Es droht das Aussterben der deutschen Sprache
In unmittelbarer Zukunft könnte Englisch unsere Arbeits- und Deutsch nur noch die Privatsprache sein, mutmaßt der Schriftsteller Eugen Ruge. Denn: Durch die Globalisierung herrsche ein hoher kultureller Angleichungsdruck.
Frank Meyer: In 300 Jahren oder auch schon in 200 Jahren könnte die deutsche Sprache ausgestorben sein. Das hat der Sprachwissenschaftler Wolfgang Klein in einem Radiointerview gesagt und der Schriftsteller Eugen Ruge hat das gehört. Sie kennen vielleicht seinen Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" oder andere seiner Bücher. Eugen Ruge hat dieses mögliche Aussterben des Deutschen zum Thema einer Rede in Dresden gemacht, und wir wollen jetzt mit ihm über das Deutsche und seine, sagen wir es mal neutral, Überlebensperspektive sprechen. Seien Sie willkommen, Herr Ruge!
Eugen Ruge: Hallo!
Meyer: Diese Aussage von Wolfgang Klein eben zum möglichen Aussterben des Deutschen, die muss ja irgendwas berührt haben, was an Wahrnehmung oder Besorgnis in Ihnen schon geschlummert hat. Was war das denn, was da in Ihnen berührt wurde?
Ruge: Also vorher war natürlich schon so ein Unbehagen da, das kann ich nicht abstreiten. Aber das war so mehr, sagen wir mal, das allgemeine Gemecker darüber, dass eben Anglizismen zunehmen, dass angeblich gutes Deutsch verfällt. Das gab es schon, aber der Punkt ist, dass mich diese Meldung, dass die mich tatsächlich aufgeschreckt hat. Dann rechnet man mal nach, was heißt denn das, 300 Jahre. Wann hat denn Büchner, Goethe – Goethes "Werther", ich weiß nicht, 243 Jahre? Dann stellt man fest, na ja, das ist eigentlich ein Zeitraum, der ist sehr überschaubar. Und die Vorstellung, dass dann plötzlich die deutsche Sprache wie vielleicht irgendein Dialekt aus Papua-Neuguinea dann ist; die Bücher, die in Deutsch geschrieben sind, in irgendwelchen Kellern rumstehen und quasi nur noch von Experten entzifferbar sind. Das ist schon eine merkwürdige Vorstellung – besonders vielleicht für einen Schriftsteller. Das ist nicht nur eine Frage der Eitelkeit, dass man gern möchte …
Meyer: ... dass man auch in 300 Jahren noch gelesen wird …
Ruge: Dass man das, was man beschreibt, weitergeben möchte, das ist nicht nur Eitelkeit. Man schreibt natürlich nicht nur für sich selbst, nicht nur für das stille Kämmerchen, sondern man schreibt irgendwie auch für andere und auch für die Kommenden, ist klar, nicht?
Meyer: Sie beschreiben das auch so, dass das durchaus was Lähmendes hatte für Sie diese Perspektive, ja, vielleicht liest das irgendwann keiner mehr, weil das Deutsche als Literatursprache irrelevant geworden ist?
Ruge: Ja, das war in dem Augenblick so, ich habe das in der Rede, ich habe im Grunde eine Situation beschrieben in der Rede, die Situation war tatsächlich so, ich wollte diese Rede – Vorschlag zur Dresdner Rede – wollte ich eigentlich gar nicht halten und hörte dann wirklich zufällig am Morgen, nachdem die mich eingeladen hatten, höre ich im Deutschlandfunk also diese Meldung. Und dann saß ich da - jeden Vormittag sitze ich am Schreibtisch und versuche zu arbeiten -, dann ging mir das tatsächlich durch den Kopf: Jetzt schreibst du hier irgendwas, irgendwie perspektivlos. Und natürlich, wir wissen ja alle auch, dass irgendwann auch unsere Kultur möglicherweise untergeht und irgendwann ist auch die Sonne weg und irgendwann kollabiert wahrscheinlich …
Meyer: ... das ist die ganz lange Perspektive jetzt …
Ruge: Das ist die ganz lange Perspektive, das ist völlig klar, dass nichts für die Ewigkeit ist, das ist natürlich eine Banalität. Aber wenn man so einen überschaubaren Zeitraum vor Augen hat, ist das natürlich schon noch mal ein bisschen anders.
Ökonomische Gründe für die Verbreitung des Englischen
Meyer: Und warum das Deutsche jetzt überhaupt aussterben könnte, das wissen wir alle, Sie schreiben auch darüber, das hat sehr viel zu tun mit dem großen Vormarsch der heutigen Lingua franca, des Englischen. Und jetzt machen Sie aber auch so einen Dreh und schauen auf ökonomische Argumente, warum denn die Globalisierung, die Entwicklung der Weltwirtschaft dieses Englische so stark vorantreibt. Worauf sind Sie da gestoßen, was sind da ökonomische Gründe?
