Run auf den Schrebergarten

Erleben wir ein neues Biedermeier?

Parzellen einer Kleingartenanlage in einer Luftaufnahme.
Kommilitonen, für die der Schrebergarten früher der Inbegriff der Spießigkeit war, sitzen jetzt selbst dort. Was ist da los? © picture alliance / blickwinkel / Blossey
Überlegungen von Paul Stänner · 13.05.2022
Das eigene Fleckchen Grün. Für viele scheint der Kleingarten in Zeiten von Pandemie und Krieg der letzte friedliche Rückzugsort zu sein. Sind wir also auf dem besten Weg ein Volk der Kleinbürger zu werden, fragt der Journalist Paul Stänner.
Mehrere, ja erstaunlich viele Freunde und Freundespaare von mir, sind unter die Schrebergärtner gegangen. Mit einem kleinen Grundstück in Berlin, dem Stadtzentrum näher als dem Stadtrand, leicht zu erreichen. Noch als Studenten empfanden die meisten von ihnen solche Kleingärten – zusammen mit Heino-Schlagern und dem röhrenden Hirsch einer Schnapsmarke – als Inbegriff behäbiger Spießigkeit. Schlimmer ging‘s nimmer! Es sei denn in der DDR, die insgesamt als großflächiger Spießergarten angesehen wurde.
Seitdem hat sich viel verändert. Heino spielt mit einer Punkband, der Kräuterschnaps mit dem röhrenden Geweihträger ist wieder en vogue. Meine Kommilitonen sind 40 Jahre und zwei Kinder älter geworden, reden kaum noch über Politik und tauschen stattdessen Tipps aus, wo man noch an eine Parzelle kommen kann. Mit einem kleinen Häuschen und Hecke drumrum.

Der Kleinbürger in uns

Erleben wir ein neues Biedermeier? Ich höre mich um, ich lerne und ich finde, es gibt gute Gründe, den Kleinbürger in sich zu pflegen.

Da sind die Widerwärtigkeiten im Netz und im Leben: die zunehmende Rüpelhaftigkeit der Menschen. Laute Ballerspiele in der U-Bahn, wo Kinder auf ihren Handys ganze Bürgerkriege vom ersten bis zum letzten Massaker nachspielen.
Gegen die zunehmende Infantilisierung der Gesellschaft durch unzählige Kochshows, Talkshows, Schlagershows scheinen viele meiner Freunde in den fruchtbringenden Gesellschaften eine neue Form der abendlichen Entspannung gefunden habe, die nicht gleich in geistiger Umnachtung endet. Wie viel mehr Freude bereitet ein selbst gezogener Apfelbaum in der Maienblüte als ein Abend mit Bier und Chips vor der 87. Quizshow mit den immer gleichen Fernsehnasen?

Ein Ende der Krisen ist nicht in Sicht

Ein Baum verändert sich, die Fernsehunterhaltung nicht.

Zu den großen ungelösten Problemen – Umweltzerstörung, Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten – kommen die neuen: Krieg in der Ukraine, Abschied von der einst optimistischen Ostpolitik, Verteuerung von Lebensmitteln und Energie. Schicken wir Waffen oder ergeben wir uns stellvertretend für die Ukraine? Fragen über Fragen – und kein Ende in Sicht.
Womöglich sind sich gerade in diesem Punkt unsere Regierung auf der Bank und die Regierten im Garten näher, als sie selbst glauben. Was sie eint gegen die Sorgen und Langeweile des Lebens ist die kleingärtnerische Weltabgewandtheit, mit der sich das Kabinett und andere Schrebergärtner von den Unbilden des wirklichen Lebens entfernen.
Und wer weiß: Vielleicht ist Kanzler Scholz, wenn er von den Medien als abwesend empfunden wird, gerade wieder im Traditionsschrebergarten der Hamburger SPD auf der Parzelle „Hans Albers“ dabei, das bellizistische Unkraut auszujäten, das ihm hinterlistige Grüne unter die blassroten Radieschen gepflanzt haben.

Kleingärtner, die Partisanen der Selbstversorgung

Kleingärtnernde empfinden sich als Teil von etwas Größerem. Die Landwirtschaft wird wieder in die Stadt geholt. Urban Gardening lautet der Kampfruf. Sie sind die Vorhut des natürlichen Lebens, sind Partisanen der Selbstversorgung im Kampf gegen die von der EU subventionierten Großkonzerne.
Und sie retten nicht nur die Natur, sie schaffen auch eine neue Friedensordnung in Europa. Schon bilden sich Prepper-Gruppen und üben die Selbstversorgung mit Rapspflanzen und Weizen, um die fehlenden Importe aus der Ukraine zu ersetzen.
Sollte Wladimir Putin die Russen in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Berlin-Charlottenburg ebenfalls für sein Reich erlösen wollen, wird er an den deutschen Schrebergärtnern scheitern. Gestützt auf die unerschöpflichen Vorräte aus ihren Gärten werden sie Sanktionen schmieden, die ihn in die Knie zwingen werden.

Kleingärtner machen die Welt besser. Wünschen wir meinen Freunden einen starken Frühling.

Paul Stänner wurde in Ahlen in Westfalen geboren, hat in Berlin Germanistik, Theaterwissenschaft und Geschichte studiert. Er arbeitet als Rundfunkjournalist und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Agatha Christie in Greenway House“.

Paul Stänner im Porträt
© Deutschlandradio / Paul Stänner
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