Johannes von Dalyatha: "Geistliche Reden"
Aus der syrisch-aramäischen Sprache übersetzt von Matthias Binder
Beuroner Kunstverlag, Beuron 2020
176 Seiten, 24 Euro
Johannes von Dalyatha: "Briefe"
Aus der syrisch-aramäischen Sprache übersetzt von Matthias Binder
Beuroner Kunstverlag, Beuron 2020
144 Seiten, 22 Euro
Suche nach dem Göttlichen in sich
10:52 Minuten
In vielen Religionen widmen Eremiten ihr Leben der inneren Einkehr und der Suche nach Erleuchtung. So wie einst der syrische Christ Johannes von Dalyatha. Seine Schriften aus dem achten Jahrhundert sind jetzt auf Deutsch erschienen.
Thorsten Jabs: Eremiten galten in allen großen Religionen als besondere Menschen, als Personen, die ihr Leben in der Abgeschiedenheit der Spiritualität gewidmet haben. Einer von ihnen war im achten Jahrhundert der Christ Johannes von Dalyatha, der in den Bergen der heutigen türkisch-irakischen Grenzregion gelebt hat. Von ihm sind Reden und Briefe erhalten, die auf Deutsch in zwei Büchern erschienen sind. Aus der syrisch-aramäischen Sprache hat sie der evangelisch-lutherische Pfarrer Matthias Binder von der Philipps-Universität Marburg übersetzt. Herr Binder, wie sind Sie dazu gekommen, sich mit Schriften syrischer Mystiker aus dem achten Jahrhundert zu beschäftigen? Was hat Sie daran so fasziniert?
Matthias Binder: Wie es dazu kam? Ich bin einfach gefragt worden. Man hat jemanden gesucht, der die Sprache kann und gerade Zeit hat. Aber natürlich habe ich es dann deswegen gemacht, weil es mich auch fasziniert und interessiert. Für mystische Themen habe ich mich aus historischer Sicht, auch persönlich, schon länger interessiert. Ich war eigentlich mehr vertraut mit der europäischen und mit der deutschen mittelalterlichen Mystik und habe es willkommen geheißen, dass ich mich auf die Weise auch einmal intensiver mit einem syrischen Mystiker beschäftigen konnte.
Nie gekannte Wahrnehmungen und Ruhezustände
Jabs: Bei dem Weg eines Eremiten geht es um den geistigen Weg, den er gewählt hat, den Weg eines Einsiedlers. Wir hören erst einmal ein Zitat aus einer Rede des Eremiten Johannes von Dalyatha.
"Wenn zu Beginn die Gnade auf den Einsiedler herabkommt, dann wirkt sie in ihm nie gekannte Wahrnehmungen, Ruhezustände, Tröstungen, und nach und nach erweitert sie seinen Intellekt mit Ruhezuständen, Heimsuchungen, wunderbaren Gesichten, Offenbarungen. So lange, bis er in die Wolke des göttlichen Lichts gehalten wird, von wo es kein Fortgehen gibt, und bis er auf die Strahlen des Lichts sieht, welche von der göttlichen Essenz her auf ihn scheinen, und selbst erstrahlt."
Jabs: Ein Zitat aus einer Rede Johannes von Dalyathas aus dem achten Jahrhundert. Herr Binder, ist der Einsiedler also auf der Suche nach Gott und dem Göttlichen in sich selbst?
Binder: Ja, natürlich. Da will er hin. Ich glaube, die Erfahrung ist so schön und so gut, dass das in sich einfach ein Grund ist, diesen Weg zu gehen. Allein wie ich das gerade gehört habe, habe ich auch schon ein bisschen wieder zu leuchten angefangen.
Den Geist frei bekommen für die Erfahrung Gottes
Jabs: Was mir beim Lesen der Übersetzung am meisten auffiel, ist, dass Johannes von Dalyatha sehr genau über Demut, Buße und Gebet geschrieben hat, über den Kampf gegen innere Dämonen wie Wollust und Völlerei und über die Liebe zu Gott und seinen Rückzug ins Alleinsein. Welche Vorbildfunktion hatte diese Suche zu seiner Lebenszeit oder kurz danach – und hat sie vielleicht noch heute?
