Schreiben, das sich durch eine "genaue Sicht auf die Dinge" auszeichnet
Die Kraft der Sprache von Virginia Woolf habe sie immer begleitet und sei eine der größten Lektionen, die sie je bekommen habe, sagt die rumänische Schriftstellerin Carmen Francesca Banciu. Sie empfiehlt, Virginia Woolfs Buch "Die Wellen" zu lesen.
Holger Hettinger: Und heute sprechen wir über einen Roman von Virginia Woolf, einer britischen Schriftstellerin, die den letzten Rest des viktorianischen Muffs mit emanzipiertem Selbstbewusstsein und psychologisierender Hintergründigkeit hinweggepustet hat. Ihr Roman "Die Wellen" steht exemplarisch für diesen kraftvollen Aufbruch in die Moderne. "Die Wellen" ist 1931 entstanden, Abschluss und Höhepunkt der Werkgruppe von psychologisch durchwirkten Romanen der Schriftstellerin. Die Schriftstellerin Carmen-Francesca Banciu stammt aus Rumänien. Sie lebt seit 20 Jahren in Berlin und sie hat Virginia Woolfs "Die Wellen" als ihren Beitrag zu unserem europäischen Kanon ausgewählt. Schönen guten Tag, schön, dass Sie im Studio sind!
Carmen-Francesca Banciu: Danke für die Einladung, einen schönen Tag für Sie auch!
Hettinger: Frau Banciu, warum Virginia Woolf, warum "Die Wellen"?
Banciu: Ich habe Virginia Woolf sehr früh, denke ich … oder vielleicht: Ich hatte das Glück, ziemlich früh Virginia Woolf zu entdecken. Ich glaube, ich war noch nicht einmal 20 und schrieb an meinem ersten Roman und wusste irgendwie nicht, wie ich weiterkommen soll mit den Stimmen, die in meinem Roman da waren. Und plötzlich entdeckte ich ein Buch, was mir helfen konnte, mit diesen unterschiedlichen Stimmen zu arbeiten. Ich hatte damals schon Proust gelesen, also viel früher gelesen, aber die Kraft der Sprache von Virginia Woolf, die hatte ich nirgends sonst gefunden. Und das hat mich seitdem immer begleitet und ist eine der größten Lektionen, die ich je bekommen habe.
Hettinger: Drei Männer und drei Frauen auf der Suche nach ihrer Identität, ihrer Bestimmung und auch ihrer Stellung im Urteil ihres Umfeldes – das ist ja so etwas wie das Leitmotiv dieses Romans. Skizzieren Sie doch kurz, welchen Kriterien diese Auseinandersetzung mit sich selbst und mit den anderen folgt?
Banciu: Ja, es sind drei Männer und drei Frauen, aber am Anfang sind es sechs Kinder und es ist erstaunlich zu sehen, wie diese Kinder in ihrer Betrachtung der Welt und in der Betrachtung des Selbst und des Anderen eigentlich sehr viel schon wissen und sehr viel schon ausdrücken können und schon sehr früh begreifen, dass man die eigene Identität, dass das eine sehr komplizierte Angelegenheit ist: Einmal ist man selbst, einmal ist man selbst, indem man sich in dem Anderen spiegelt. Und das wird im Buch immer wieder deutlich und die Figuren, je älter sie werden, je mehr sie wissen, je öfter sie eine Trennung von sich selbst erleben, desto klarer wird ihnen, wie viele Identitäten eigentlich ein Mensch hat und wie unterschiedlich auch die Außenwelt einen betrachtet, dass da immer eine Kommunikation ist zwischen dem Betrachter und dem Betrachtenden und dass diese Kommunikation, die auch wellenartig ist, die eigentlich die Identität ausmacht. Es geht ja nicht nur um Menschen, es geht um alles: um Natur, um Umgebung, um Gegenstände. Es … zum Beispiel gibt es eine Stelle, wo Bernhard und Neville sich auf dem Feld bewegen. Erst ist Bernhard alleine, guckt sich das Feld an und dann kommt Neville dazu und er sagt, wie unterschiedlich ein Feld aussieht, wenn wir zusammen das Feld ansehen! Denn tatsächlich: Durch die Stimmung, es ändert sich die Stimmung, die Stimmung ändert den Blick und da kommt dann das zurück eben, was in uns das verändert. Und das ist das permanente Hin und Her. Und das kommt durchgehend vor.
