Schriftsteller Andruchowytsch fordert Boykott der Fußball-EM

Juri Andruchowytsch im Gespräch mit Frank Meyer |
Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch hat dazu aufgefordert, die Fußball-Europameisterschaft 2012 in seinem Land zu boykottieren. Er könne sich kein Fußballfest in einem Land mit politischen Häftlingen vorstellen, sagte er.
Frank Meyer: Sogar Russland hat protestiert, genau wie die USA und die Europäische Union angesichts des Prozesses gegen die frühere ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. Neben der Premierministerin sitzt eine ganze Reihe von früheren Regierungsmitgliedern im Gefängnis, viele Beobachter sprechen davon, dass der heutige Präsident Viktor Janukowitsch nun Rache nimmt an seinen politischen Gegnern. Über die Lage in der Ukraine wollen wir reden mit einem der wichtigsten Schriftsteller dieses Landes, mit Juri Andruchowytsch. Herr Andruchowytsch, seien Sie uns willkommen!

Juri Andruchowytsch: Ja, guten Tag!

Meyer: Herr Andruchowytsch, Sie sind selbst erst vor wenigen Wochen wieder in die Ukraine zurückgekehrt. Was haben Sie denn da für eine politische Stimmung vorgefunden in dem Land?

Andruchowytsch: Ja, Sie kennen natürlich diese Jahreszeit, das ist August, und die Stimmung ist irgendwie in Urlaubskategorien zu betrachten, also Hitze, und sehr viele Leute sind einfach irgendwo am Meer, Strand und sind weg, und das ist natürlich die beste Zeit, solche politischen Verhaftungen zu organisieren, wie wir sie jetzt in der Ukraine haben. Die Stimmung in Bezug zu dem Timoschenko-Prozess und auch zu anderen politischen Prozessen in diesem Land ist fast eindeutig, also niemand denkt und versteht diese Prozesse in Kategorien des Rechts. Alle verstehen ganz klar, dass das völlig politisch motiviert ist.

Meyer: Und dahinter steht tatsächlich, was manche meinen, Rache an den politischen Gegnern seitens der jetzigen politischen Führung?

Andruchowytsch: Zum großen Teil so, dahinter steht die Rache, aber dahinter steht auch die Tatsache, dass es in der Ukraine schon im nächsten Jahr die nächsten parlamentarischen Wahlen gibt, und dass die Unterstützung, die Popularität der herrschenden Partei sehr, sehr, sehr tief gesunken ist. Also die ganze Tätigkeit, die ganze Aktivität von dieser Partei ist außergewöhnlich erfolglos, und die Herrschenden wollen heute, die Machthaber in der Ukraine, die wollen irgendwie ihre politischen Gegner beseitigen. Also diese politischen Prozesse, die spielen auch solche präventive Rolle, die Konkurrenten zu beseitigen.

Meyer: Erleben wir da so etwas, so einen Versuch, eine Art gelenkte Demokratie in der Ukraine zu etablieren, wie wir das aus Russland kennen zurzeit?

Andruchowytsch: Das ist eine Art vom russischen Modell. Ich denke, das ist so etwas, was leider uns zurück in diese sogenannte ostslawische Gemeinschaft gebracht hat. Ich meine jetzt die politische Kultur und die politischen Modelle Russlands und, noch schlimmer, Weißrusslands. Die ukrainische Gesellschaft aber ist für die ukrainische Macht etwas, was viel komplizierter ist.

Meyer: Herr Andruchowytsch, wir haben uns einige Interviews von Ihnen angesehen aus den letzten Jahren und da ist sehr interessant zu sehen, wie Sie nach der Orangenen Revolution, auch einige Zeit danach noch voller Hoffnung waren und gesagt haben, dass die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, große Fortschritte gemacht habe, auch, dass ein Bewusstsein in der Bevölkerung da sei. Ja, auch was man erreichen kann, politisch erreichen kann durch Massenproteste, dass man eine Regierung auch stürzen kann im eigenen Land. Haben Sie all diese Hoffnung inzwischen wieder verloren?

Andruchowytsch: Nicht völlig, aber das, was ich jetzt beobachte, ist wirklich traurig, weil ich finde diesen heutigen Zustand der Gesellschaft, na ja, der ist viel, viel pessimistischer. Also, das bedeutet, die Situation im Jahr 2005 oder 2006 sah viel besser aus, die Gesellschaft war viel aktiver. Jetzt herrscht solche Urlaubsstimmung. Ich verwende jetzt diesen Begriff nicht nur für die konkrete Jahreszeit, aber es scheint mir so, als ob alle auf irgendwelche neuen politischen Autoritäten warten. Und es gibt keinen Politiker heute im Land, der mehr Vertrauen als Nicht-Vertrauen hat, also alle Akteure auf unserer politischen Szene sind eigentlich von der Gesellschaft missvertraut.

Meyer: Aber was ist da passiert, also muss man sagen, dass die politische Elite der Ukraine, also die gesamte politische Elite diesen Demokratiegewinn der Orangenen Revolution verspielt hat? Auch die Symbolfiguren der Revolution selbst, Julia Timoschenko und Viktor Juschtschenko - haben sie diese Revolution verspielt?