Binder: Er ist selbst Vorbildern nachgefolgt, ganz klar, und andere sind ihm nachgefolgt. Also, nach allem, was wir wissen – das ist ja ganz schön wenig –, hat er einen Mitbruder gehabt, dem er ein geistlicher Vater gewesen ist und dem er dann manche Sachen aufgeschrieben hat. Er selbst wollte ja einerseits in der Einsamkeit sein, er wollte aber seinen Schüler nicht alleine lassen. Es war also gar nicht geplant, dass das viele Leute lesen, aber dieser Schüler hat dafür gesorgt, dass es viele lesen, sonst wäre es auch nicht überliefert worden.
Wie sehr das heute noch Nachfolger hat? Wir wissen ja, dass die Mönchsorden, die Nonnen in unserer Zeit sehr im Rückgang begriffen sind. Es gibt nur ganz wenig Neuaufbruch und ganz viel Rückgang. Es klingt ja erst mal attraktiv, wenn man das liest. Aber wahrscheinlich erscheint dann dieser Weg, der tatsächlich mit Demut und mit sehr viel Verzicht auch zu tun hat – man will ja seinen Geist frei bekommen für die Erfahrung Gottes – doch nicht so attraktiv. Man muss das wahrscheinlich erst erlebt haben, bevor man sagt, ich steige da tiefer ein.
Jabs: Beim Lesen der Briefe und Reden entstand bei mir auch ein wenig der Eindruck, dass dieser Weg sehr überhöht dargestellt wird. Einerseits wird immer die Demut herausgestellt, aber ist da auch die Einstellung dabei, den einzig wahren Weg zu Gott und Reinigung zu kennen?
Binder: Bei dieser Frage achte ich ja als lutherischer Christ genau drauf. Die Lutherischen haben es ja mit dem Mönchstum zeitweise nicht so gehabt und haben genau da sehr kritisch drauf gesehen. Ich kann bei Johannes eigentlich nicht sagen, dass ich irgendeinen Satz gefunden hätte: Wir sind hier die, die es besser machen, oder die, die es richtig machen. Sondern er kennt für sich keinen anderen Weg, aber er ist einfach fasziniert von diesem Weg, und deswegen geht er ihn. So kommt es mir vor, das ist mein Eindruck.
Sprachbilder machen die Schriften anschaulich
Jabs: Es wird sehr viel mit Bildern in den Reden und Briefen gearbeitet, etwa mit dem Bild des Meeres, dem Besen, der die Dämonen in einem wegfegt, oder dem Bild der Wohnung beziehungsweise des Hauses, so wie in der folgenden Passage:
"Selig, die ihre Seelen der Übung der Reinigung gewidmet haben, welche freimacht von unnatürlichen Abhängigkeiten. Sie haben sich auch zu einem Tempel erbaut, zu einer Ruhestatt, einer Wohnung für den, der die Ruhe ist und ein Hafen aller Welten."
Jabs: Machen solche Bilder die Texte auch heute noch verständlich?
Binder: Ja, sicher. Also, ich habe manchmal das Gefühl, wenn ich mit diesen Texten arbeite, dass die Prediger im Orient einfach bildreicher waren, und das ist sicher auch ihre Stärke.
Jabs: Konnten Sie beim Übersetzen die Bilder denn eins zu eins übernehmen, oder mussten Sie diese teilweise auch in eine neuere Form bringen, also dafür andere Bilder wählen, als die ursprüngliche Übersetzung es eigentlich hergegeben hat?
Binder: Soweit ich mich erinnern kann, musste ich bei den Bildern nicht so sehr nach Alternativen suchen, weil Bilder wiederum eingängig sind. Ich kann mich noch gut erinnern, das Bild mit dem "Schreibrohr", das sich da manchmal "gesträubt hat". Wir sagen halt: Die Feder hat sich gesträubt. Dann habe ich aber nachgelesen und geforscht und gefunden, dass man damals wahrscheinlich wirklich noch Rohr benutzt hat, also Schilfrohr. Da geht es ja um dieses Bild: Was der Eremit erlebt, kann man eigentlich gar nicht beschreiben, und die Feder sträubt sich dagegen. Na, ja, wir haben jetzt halt den Kuli heutzutage oder einen Bleistift, aber was das Bild bedeutet, versteht, glaube ich, doch jeder, wenn sich "das Schreibrohr sträubt".