Hettinger: Das ist lustig, fast als hätten wir es abgesprochen, aber es ist rein zufällig: Einen kleinen Ausschnitt aus diesem Roman "Die Wellen" von Virginia Woolf einfach auch noch mal, um diesen sehr speziellen Ton, dieses ganz spezielle sprachliche Parfum noch mal in sich aufzunehmen, genau jene Stelle von Bernhard und dem Acker:
Sprecherin, O-Ton "Die Wellen": Ich wünsche mir also nach dieser Schläfrigkeit im Licht der Gesichter meiner Freunde in vielen Facetten zu funkeln. Ich habe das sonnenlose Reich der Nicht-Identität durchschritten. Ein fremdartiges Land! Ich habe in meinem Augenblick der Befriedigung, in einem Augenblick alles auslöschender Befriedigung das Seufzen der Gezeiten gehört, wie sie kommen und gehen und sich über diesen Kreis von strahlendem Licht hinaus erstrecken. Jenseits vom Getrommel sinnloser Raserei. Ich habe einen Augenblick ungeheuren Friedens erlebt. Das ist vielleicht das Glück. Jetzt werde ich von stechenden Empfindungen wieder zurückgeholt, von Neugier, Habgier, ich bin hungrig, und dem unwiderstehlichen Begehren, ich selbst zu sein. Mir fallen Menschen ein, mit denen ich sprechen könnte: Louis, Neville, Susan, Jinny und Rhoda. Mit ihnen zusammen habe ich viele Seiten. Sie holen mich wieder aus der Dunkelheit zurück. Wir treffen uns Gott sei Dank heute Abend. Gott sei Dank brauche ich nicht allein zu sein!
Hettinger: Das ist eine Episode, dieser innere Monolog des Bernhard aus Virginia Woolfs "Die Wellen". Virginia Woolfs Buch wird oft gelobt, Frau Banciu, wegen seiner formalen Kühnheit, wegen der Montagetechnik, der sprachlichen Verdichtung, der psychologischen Tiefenzeichnung der Charaktere und ihrer Motive. Wie nehmen Sie das eigentlich aus der Perspektive der Schriftstellerin wahr?
Banciu: Ich weiß auch nicht, wie viel Montage da ist. Ich habe den Eindruck – oder wenigstens so vermittelt sie das –, dass sie durch die Welt geht, die Welt wahrnimmt und indem sie jedes einzelne Ding wahrnimmt und dafür eine Sprache, ein Wort findet, werden Dinge wahr, existieren sie. Und das ist etwas, was eigentlich Virginia Woolfs Schreiben auszeichnet, diese genaue Sicht auf die Dinge. Alle Dinge, die sie betrachtet, sind wichtig. Ob es eine Schnecke im Gras ist oder ob es der Schaum des Meeres auf dem Sand ist, der hinterlässt nicht nur Spuren, sondern auch Reste von kaputte Dinge, die das Meer hinschwemmen lässt. Alles nimmt sie sozusagen ans Licht, hebt sie hoch und betrachtet es. Und in dem Augenblick bekommen die Dinge eine Aura, eine Kraft, eine Leuchtkraft. Alles, was sie anschaut, leuchtet. Und alles, was sie anschaut, ist wichtig. Und wir, wir machen die Schritte mit und es wird uns eine Welt geschenkt. Und wenn wir lernen, nicht mit ihren Augen, sondern überhaupt zu schauen, dann sind wir reich, wir haben das Leben. Und ich glaube, das ist das Wichtigste, Allerwichtigste, was sie mit ihrem Werk geschaffen hat. Und dann kommt natürlich noch die Kunst dazu, die Genauigkeit dieser Beobachtungen in Worte zu fassen. Sie hat auch irgendwo … Eine Figur sagt, indem ich mit Worte die Dinge – ich zitiere jetzt ungenau, aber ungefähr –, indem ich den mit Worten den Schleier den Dingen entziehe, entdecke ich sie praktisch, aber auch wie viele Schichten und dass ich immer mehr … ich beobachte mehr, als ich wirklich ausdrücken kann. Und die Figuren, die wir im Buch erleben, mit der Zeit entdecken sie immer mehr und mit der Zeit können sie immer besser die Dinge ausdrücken, weil sie immer genauer sehen können. Es ist letztendlich etwas, was wir auch sonst aus der Philosophie oder ganz besonders aus dem Buddhismus lernen, im Hier und Jetzt zu sein. Denn wenn man hier und jetzt ist, dann hat man alles und man hat auch etwas sehr, sehr Wertvolles, was wir eigentlich verloren haben: Zeit.
Hettinger: Das Buch ist 1931 erschienen, wurde damals für seine Modernität gelobt. Ist es auch heute noch modern?
Banciu: Absolut. Es ist ein Buch, was ich denke für jeden ein großes Geschenk wäre, zu lesen. Weil wie gesagt: Es ist nicht ein Roman, es sind unzählige Romane eigentlich in diesem Buch. Denn die Welten, die dieser Roman öffnet für jeden Einzelnen, also wir, jeder Einzelne assoziiert dann plötzlich andere Dinge … Also, es entstehen Zeitblasen, wenn man zum Beispiel an eine Stelle kommt, wo – ich gebe ein Beispiel – diese Schnecke im Gras ist und sie sich dieser Schnecke nähert, diese Schnecke bekommt plötzlich so eine Bedeutung und fast jeder von uns hat eine andere Assoziation zu dieser Schnecke. Und in dem Moment geht das im Kopf los, also die Erinnerungen, die man selber hat, die kommen hoch. Dann bildet sich so eine Zeitblase, in der wir unser eigenes Leben praktisch wieder sehen, und dann gehen wir weiter. Und deswegen kann man auch dieses Buch oder sollte man es auch nicht einfach nur lesen, sondern ich denke, das ist ein Buch, wo man zwei, drei Seiten liest, und dann mal lebt, genau schaut um sich herum, seine eigene Welt und sein Umfeld entdeckt oder genauer beobachtet und erst später dann wieder weiter liest. Also, das ist etwas wie – ich will es natürlich nicht mit der Bibel vergleichen –, aber ich denke, ähnlich macht man es mit der Bibel: Man liest sie nicht einfach von Anfang bis Ende, sondern man liest, um dann wieder nachzudenken und zu, ja zu reflektieren oder es auf sich wirken lassen. Und das ist eigentlich, was mit den "Wellen" passiert, und das ist ein Buch, was, ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine Zeit geben wird, wo es nicht mehr aktuell sein wird. Denn diese Entdeckung des Lebens, die werden Menschen, solange es Menschen geben wird auf dieser Welt, wird es diese Entdeckung geben müssen, sonst gibt es kein Leben. Also, sonst gibt es kein eigenes Leben.
Hettinger: Eine Sache wollte ich noch ganz kurz ansprechen: Unsere Reihe heißt ja "Europäischer Kanon" und hier klingt ja mit, dass diese Bücher nicht nur als solche wichtig sind, sondern dass sie auch für etwas stehen, für etwas, was über ihren Inhalt und ihr Anliegen hinausreicht. Was macht Virginia Woolfs "Die Wellen" kanonisch?