Ruge: Ich bin erst mal auf die ökonomischen Gründe gekommen, weil in einer Bemerkung beschreibt der Sprachwissenschaftler Wolfgang Klein, also der diese These mal formuliert hat, der schreibt an anderer Stelle über eine Forschung über Papua-Neuguinea. Und da ist es tatsächlich so, dass bestimmte Volksgruppen ihre Sprache aufgeben aus ökonomischen Gründen, weil sie sozusagen, um das ökonomische Überleben ihrer Nachkommen zu sichern, sprechen die dann eben so ein malaysisches Pidgin. Das war der Punkt, weil natürlich der Vormarsch des Englischen bei uns oder, man muss eigentlich sagen, des Amerikanischen bei uns, so würde ich es formulieren, das hat natürlich auch mit ökonomischen Gründen zu tun. Es hat eben zu tun mit der Globalisierung, mit dem Freihandel natürlich. Der Motor der Globalisierung ist ja ein ökonomischer Motor. Und man kann das finden, wie man will, aber durch eine Angleichung der Produktionsbedingungen und der Konsumptionsbedingungen und der Art und Weise, wie wir leben – dass natürlich dadurch auch ein kultureller Druck entsteht, ein kultureller Angleichungsdruck. Das manifestiert sich eben sehr stark in der Sprache, und das kann man, wenn man dann ein bisschen sich umhört und recherchiert, dann hört man ganz erstaunliche Sachen.
Englische Fantasienamen in der Sockenabteilung
Meyer: Zum Beispiel?
Ruge: Ja, zum Beispiel, dass so jemand wie Günther Oettinger, also wirklich kein Niemand, Kommissar bei der EU, ich weiß jetzt gerade im Augenblick nicht für was, aber der ist ja irgendwie immer Kommissar für irgendwas. Dass der zum Beispiel ganz im Ernst solche Thesen vertritt, dass in unmittelbarer Zukunft die Arbeitssprache in Deutschland und Europa überhaupt Englisch sein wird und sozusagen Deutsch so eine Sprache für den Hausgebrauch, für die Familie, zu so einer Privatsprache degradiert wird. Was natürlich ganz merkwürdig ist, denn wenn man jetzt zum Beispiel mal perspektivisch betrachtet, dass ja die Reihen der fehlenden deutschen Fachkräfte aufgefüllt werden sollen mit Menschen, die von anderswoher kommen. Wenn Englisch für die die Arbeitssprache ist, Deutsch brauchen sie dann nicht mehr zu lernen. Weil eine Privatsprache, eine Sprache für den Hausgebrauch besitzen sie bereits. Das ist jetzt nur ein Detail, da gibt es etliche Dinge. Der Peter Sloterdijk hat ja vor vielen Jahren diesen hübschen Satz formuliert: "Deutsch ist eine Sprache zum Bestellen von Socken in Taiwan", das ist absolut lächerlich inzwischen, obsolet inzwischen. Wenn Sie in die Sockenabteilung gehen, Sie finden nur irgendwelche englischen Fantasienamen für diese Produkte, finden kaum noch raus – wenn Sie nicht Englisch können – wie viel Baumwolle jetzt da drin ist oder irgendwas.
Meyer: Aber wenn man mal auf die andere Seite schaut, ist es nicht auch faszinierend, dass wir heute so eine Lingua franca haben und dass so viele Menschen in Deutschland sich mit so vielen Menschen, die von woanders herkommen, verständigen können, weil es eben so eine Sprache, die so viele Menschen auf dieser Welt miteinander teilen, dass es die gibt.
Ruge: Na ja, so etwas gab es eigentlich immer. Und das ist ja auch der Punkt. Ich will jetzt gar nicht in dieses allgemeine Gejammer mit einfallen, dass es eine Lingua franca möglicherweise gibt. Es gab das Lateinische, es gab im Grunde auch das Französische, der ganze russische Hof und alles, was sich für irgendwie gebildet hielt, sprach Französisch. Die Ehepaare in Russland sind ins Französische verfallen, sobald sie sich gestritten haben, weil man sich im Französischen als Ehepaar ja siezt. Es war in Deutschland ja genauso, Friedrich der Große, ich glaube, der konnte gar nicht richtig Deutsch.
Meyer: Oder hielt es zumindest für eine barbarische Sprache.
Ruge: Ich glaube, der konnte schlecht Deutsch, wenn ich mich recht erinnere. Das ist ja alles nicht neu, das gab es ja alles. Aber wenn man genauer hinguckt, dann ist eben etwas anderes im Gang. Es ist nicht die Tatsache, dass es eine Lingua franca gibt, das ist gar nicht der Punkt. Der Punkt ist tatsächlich, darüber rede ich, dass das Aussterben der Sprache droht. Mark Twain sagt so hübsch, Prognosen sind schwer, besonders für die Zukunft. Niemand weiß das, ob das tatsächlich so kommt. Und wenn es kommt, ob es nicht vielleicht in 500 Jahren kommt oder vielleicht schon ernsthaft in 100 bedrohlich wird, das weiß niemand, das ist ganz klar. Aber man kann ja nichts anderes machen, als Symptome zu sammeln, Anhaltspunkte zu sammeln, und sich dann versuchen, ein Bild zu machen.