Jabs: Und wo hatten Sie Probleme beim Übersetzen, was hat Ihnen größere Schwierigkeiten gemacht?
Binder: Ich habe mich lange gesträubt gegen das Wort "Intellekt". Nach der Lehre der Mystiker – das ist nicht nur bei den Syrern so, das ist bei den Griechen genauso gewesen und geht bis in den Westen –, sagt man: Der Intellekt ist es, der eigentlich Gott erfassen kann. Und ich glaube, heutzutage versteht man unter Intellekt doch etwas ganz anderes. Ich habe mich damit versöhnen müssen, dass ich aber kein günstigeres Wort finde. Also, auch da habe ich gar nicht so sehr umdenken müssen. Das muss man jetzt einfach dem Leser zumuten, mit solchen Begriffen dann zurechtzukommen.
Das Leuchten überträgt sich beim Übersetzen
Jabs: Haben Sie durch die Beschäftigung mit den Texten auch für sich persönlich etwas dazugewonnen, etwas, das Sie auch in Ihrem Berufsleben gebrauchen können oder auch im Privatleben?
Binder: Ja, beides. Es prägt einen natürlich, wenn man sich lange beschäftigt, nicht nur mit dem Text, sondern weil man ja dauernd weiß: Da schreibt ein Mensch, der sowas erlebt hat. Und das kann man nicht einfach abtun, das geht nicht. Man kann nicht sagen, der schreibt das nur so dahin. Deswegen wird man automatisch in Anspruch genommen.
Dieses Leuchten, das da manchmal herauskommt, das überträgt sich auf einen, schon alleine das, aber natürlich dann auch die Selbstbeobachtung: Wie ist das denn bei mir mit meinen Emotionen, wo werden die denn verdeckt von äußerlichen Dingen? Aber auch umgekehrt: Ich bin zum Beispiel zu dem Schluss gekommen, ich möchte nicht nur ein Christentum der Innerlichkeit pflegen, so wie es Johannes sehr beworben hat, sondern mein Christsein soll schon auch ein Hinausgehendes sein, wo man sich mit der Welt verbindet und mit den Menschen zusammenkommt.
Es kann sein, dass es nur für sich selbst ist, aber allein über diese Frage noch mal nachzudenken, löst ja was aus und macht ganz viel mit einem. Das wirkt sich dann auch mal in einer Predigt wieder aus. Über Dämonen habe ich noch nicht gepredigt, weil das einfach so abseits ist, obwohl ich für mich selbst mit dieser Vorstellung in dem Sinne, wie es Johannes meint, ganz gut leben kann.
Kampf gegen innere Dämonen
Jabs: Das heißt, dass ja auch heute eigentlich jeder Mensch mit inneren Dämonen leben muss beziehungsweise versucht, sie zu bekämpfen?
Binder: Genau, in diesem Sinne. Und es ist ja gar nicht so schlecht, wenn man das auch mal nach außen projiziert und sagt: Die Wollust, die Völlerei, die brechen gerade über mich herein. Da kann ich eine aktivere Rolle einnehmen, um entweder dagegen vorzugehen, oder ich würde auch sagen, zu versuchen, das irgendwie zu integrieren in mein Leben.
Jabs: Glauben Sie, durch das Lesen solcher alten Texte kann es auch helfen, heutzutage dagegen ein wenig vorzugehen?
Binder: Ja, ganz bestimmt. Also, es wird einem sehr, sehr klar, um was es eigentlich gehen könnte. Es wird einem klar, dass manche Dinge nicht die eigentlichen Dinge sind, und dann relativiert sich manches von selbst. Das ist ganz gewiss so.
Jabs: Dafür muss man heutzutage wahrscheinlich auch nicht unbedingt ein Eremit sein.
Binder: Muss man ganz bestimmt nicht. Manchmal beneide ich die Eremiten, die dem so ganz ihr Leben widmen, und manchmal muss ich nicht unbedingt einer sein. Meistens bin ich ganz froh drum.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.