Referendum mit Folgen
Wenn sich die Schotten Ende der Woche für die Unabhängigkeit entscheiden, könnte das die politische Landschaft Rest-Großbritanniens heftig durchwirbeln. Mit einschneidenden Konsequenzen für Europa, meint der Journalist Martin Alioth.
Englands Vordenker, Meinungsmacher, Kolumnisten und Intellektuelle hätten sich in den letzten Monaten kreativ und leidenschaftlich mit der Lage ihrer Nation beschäftigen sollen. Stattdessen haben sie gebannt auf die Purzelbäume ihres Premierministers in der Europapolitik gestarrt – was möglicherweise demselben schalen Gefühl in der Magengegend entspringt.
Gehen wir einmal von der derzeit noch etwas gewagten Hypothese aus, dass Schottland sich am nächsten Donnerstag für den Austritt aus dem Vereinigten Königreich entscheide.
Ein dubioses Mandat
Zunächst hat dies die etwas absurde Konsequenz, dass der wahrscheinliche Sieger der britischen Parlamentswahl im nächsten Mai, der Labour-Vorsitzende Ed Miliband, für seine Wahl zum Premierminister auf die Stimmen schottischer Abgeordneter angewiesen ist. Er wäre somit nur ein knappes Jahr im Amt, mit einem dubiosen Mandat. Sobald der schottische Staat dann geboren wäre, verlöre er seine Mehrheit und müsste Neuwahlen ansetzen.
Sein Nachfolger, gewählt mit englischen, walisischen und nordirischen Stimmen, käme mit höchster Wahrscheinlichkeit aus dem konservativ-antieuropäischen Lager und würde schleunigst ein Referendum über den Austritt aus der Europäischen Union ansetzen. England wäre in der Zwischenzeit in Igelstellung gegangen, beleidigt über die Abfuhr aus Edinburgh, frustriert über die Ergebnisse der Scheidungsverhandlungen mit Schottland. Das ungeliebte Europa böte sich als Prügelknabe für diese zunehmende Isolation an, ein Austritt wäre mehr als wahrscheinlich.
Wales und Nordirland können sich die Unabhängigkeit nicht leisten
Wales und Nordirland, deren gemeinsame Bevölkerung weniger als ein Zehntel der englischen ausmacht, könnten diese Entwicklungen nur marginal beeinflussen. Sie hätten indessen eigene Sorgen nach einem schottischen Austritt: Wales will derzeit keine Unabhängigkeit und könnte sie sich auch gar nicht leisten. Also braucht es konstitutionelle Garantien, dass es im neuen Rumpfstaat nicht überfahren wird.
Das ökonomisch noch weniger lebensfähige Nordirland dagegen müsste sich mit einer waschechten Identitätskrise herumschlagen: Nordirlands protestantische Unionisten brauchen Schottland als Bezugspunkt und Bindeglied. Ihre Loyalität zur britischen Krone läuft über Schottland, mit dem sie Blut, Glaube und Kultur verbinden. Den Engländern misstrauen Nordirlands Protestanten mindestens ebenso sehr wie die irischen Katholiken.
Niemand weiß derzeit, wo diese tektonischen Platten dereinst zum Stillstand kommen, aber dass sie in Bewegung geraten sind, vermag niemand zu bestreiten – obgleich die Engländer die Augen davor verschließen. Es mag indessen durchaus sein, dass ein schottischer Alleingang lediglich Prozesse beschleunigt, die ohnehin schon stattfinden.
Die Rolle des Vereinigten Königreichs in der Welt ist im Umbruch. Natürlich haben britische Truppen schon in Afghanistan und im Irak eine Junior-Rolle für die Amerikaner gespielt. Aber die Kapazitäten wurden seither abgebaut, zurzeit fehlt gar ein einsatzfähiger Flugzeugträger.
Tiefschürfende Fragen über die eigene Identität
Das Unterhaus weigerte sich vor einem Jahr, einen Militäreinsatz in Syrien auch nur ins Auge zu fassen und weckte damit Zweifel an jeder künftigen Intervention. Es fehlt also nicht bloß an Gerät, sondern auch am Willen. Die Rhetorik britischer Premierminister bleibt vorläufig noch vollmundig, die Taten sind es nicht.
Das allein wäre schon ein ziemlicher Brocken zum Verdauen. Wenn nun auch noch die Spaltung des Königreichs dazukäme, dann werden die Engländer nicht umhin kommen, sich tiefschürfende Fragen über ihre eigene Identität und ihre Ziele zu stellen.
Der größere Staatsverband schirmte die kopfstärkste Nation des Vereinigten Königreichs bisher davor ab, nicht zuletzt, weil die Engländer naturgemäß nicht zu Gedankenspielereien neigen. Doch ein umgestülptes Umfeld wird diesen Widerständen kurzen Prozess machen.
Martin Alioth (Jahrgang 1954) ist 1984 aus seinem Geburtsort Basel nach Irland ausgewandert. Dort arbeitet er seither als Korrespondent für Rundfunk und Zeitungen, berichtet auch über das Vereinigte Königreich – u.a. für das Schweizer Radio SRF und die Neue Zürcher Zeitung/Neue Zürcher Zeitung am Sonntag. Vor seiner Auswanderung promovierte er über die Geschichte Straßburgs im Spätmittelalter und beschäftigte sich mit der Basler Stadtgeschichte im Auftrag des Historischen Museums Basel. Er lebt mit seiner Partnerin auf dem Lande, zusammen mit zwei Hunden, zwei Eselinnen und einem Kater.