Banciu: Es hilft jedem, sich selbst zu entdecken, kennenzulernen. Und seine nicht gesagte, nicht ausgesprochene Empfindungen und Entdeckungen und Abenteuer des Lebens einen Namen zu geben. So ein Buch muss zum Kanon gehören!
Hettinger: Vielen Dank! Das war die Schriftstellerin Carmen-Francesca Banciu in unserem "Europäischen Kanon" über Virginia Woolfs Roman "Die Wellen". Die jüngsten Bücher von Carmen-Francesca Banciu sind "Vaterflucht" sowie "Das Lied der traurigen Mutter", beide erschienen im Rotbuch Verlag. Ich danke Ihnen sehr für Ihren Besuch!
Banciu: Ich danke für die Einladung!
Carmen-Francesca Banciu: Danke für die Einladung, einen schönen Tag für Sie auch!
Hettinger: Frau Banciu, warum Virginia Woolf, warum "Die Wellen"?
Banciu: Ich habe Virginia Woolf sehr früh, denke ich … oder vielleicht: Ich hatte das Glück, ziemlich früh Virginia Woolf zu entdecken. Ich glaube, ich war noch nicht einmal 20 und schrieb an meinem ersten Roman und wusste irgendwie nicht, wie ich weiterkommen soll mit den Stimmen, die in meinem Roman da waren. Und plötzlich entdeckte ich ein Buch, was mir helfen konnte, mit diesen unterschiedlichen Stimmen zu arbeiten. Ich hatte damals schon Proust gelesen, also viel früher gelesen, aber die Kraft der Sprache von Virginia Woolf, die hatte ich nirgends sonst gefunden. Und das hat mich seitdem immer begleitet und ist eine der größten Lektionen, die ich je bekommen habe.
Hettinger: Drei Männer und drei Frauen auf der Suche nach ihrer Identität, ihrer Bestimmung und auch ihrer Stellung im Urteil ihres Umfeldes – das ist ja so etwas wie das Leitmotiv dieses Romans. Skizzieren Sie doch kurz, welchen Kriterien diese Auseinandersetzung mit sich selbst und mit den anderen folgt?
Banciu: Ja, es sind drei Männer und drei Frauen, aber am Anfang sind es sechs Kinder und es ist erstaunlich zu sehen, wie diese Kinder in ihrer Betrachtung der Welt und in der Betrachtung des Selbst und des Anderen eigentlich sehr viel schon wissen und sehr viel schon ausdrücken können und schon sehr früh begreifen, dass man die eigene Identität, dass das eine sehr komplizierte Angelegenheit ist: Einmal ist man selbst, einmal ist man selbst, indem man sich in dem Anderen spiegelt. Und das wird im Buch immer wieder deutlich und die Figuren, je älter sie werden, je mehr sie wissen, je öfter sie eine Trennung von sich selbst erleben, desto klarer wird ihnen, wie viele Identitäten eigentlich ein Mensch hat und wie unterschiedlich auch die Außenwelt einen betrachtet, dass da immer eine Kommunikation ist zwischen dem Betrachter und dem Betrachtenden und dass diese Kommunikation, die auch wellenartig ist, die eigentlich die Identität ausmacht. Es geht ja nicht nur um Menschen, es geht um alles: um Natur, um Umgebung, um Gegenstände. Es … zum Beispiel gibt es eine Stelle, wo Bernhard und Neville sich auf dem Feld bewegen. Erst ist Bernhard alleine, guckt sich das Feld an und dann kommt Neville dazu und er sagt, wie unterschiedlich ein Feld aussieht, wenn wir zusammen das Feld ansehen! Denn tatsächlich: Durch die Stimmung, es ändert sich die Stimmung, die Stimmung ändert den Blick und da kommt dann das zurück eben, was in uns das verändert. Und das ist das permanente Hin und Her. Und das kommt durchgehend vor.