Andruchowytsch: Ja, absolut, besonders der ehemalige Präsident.

Meyer: Viktor Juschtschenko meinen Sie.

Andruchowytsch: Ja. Übrigens schweigt er bezüglich der Lage, die wir heute haben. Er ist überhaupt verschwunden, man sagt, er sitzt in den USA, und kein Wort von ihm, wie auch von dem aktuellen Präsidenten. Herr Janukowitsch verbringt seinen Urlaub auch auf der Krim und sagt kein einziges Wort. Also, er ist schon in den letzten Tagen nach der Verhaftung von Timoschenko, er ist vielmals auch von westlicher Seite gefragt worden, er hat zum Beispiel einen offenen Brief von dem tschechischen Präsidenten bekommen, und er schweigt. Er hat so vielleicht die einfachste Methode für sich gefunden, alles zu ignorieren. Und die einzige lebendige Figur bleibt immer noch Julia Timoschenko, sie kämpft in ihrem Gerichtsprozess, sie macht das manchmal sehr arrogant, aber sie unterzeichnet mit ihrem Benehmen, dass der ganze Prozess auch völlig brutal, gefälscht und politisch motiviert ist.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir reden über die Lage in der Ukraine mit dem Schriftsteller Juri Andruchowytsch. Sie haben ja gerade von dieser politischen Urlaubsstimmung in der Ukraine gesprochen, dem Warten auf neue Führungsfiguren. Es gab einen Aufruf in der westukrainischen Stadt Lviv ein Aktionsausschuss hat da zum Widerstand gegen die Diktatur aufgerufen, weil durch Janukowitschs Politik die Demokratie praktisch eliminiert sei, so heißt es in diesem Aufruf. Und da wurde auch wieder zu Massendemonstrationen auf dem Kiewer Maidan aufgerufen wie damals bei der Orangenen Revolution. Können Sie sich denn vorstellen, dass es solche Massendemonstrationen in der heutigen Lage in der Ukraine wieder geben könnte?

Andruchowytsch: Heutzutage nicht. Also ich sehe heute auf der Hauptstraße in Kiew in der Nähe von Maidan, ich sehe, na ja, ein paar hundert Aktivisten, die Julia Timoschenko im Gericht unterstützen; es gibt mehr oder weniger auch so viele quasi Gegner von Julia Timoschenko, die von der regierenden Partei bestellt sind, die Leute, die sozusagen eine Gegenmanifestation dort vorstellen sollen - und das ist alles. Ich denke, das bedeutet nicht, dass die Leute einfach völlig gleichgültig sind, ich denke, die echten Proteste müssen noch ausreifen. Und es geht natürlich um die weitere Entwicklung, wie wird endlich die Entscheidung in diesem politischen Prozess, in anderen Prozessen, und nicht in der letzten Reihe, wie wird sich die ökonomische Lage in der Ukraine entwickeln? Die Prognosen sind unglaublich schlecht, und die heutige Regierung kann nur etwas völlig Unprofessionelles tun, sie können nicht gegen die wirtschaftliche Krise helfen.

Meyer: Und was, sagen Sie, was sollte die Europäische Union zum Beispiel in dieser Situation tun? Die EU hat ja jetzt gegen die Verhaftung von Julia Timoschenko protestiert, aber sonst verhält sich die EU relativ still angesichts der Vorgänge in der Ukraine. Was erwarten Sie da?

Andruchowytsch: Ich denke, die allgemeine Linie von der EU ist völlig richtig, die Ukraine steht unter Kontrolle dieser Institution. In diesem Sinne sind wir auch ein Teil Europas. Teilweise sind wir das, weil Europa und Europäische Union immer ein Argument in politischem Streit bei uns ist, und die Meinungen, die Äußerungen von europäischer Seite sind nicht nur für die Politiker bei uns wichtig. Die sind auch für die ganze Gesellschaft sehr wichtig. Also die Leute in ihren Kommentaren appellieren die ganze Zeit an Europa: Was sagt die Europäische Union, wie reagiert die Europäische Union? Ich finde aber, eine ganz effektive Methode wäre zum Beispiel, die Initiative, die europäische Fußballmeisterschaft in der Ukraine zu boykottieren im nächsten Jahr, weil ich kann mir nicht so ein Fußballfest in einem Land vorstellen, wo gleichzeitig die politischen Häftlinge sind. Und in diesem Sinne wird Ukraine nicht mehr ein Teil Europas - und ich finde, diese Perspektive wäre für die ukrainischen Machthaber heute sehr uneffektiv.

Meyer: Das würden Sie allen Ernstes fordern? Die UEFA soll die Fußball-Europameisterschaft 2012 absagen?

Andruchowytsch: Die UEFA wird natürlich keine politische Motivation äußern, aber ich denke, nicht die UEFA, sondern die Öffentlichkeit, die einzelnen Akteure auch in diesem Bereich, im Sportbereich, die können irgendwie auf die heutige Lage reagieren und sie können diese Lage beeinflussen.

Meyer: Die Fußball-Europameisterschaft 2012 in der Ukraine, die auch in Polen stattfindet, aber in der Ukraine sollte sie boykottiert werden, das fordert der Schriftsteller Juri Andruchowytsch. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Andruchowytsch: Danke auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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