Surreale Ideen und bizarre Gestalten
César Aira gilt in seiner Heimat Argentinien als Kult-Schriftsteller, dessen Bücher von einer treuen Leserschaft hochgeschätzt werden. In letzter Zeit wächst auch im Ausland das Interesse an seiner surrealen Prosa: Aira steht auf der Short List des Man Booker International Prize, der am 18. Mai in London verliehen wird.
Die besten Momente des Tages sind frühmorgens und spätabends, sagt César Aira. Morgens gegen sechs nimmt er sein Fahrrad und fährt zwei Stunden durch das noch einigermaßen ruhige Buenos Aires. Und abends, pünktlich um halb zehn, genehmigt er sich einen Whisky. Dazwischen schreibt Aira – aber niemals zuhause, sondern in den Cafés von Flores, seinem Stadtteil. Mit Heft und Füllfederhalter, und nicht mehr als ein paar Stunden täglich.
"Wichtig ist für mich, immer weiter zu schreiben. Ich war kürzlich zwei Wochen in New York und habe dort fast nichts zu Papier gebracht. Diese Stadt ist wunderbar, dachte ich, aber ich will zurück nach Flores, in meine Cafés, und wieder schreiben."
Weil die Cafés von Buenos Aires nicht gerade leise sind, findet das Treffen mit César Aira in einem ruhigen Kulturzentrum statt. Der 66-Jährige wirkt scheu, ein wenig zerstreut. Er trägt ein schlabbriges T-Shirt und Schuhe mit roten Schnürsenkeln. Mit diesen Schuhen läuft Aira viel durch die Stadt, schaut, nimmt Orte in sich auf, von denen sich manche später in seinen Erzählungen wiederfinden. Aber am Anfang, sagt der Schriftsteller, steht nie der Ort, sondern die Idee.
"Ich habe die Idee für eine Geschichte, und erst dann überlege ich mir einen Ort: das kann mein Viertel Flores sein, aber auch China, irgendein exotisches Land, oder Coronel Pringles, der Ort auf dem Land, an dem ich meine Kindheit verbrachte. Niemals überlege ich mir am Anfang die ganze Handlung. Vielmehr beginne ich zu improvisieren, und schaue, wohin mich meine Phantasie trägt."
Dabei setzt sich César Aira keinerlei Grenzen, schreckt vor überraschenden inhaltlichen Abschweifungen, stilistischen Brüchen und Genre-Wechseln nicht zurück. In Airas Erzählungen finden sich unterschiedliche Einflüsse, darunter Essays oder Zeichentrickfilme. Der Argentinier erfindet sich immer wieder neu, kein Buch ist wie das andere. Und das ist ihm auch wichtig:
"Ich bin ständig dabei, literarisch neue Wege zu gehen. Ich würde mich langweilen, wenn ich immer das gleiche schreiben würde. 'Literarischer Außenseiter' oder 'Freak' oder 'seltsamer Schriftsteller' genannt zu werden, das stört mich nicht. Das Gegenteil von seltsam ist doch: konventionell, genau wie alle anderen. Wer will das schon sein? Ein Schriftsteller muss ein wenig, oder sogar sehr seltsam sein, wenn er etwas Neues schaffen will."
Typisch sind die Sprünge auf einer Meta-Ebene
Die Novelle "Wie ich Nonne wurde", jetzt im Verlag Matthes und Seitz erschienen, ist eines der seltsamen Bücher des César Aira. Die Anfangsszene – ein Kind ekelt sich vor seinem Erdbeereis – nimmt dramatische, geradezu epische Dimensionen an. Dann jagt ein Delirium des Ich-Erzählers, der mal ein Mädchen, mal ein Junge namens César Aira ist, das nächste. Bizarre Gestalten wie eine zwergwüchsige Gesundbeterin oder ein bettelarmer Nachbarjunge, der zugleich ein kostümiersüchtiger Dandy ist, bevölkern die Geschichte. Aira-typisch sind die Sprünge auf eine Meta-Ebene, auf der er Gedankenspiele und Reflexionen einflicht, die oft ins Absurde abgleiten.
"Es ist für mich ganz natürlich, so herum zu philosophieren, um es mal ironisch auszudrücken. Früher habe ich gedacht, dass das die Lektüre meiner Geschichten anstrengend macht. Also fing ich an, nebenbei Essays zu schreiben. Aber einige Freunde haben zu mir gesagt: nein, bleib lieber bei den philosophischen Einschüben in deinen Erzählungen. Und das mache ich."
Will man César Airas Prosa einen Stempel aufdrücken, dann würde "surreal" wohl am besten passen – der Schriftsteller selbst ist mit dieser Einordnung einverstanden. Aira, der auch Übersetzer französisch- und englischsprachiger Literatur ist, hat seine fast hundert Titel in großen und winzig kleinen Verlagen veröffentlicht. Die kleinen, unabhängigen Verlage liegen ihm besonders am Herzen. Manche von César Airas Büchern erscheinen in so geringen Auflagen, dass sie zu begehrten Sammlerstücken werden. Im Ausland ist das Interesse an Airas Werk in letzter Zeit gewachsen, jetzt ist der Argentinier für den britischen Man Booker International Preis nominiert. Doch von einem Aira-Boom will Aira nichts wissen:
"Es gibt einfach Verleger, die sich in meine Bücher verlieben. Sie bringen sie eher aus persönlichem Vergnügen heraus, denn Geld werden sie damit wohl nicht verdienen. Es ist wie eine Wette auf mich. Wenn es nach meinem Tod einmal heißt: Aira war ein Genie, können sie sagen: ich habe seine Bücher schon zu seinen Lebzeiten veröffentlicht."