Gestaltungskraft in der EU verloren – der Austritt wäre wohl unvermeidlich gewesen. Und die vielen Separatisten innerhalb der EU, gleichgültig ob nun in Belgien, Spanien oder auch Norditalien, hätte ein „Yes" der Schotten merklich beflügelt.
Jetzt also ist Europa von diesem drohenden Erdbeben erst einmal verschont geblieben. Und muss sich doch den Realitäten stellen. Dazu gehört, dass Katalanen und Südtiroler weiterhin auf die eigene Unabhängigkeit pochen werden. Keine der Autonomiebewegungen wird von ihren Zielen lassen, nur weil sich jetzt die Schotten doch für den Verbleib im britischen Staatenverbund ausgesprochen haben.
Bemerkenswerte Renaissance des Nationalstaats
Zur Realität gehört aber auch: Entgegen dem Brüsseler Mantra, nur als Staatenverbund könne man sich in einer globalisierten Welt behaupten, hat der Nationalstaat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Renaissance erlebt. Und damit ja auch die europäische Sinnkrise mit ausgelöst.
Ja, mehr noch: Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich das soziale Gefälle nicht nur zwischen den Mitgliedsländern in Europa, sondern auch innerhalb einzelner Staaten selbst erheblich verschärft. Wovon dann letztlich auch die lokale Ebene profitiert hat. Nicht umsonst sind es oft die wohlhabenden Regionen, die sich vom Mutter- oder Vaterland lösen möchten. Allein schon, um der nationalen Umverteilung der Steuereinnahmen zu entgehen.
Was wiederum zu höchst widersprüchlichen Entwicklungen geführt hat. Dort der Nationalstaat, der immer mehr zentrale Gesetzgebung nach Brüssel abgeben muss. Andererseits die lauter werdende Forderung nach mehr Selbstbestimmung – nicht nur des Mitgliedslandes gegenüber der EU, sondern auch von der lokalen Ebene gegenüber der eigenen Hauptstadt oder Zentralregierung.
Mehr Rechte für die Regionen
Die Antworten auf diese Entwicklung aber müssen in erster Linie die Mitgliedstaaten selbst geben. Hier könnte die durch das Schottland-Referendum ausgelöste Debatte in Großbritannien eine Blaupause bieten. Mehr Rechte für die Regionen – bei Steuern und Abgaben etwa, aber auch politisch. Wenn es um die Mitbestimmung bei der Gesetzgebung oder politische Grundsatzentscheidungen geht.
Brüssel muss zugleich diesen Prozess begleiten. Gerade bei der Stärkung des Selbstbestimmungsprinzips in der EU, wie es die neue Kommission unter Jean Claude Juncker auch zugesagt hat. Eines aber ist dennoch absehbar: Das alles wird dauern, während die Fliehkräfte weiter an Europa zerren werden. Die Debatten um Loyalität und Solidarität dürften deshalb wohl auch in Zukunft schärfer ausfallen.