Hettinger: Das ist lustig, fast als hätten wir es abgesprochen, aber es ist rein zufällig: Einen kleinen Ausschnitt aus diesem Roman "Die Wellen" von Virginia Woolf einfach auch noch mal, um diesen sehr speziellen Ton, dieses ganz spezielle sprachliche Parfum noch mal in sich aufzunehmen, genau jene Stelle von Bernhard und dem Acker:
Sprecherin, O-Ton "Die Wellen": Ich wünsche mir also nach dieser Schläfrigkeit im Licht der Gesichter meiner Freunde in vielen Facetten zu funkeln. Ich habe das sonnenlose Reich der Nicht-Identität durchschritten. Ein fremdartiges Land! Ich habe in meinem Augenblick der Befriedigung, in einem Augenblick alles auslöschender Befriedigung das Seufzen der Gezeiten gehört, wie sie kommen und gehen und sich über diesen Kreis von strahlendem Licht hinaus erstrecken. Jenseits vom Getrommel sinnloser Raserei. Ich habe einen Augenblick ungeheuren Friedens erlebt. Das ist vielleicht das Glück. Jetzt werde ich von stechenden Empfindungen wieder zurückgeholt, von Neugier, Habgier, ich bin hungrig, und dem unwiderstehlichen Begehren, ich selbst zu sein. Mir fallen Menschen ein, mit denen ich sprechen könnte: Louis, Neville, Susan, Jinny und Rhoda. Mit ihnen zusammen habe ich viele Seiten. Sie holen mich wieder aus der Dunkelheit zurück. Wir treffen uns Gott sei Dank heute Abend. Gott sei Dank brauche ich nicht allein zu sein!
Hettinger: Das ist eine Episode, dieser innere Monolog des Bernhard aus Virginia Woolfs "Die Wellen". Virginia Woolfs Buch wird oft gelobt, Frau Banciu, wegen seiner formalen Kühnheit, wegen der Montagetechnik, der sprachlichen Verdichtung, der psychologischen Tiefenzeichnung der Charaktere und ihrer Motive. Wie nehmen Sie das eigentlich aus der Perspektive der Schriftstellerin wahr?
Banciu: Ich weiß auch nicht, wie viel Montage da ist. Ich habe den Eindruck – oder wenigstens so vermittelt sie das –, dass sie durch die Welt geht, die Welt wahrnimmt und indem sie jedes einzelne Ding wahrnimmt und dafür eine Sprache, ein Wort findet, werden Dinge wahr, existieren sie. Und das ist etwas, was eigentlich Virginia Woolfs Schreiben auszeichnet, diese genaue Sicht auf die Dinge. Alle Dinge, die sie betrachtet, sind wichtig. Ob es eine Schnecke im Gras ist oder ob es der Schaum des Meeres auf dem Sand ist, der hinterlässt nicht nur Spuren, sondern auch Reste von kaputte Dinge, die das Meer hinschwemmen lässt. Alles nimmt sie sozusagen ans Licht, hebt sie hoch und betrachtet es. Und in dem Augenblick bekommen die Dinge eine Aura, eine Kraft, eine Leuchtkraft. Alles, was sie anschaut, leuchtet. Und alles, was sie anschaut, ist wichtig. Und wir, wir machen die Schritte mit und es wird uns eine Welt geschenkt. Und wenn wir lernen, nicht mit ihren Augen, sondern überhaupt zu schauen, dann sind wir reich, wir haben das Leben. Und ich glaube, das ist das Wichtigste, Allerwichtigste, was sie mit ihrem Werk geschaffen hat. Und dann kommt natürlich noch die Kunst dazu, die Genauigkeit dieser Beobachtungen in Worte zu fassen. Sie hat auch irgendwo … Eine Figur sagt, indem ich mit Worte die Dinge – ich zitiere jetzt ungenau, aber ungefähr –, indem ich den mit Worten den Schleier den Dingen entziehe, entdecke ich sie praktisch, aber auch wie viele Schichten und dass ich immer mehr … ich beobachte mehr, als ich wirklich ausdrücken kann. Und die Figuren, die wir im Buch erleben, mit der Zeit entdecken sie immer mehr und mit der Zeit können sie immer besser die Dinge ausdrücken, weil sie immer genauer sehen können. Es ist letztendlich etwas, was wir auch sonst aus der Philosophie oder ganz besonders aus dem Buddhismus lernen, im Hier und Jetzt zu sein. Denn wenn man hier und jetzt ist, dann hat man alles und man hat auch etwas sehr, sehr Wertvolles, was wir eigentlich verloren haben: Zeit.
