Christoph Keller: Jeder Krüppel ein Superheld
Splitter aus dem Leben in der Exklusion
Limmat Verlag 2020
216 Seiten, 24 Euro
Vom "gehenden Ich" zum "rollenden Ich"
34:51 Minuten
Was heißt es, im Rollstuhl zu sitzen? Nicht nur behindert zu sein, sondern auch behindert zu werden? Christoph Keller erzählt davon in seinem neuen Buch "Jeder Krüppel ein Superheld".
Spinale Muskelatrophie (SMA) – eine erblich bedingte unheilbare Muskelerkrankung, die nach und nach die Muskeln lähmt: Damit lebt der 1963 geborene Schweizer Schriftsteller Christoph Keller seit seiner Jugend, ebenso wie seine beiden älteren Brüder.
Die Diagnose trifft den sportlichen Schüler auf dem Weg vom Tennisplatz: "Ich kam da mit vom Tennisracket schwitzenden Händen rein, und der Arzt – das war kein sensibler Mann – erklärt mir dann: Damit ist bald Schluss, mach dich mal gefasst auf ein Leben im Rollstuhl. Und das Beste sei eh, ich würde nur im Bett bleiben und versuchen, nicht rauszufallen."
Der Vater lehnt ihn als "Krüppel" ab
Christoph Keller versucht, so lange wie möglich einen normalen Alltag zu leben, doch die Treppen werden mühsamer, bald tragen ihn seine Mitschüler die Etagen in der Schule in St. Gallen hoch.
Mit 25 Jahren bekommt er seinen ersten Rollstuhl, wechselt aber noch zwischen seinem "gehenden Ich" und seinem "rollenden Ich" – und erfährt umso schärfer, wie sehr die Menschen um ihn herum auf seine Behinderung reagieren.
Besonders zu schaffen macht ihm die Reaktion seines Vaters: Der Mann, den er als kleines Kind so geliebt und bewundert hat, der manische Sammler – im Haus stapelten sich Münzsammlungen, unterm dem Dachfirst reihten sich 25 Kirchturmuhren! Dieser Vater, dem er seine Liebe zur Kunst verdankt, lehnt seine Söhne ab.
Hinzu kommt, dass der Vater mit seiner Metallwarenfirma Pleite geht, welche Schmach. Er beginnt zu trinken.
"Und dann ist er auch bösartig geworden, dann hat er die Welt verleugnet. Und damit meine ich seine Söhne. Dann hat er gesagt: `Einer wie ich hat keine Krüppel als Söhne. Meine Söhne sind gesund´. Und wenn das nicht mehr zu verleugnen war, oder die Stimmung in eine andere Richtung kippte, dann hat er einfach gesagt: `Das sind nicht meine Söhne´. Und das waren natürlich unerhörte Verletzungen."
Das Wort "Krüppel" als Schutzschild
Diese einschneidenden Erfahrungen beschreibt Christoph Keller in seinem Roman: "Der beste Tänzer" (2004), aber auch in seinem neuen Buch: "Jeder Krüppel ein Superheld - Splitter aus dem Leben in der Exklusion". Den Begriff "Krüppel" habe er bewusst gewählt:
"Ich nehme dieses Wort `Krüppel´ und eigne es mir an. Und dann könnt ihr es nicht mehr als Waffe gegen mich einsetzen, weil die Waffe habe ich euch aus der Hand genommen, habe sie entschärft und zur Symbolik des Stolzes gemacht. Und damit ist es ein Schutzschild."
In dem jüngsten Buch schildert Christoph Keller, der mittlerweile gänzlich auf einen Rollstuhl angewiesen ist, unmittelbar und schonungslos, was es heißt, nicht nur behindert zu sein, sondern behindert zu werden durch defekte Gehsteige, durch entwürdigende Prozeduren, um in ein Flugzeug zu gelangen, durch die entmündigenden Reaktionen beim Einkaufen, im Museum, im Restaurant, sowohl in der Schweiz, aber auch in den USA. Er lebte 22 Jahre mit seiner US-amerikanischen Frau in New York.
Donald Trump – der "wahnsinnige Clown"
Die USA hat er verlassen wegen Donald Trump. Auch das schildert er in seinem aktuellen Buch. Und dass er diesen "Wahnsinnigen", dieses "Biest", das davon lebe, dass man ständig von ihm rede, nie mit Namen nennen werde. Stattdessen belegt er ihn mit einer Suada an Adjektiven. Diese Passage liest er auch in unserer Sendung:
"Wenige vermochten sich vorzustellen, dass der aggressive, ausbeuterische, betrügerische, blöde, bösartige, demütigende, dummdreiste, fiese, gefühl- und herzlose, hinterhältige, ignorante, inkompetente, launenhafte, machtsüchtige, mafiose, megalomanische, mörderische, neidische, nepotistische, obszöne, paranoide, primitive, rachsüchtige, rücksichts- und schamlose, selbstsüchtige, sittenlose, überhebliche, unbarmherzige, verantwortungslose, verlogene, verräterische, vulgäre, wahnsinnige Clown ins mächtigste politische Amt dieser Welt gewählt werden könnte."
Heute lebt Christoph Keller mit seiner Frau und seinem Hund wieder in St. Gallen, im Haus seiner Eltern von 1912 – mit einem ebenso alten und verwunschenen Garten. Genau das richtige inspirierende Refugium in Corona-Zeiten.
(sus)