"Geschmack ist politisch"
Georgi Gospodinov ist einer der meistübersetzten Schriftsteller Bulgariens. Kaum hat er seine Siegfried-Unseld-Gastprofessur an der Berliner Humboldt-Universität beendet, ist er auch schon mit seinem Übersetzer Milan Radev zu Gast im Studio.
Der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov ist derzeit Unseld-Gastprofessor an der Berliner Humboldt-Universtität in Berlin und lehrt am Institut für Slawistik. Er unterrichte dort vor allem künstlerisches Schreiben und Empathie, so der Autor im Deutschlandradio Kultur. Er beschrieb seine Erfahrungen mit deutschen Studenten:
"Ich habe 25 Studenten, die sehr enthusiastisch schreiben. Und auch ganz gerne über ihre eigenen Texte sprechen und diskutieren. Und ich finde, in dieser Art, sich auch ganz aktiv einzubringen und mitzumachen, sind sie sich sehr ähnlich mit ihren bulgarischen Kollegen."
Ohne Empathie sei Literatur nicht denkbar, meinte Gospodinov. Das treffe gleichermaßen auch für unser soziales Leben zu:
"Wir können einfach nicht leben, wenn ein Mangel an Empathie herrscht. Ich bezeichne die Empathie als Klebstoff. Ohne diesen Klebstoff funktioniert es in einer Gesellschaft nicht. Vielleicht ist das auch ein wichtiges Element, wenn wir über viele heutige Erscheinungen des Lebens schreiben und nachdenken. Angefangen bei den Migranten und verschiedenen anderen Formen des Zusammenlebens."
In seinem Werk reflektiert Gospodinov immer wieder die jüngere bulgarische Geschichte und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Entwicklungen. Er beschrieb seine Ansprüche:
"In der Literatur geht es auch um Erziehung und um das Heranziehen zum Geschmack sowie zur Widerstandsfähigkeit. Beide sind politische Begriffe beziehungsweise sie verwandeln sich ins Politische. In der heutigen Zeit kommt es darauf an, dass man nicht alles nur über die Wirtschaft definiert. Sondern wir brauchen auch solche Begriffe wie Trauer und Emotionen. Das sind alles Sachen, die mit Literatur zu tun haben. Und in diesem Sinne sehe ich auch für die Literatur eine große Zukunft."
Internationales Ansehen errang Gospodinov mit seinem Buch "Natürlicher Roman" (1999), der in 23 Sprachen übersetzt wurde. 2011 erschien sein Roman "Physik der Schwermut". Der Autor Gospodinov lebt und arbeitet in Sofia. Derzeit ist er Unseld-Gastprofessor in Berlin und unterrichtet am Institut für Slawistik.
In seinem lyrischen, erzählerischen und dramatischen Schaffen vereint Gospodinov hohen formalen Gestaltungswillen mit einem historisch konkreten Interesse an Individualgeschichte und Alltagskultur des Sozialismus. In Poesie wie Prosa erschließt er die Erfahrungen der bulgarischen Wendezeit mit ihren Auf- und Zusammenbrüchen, ihren kollektiven und individuellen Traumata, Melancholien und Absurditäten einem globalen Publikum mittels weltliterarischer intertextueller Bezüge. Antike Mythologie trifft Soz-Realismus. Und Kantsche Ästhetik erklärt balkanische Hirtenweisheit (oder umgekehrt).
Gospodinov greift dabei auf eine Spannbreite von Erzählverfahren zurück, zwischen facettenreicher Zersplitterung, labyrinthischer Desorientierung oder zyklischer Wiederholung. Sein erster und auf Anhieb international erfolgreicher "Natürlicher Roman" (1999, deutsche Übersetzung 2007, Droschl Literaturverlag) ist aus der Perspektive eines Fliegenauges geschrieben.
In seinem Theaterstück "Die Apokalypse" kommt um 6 Uhr abends (2006, deutsche Übersetzung 2012) lässt der Autor seine Figuren einen mittelalterlichen Totentanz aufführen. Sein neuestes Buch "Physik der Schwermut" (2011, deutsche Übersetzung 2014, Droschl) ist nach dem Prinzip eines Labyrinths gebaut. Für diese so "komplexe wie komische‚ Teilchenphysik der Trauer'" (Andreas Breitenstein in der NZZ) wurden der Autor und sein Übersetzer Andreas Sitzmann für den BRÜCKE BERLIN-Preis und den Internationalen Literaturpreis Haus der Kulturen der Welt 2014 nominiert.
Georgi Gospodinovs Werke sind vielfach ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt worden, darunter neben dem Englischen, Französischen oder Italienischen auch in das Albanische, Litauische oder Isländische. Seine Lyrik ist in deutscher Sprache in einer best-of-Anthologie zugänglich (Kleines morgendliches Verbrechen, 2010, Droschl).