Hettinger: Das Buch ist 1931 erschienen, wurde damals für seine Modernität gelobt. Ist es auch heute noch modern?
Banciu: Absolut. Es ist ein Buch, was ich denke für jeden ein großes Geschenk wäre, zu lesen. Weil wie gesagt: Es ist nicht ein Roman, es sind unzählige Romane eigentlich in diesem Buch. Denn die Welten, die dieser Roman öffnet für jeden Einzelnen, also wir, jeder Einzelne assoziiert dann plötzlich andere Dinge … Also, es entstehen Zeitblasen, wenn man zum Beispiel an eine Stelle kommt, wo – ich gebe ein Beispiel – diese Schnecke im Gras ist und sie sich dieser Schnecke nähert, diese Schnecke bekommt plötzlich so eine Bedeutung und fast jeder von uns hat eine andere Assoziation zu dieser Schnecke. Und in dem Moment geht das im Kopf los, also die Erinnerungen, die man selber hat, die kommen hoch. Dann bildet sich so eine Zeitblase, in der wir unser eigenes Leben praktisch wieder sehen, und dann gehen wir weiter. Und deswegen kann man auch dieses Buch oder sollte man es auch nicht einfach nur lesen, sondern ich denke, das ist ein Buch, wo man zwei, drei Seiten liest, und dann mal lebt, genau schaut um sich herum, seine eigene Welt und sein Umfeld entdeckt oder genauer beobachtet und erst später dann wieder weiter liest. Also, das ist etwas wie – ich will es natürlich nicht mit der Bibel vergleichen –, aber ich denke, ähnlich macht man es mit der Bibel: Man liest sie nicht einfach von Anfang bis Ende, sondern man liest, um dann wieder nachzudenken und zu, ja zu reflektieren oder es auf sich wirken lassen. Und das ist eigentlich, was mit den "Wellen" passiert, und das ist ein Buch, was, ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine Zeit geben wird, wo es nicht mehr aktuell sein wird. Denn diese Entdeckung des Lebens, die werden Menschen, solange es Menschen geben wird auf dieser Welt, wird es diese Entdeckung geben müssen, sonst gibt es kein Leben. Also, sonst gibt es kein eigenes Leben.
Hettinger: Eine Sache wollte ich noch ganz kurz ansprechen: Unsere Reihe heißt ja "Europäischer Kanon" und hier klingt ja mit, dass diese Bücher nicht nur als solche wichtig sind, sondern dass sie auch für etwas stehen, für etwas, was über ihren Inhalt und ihr Anliegen hinausreicht. Was macht Virginia Woolfs "Die Wellen" kanonisch?
Banciu: Es hilft jedem, sich selbst zu entdecken, kennenzulernen. Und seine nicht gesagte, nicht ausgesprochene Empfindungen und Entdeckungen und Abenteuer des Lebens einen Namen zu geben. So ein Buch muss zum Kanon gehören!
Hettinger: Vielen Dank! Das war die Schriftstellerin Carmen-Francesca Banciu in unserem "Europäischen Kanon" über Virginia Woolfs Roman "Die Wellen". Die jüngsten Bücher von Carmen-Francesca Banciu sind "Vaterflucht" sowie "Das Lied der traurigen Mutter", beide erschienen im Rotbuch Verlag. Ich danke Ihnen sehr für Ihren Besuch!
Banciu: Ich danke für die Einladung!