Die Bedeutung von Koseworten in der Muttersprache
Meyer: Was sich auch durchzieht durch Ihr Nachdenken über deutsche Sprache, mögliches Aussterben, ist die Frage der Zuneigung zum Deutschen oder sogar der Liebe zur deutschen Sprache. Ganz interessant in dem Zusammenhang ist, dass Sie auch erzählen, dass Ihre Muttersprache ganz am Anfang nicht das Deutsche war, sondern das Russische. Dass Sie selbst aus einer anderen Sprache kommen, welche Auswirkungen hat das für ihr Nachdenken über das Deutsche?
Ruge: Ich spreche heute viel besser Deutsch als Russisch. Ich glaube, ich spreche einigermaßen Deutsch. Also, das ist klar, und trotzdem muss ich sagen, es fehlt mir etwas im Deutschen, etwas, das ich auch nie bekommen werde, nie zurückkriegen werde. Ich habe hier beschrieben zum Beispiel die russischen Koseworte meiner Mutter. Russische Koseworte lösen bis heute etwas in mir aus, was deutsche Koseworte nicht auslösen.
Meyer: Und kann man sagen, das schärft Ihren Blick dafür, was man verlieren würde auch mit deutschen Koseworten zum Beispiel?
Ruge: Es schärft den Blick dafür, was alles zur deutschen Kultur und zu dem, was weitergegeben wird von einer Generation an die andere, was das alles umfasst. Dazu gehören eben nicht nur Goethe und Schiller oder irgendwas. Sondern das fängt an bei Kinderreimen, bei Kinderliedern, das geht weiter mit Koseworten, auch schwer zu beschreiben und das ist, wie gesagt, auch nicht meine Profession, aber es ist ein Gefühl und eine Ahnung dafür, was das alles umfasst. Und dass eben das verlorengeht, wenn eine Sprache verlorengeht, dieses Gefühl habe ich vielleicht noch deutlicher angesichts der Tatsache, dass ich eben doch zweisprachig aufgewachsen bin. Ist auch ganz interessant zu beobachten, das sehe ich sowohl bei zweisprachigen russisch-deutschen, aber auch italienisch-deutschen Menschen, interessant ist es auch zu sehen, wie sich die Persönlichkeit eines Menschen plötzlich so ein bisschen verschiebt, wenn sie die Sprache wechseln. Sprache hat ja nicht nur einen sachlichen Inhalt, man sieht es angesichts solcher Ereignisse wirklich, was das bedeutet, was für ein enormer kultureller Faktor – oder nicht nur Faktor, wie Sprache mit Kultur und mit Lebenskultur, also nicht mit Kultur im Sinne von Kunst bloß, verbunden ist, eng verflochten ist.
Meyer: Und welche Wörter sind Ihnen dann im Deutschen zugeflogen, um die es Ihnen besonders leidtäte, wenn man diese Worte verlieren würde?
Ruge: Das war einfach so, als ich meinen Text dann anschaute, an dem ich gerade schrieb, da bin ich den einfach mal so durchgegangen und da fielen mir so ein paar gar nicht so besondere Worte auf: abgetragen zum Beispiel, ein abgetragener Anzug. Wenn das versucht, zu übersetzen - worn out suit oder so etwas kriegt man da im Englischen. Was jetzt nicht heißen soll, um Gottes willen, dass die englische Sprache nicht auch reich ist und Ausdrucksmöglichkeiten hat und so weiter. Aber natürlich ist es so, dass die Besonderheiten jeder Sprache, die schwer übertragbaren, das weiß ich auch als Übersetzer, die schwer übertragbaren Sachen, die machen gerade den Reichtum und die Schönheit einer Sprache aus, gerade das. Und da gab es ein paar Beispiele, die mir sofort im Text ins Auge fielen. Wäre schade, wenn das also weg wäre. Es gibt eine ganze Menge Dinge, um die es mir leidtäte, nicht nur meine ganz persönlichen Hinterlassenschaften – Bücher oder meinetwegen auch Reden.
Meyer: Dann möge das Aussterben der deutschen Sprache länger dauern als 200 oder 300 Jahre. Sie haben ja mit dem Ende unseres Universums noch einen anderen Zeithorizont aufgemacht. Der Schriftsteller Eugen Ruge war bei uns zu Gast, herzlichen Dank für das Gespräch!
Ruge: Ich danke Ihnen!
Meyer: Und noch ein Hinweis dazu, Eugen Ruges Dresdner Rede zu diesem Thema, die können Sie lesen in der Maiausgabe der Zeitschrift "Sinn und Form". Sie können sie auch hören auf der Webseite des Staatsschauspiels Dresden.
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