Schriftsteller Günter de Bruyn

Neue Herrlichkeiten

Der Schriftsteller Günter de Bruyn Pfeife rauchend, aufgenommen am Mittwoch (20.06.2007) in seinem Garten im brandenburgischen Görlsdorf (Oder-Spree). Der damals 80-jährige Autor lebte zurückgezogen auf dem Land nahe Frankfurt (Oder).
„Die Deutschen von heute kommen aus zwei verschiedenen Erfahrungsbereichen": Günter de Bruyn im Jahr 2007 in seinem Garten im brandenburgischen Görlsdorf. © picture-alliance / ZB / Patrick Pleul
Von Carola Wiemers |
Günter de Bruyn bereicherte in sechs Jahrzehnten die deutsch-deutsche Literaturlandschaft mit Romanen, Erzählungen, Essays und autobiografischen Büchern. In lebenslanger Auseinandersetzung hinterfragte er konsequent die eigene Schreibposition.

Ich habe ... schon relativ früh das Gefühl gehabt, ich müßte eigentlich Autobiografie schreiben und nicht immer Fiktion in Romanen, … man müsste doch mal ganz sachlich das so aufschreiben, wie es wirklich gewesen ist.

Mit den autobiografischen Büchern „Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht“ und „Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin“ hat Günter de Bruyn das Vorhaben intensivster Selbstbefragung eingehend literarisiert. Es ist der Versuch, Auskunft über ein Leben zu geben, das in der Mitte der sogenannten „Goldenen Zwanziger“ am 1. November 1926 im dörflich anmutenden Berliner Stadtteil Britz begann.
Bei Kriegsbeginn ist er 13 Jahre alt, 1943 gehört der 16-Jährige zu jenen Oberschülern, die als Flakhelfer von der Schulbank weg eingezogen und zu „Kindersoldaten“ getrimmt werden. In „Zwischenbilanz“ erinnert sich Günter de Bruyn.

Am 15. Februar waren wir zum Dienst bei der Flugabwehr beordert worden, wo wir praktisch Soldaten, amtlich aber noch Schüler waren, die nicht vereidigt, sondern nur dienstverpflichtet wurden. Die gesetzliche Rechtfertigung dieses Militärdienstes für Kinder bot eine Notdienstverordnung von 1938, und wie immer bei unpopulären Maßnahmen versäumte man nicht zu betonen, daß „dies in anderen Ländern schon lange geschieht“.

Im Krieg sterben der Vater und zwei Brüder, de Bruyn selbst wird schwer verwundet. Granatsplitter hatten den Stahlhelm durchschlagen und waren im Schädelknochen stecken geblieben. Nach seiner Heimkehr und Genesung arbeitet de Bruyn einige Zeit als Neulehrer im Märkischen, absolviert zwischen 1949 und 1953 eine Lehre als Bibliothekar und ist danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Bibliothekswesen tätig.

Anfänge als Schriftsteller

Im Jahr 1961 kündigt er seine Festanstellung, um als freier Schriftsteller zu leben. Damit scheinen die Bedingungen geschaffen, um ein Trauma zu verarbeiten, das seine Generation in den Kriegs- und Nachkriegsjahren erfahren hat. Mit dem Romandebüt „Der Hohlweg“ von 1963 versucht er, ein Vorhaben, das der verwundete Soldat de Bruyn noch im Zustand der Sprachlosigkeit gefasst hatte, in die Tat umzusetzen.
17 Jahre hatte de Bruyn an diesem Buch geschrieben, doch das Ergebnis ist ihm ein Ärgernis: „Es wurde mit einem Preis geehrt und milde beurteilt. Mein eigenes Urteil lautet: Thema verfehlt, fünf.“
Günter de Bruyn / Foto 1964 - -
 Willi Bredel (rechts) überreicht Günter de Bruyn am 25. März 1964 den Heinrich-Mann-Preis in Ostberlin.
Günter de Bruyn erhielt 1964 den Heinrich-Mann-Preis.© picture alliance / akg-images
Trotzdem ist es der Beginn einer erfolgreichen Karriere. In dem Roman „Buridans Esel“ von 1968 ist das Private mit der Öffentlichkeit untrennbar verbunden, ein gesellschaftlicher Umbruch also unabdingbar.
Das Buch entstand in Berlin-Mitte: mit dem Jüdischen Friedhof, dem Alexanderplatz, dem Brandenburger Tor und dem Gebäude der Zentralbibliothek wird die Stadt zum Akteur. Ebenso wie ihre Bewohner, die sich mit der geteilten Stadt zwar arrangiert haben, aber in ihren Erinnerungen in einer anderen leben.

Leben im märkischen Waldabseits

1968 entdeckt Günter de Bruyn im Schwenower Forst südwestlich von Beeskow eine alte Schäferei. Er erwirbt das Anwesen und erfüllt sich einen „Kindertraum vom Robinsondasein“, wenn auch „mit hunderttausend Kompromissen“. De Bruyn nahm oft den Weg von Schwenow aus zu Fuß – vorbei am Waldfriedhof, wo er 2020 im Alter von 93 Jahren auch seine letzte Ruhestätte gefunden hat.
Liest man im Lebensbericht „Vierzig Jahre“ jene Passagen, die seine Entscheidung erklären, im märkischen Waldabseits leben zu wollen, so wird klar, dass es neben der Stille und Naturnähe noch andere Gründe gab.

Immer waren es Menschen, die mich erschreckten. Denen war ich nun ausgewichen. Ich war, dachte ich, in die Emigration gegangen, ohne das Land, das mich hielt, verlassen zu haben. Dem Staat war ich auf seinem eigenen Territorium entflohen.

Günter de Bruyn, aufgenommen am 20.06.2007 in seinem Garten im brandenburgischen Görlsdorf (Oder-Spree). Der damals 80-jährige Autor lebte zurückgezogen auf dem Land. Er hat eine Pfeife in der Hand und ist über Papier gebeugt.
Von Stille und Naturnähe angezogen: Günter de Bruyn bei einer Lesung in seinem Garten.© picture-alliance / ZB / Patrick Pleul

Intensiv mit Jean Paul beschäftigt

Neben Heinrich Böll interessiert de Bruyn das Werk von Thomas Mann, Theodor Fontane, Hermann Hesse. Aber mit Jean Paul hat er sich am meisten beschäftigt. An seiner Biografie, die 1975 unter dem Titel „Das Leben des Jean Friedrich Richter“ erscheint, kommt kein Wissenschaftler und Literaturenthusiast vorbei.
Doch wer interessierte sich in den 1970er-Jahren schon für Jean Pauls „Kriegserklärung gegen den Krieg“ aus dem Jahr 1809, in der er die Notwendigkeit von Kriegen und deren Helden für die Menschheit vehement bestreitet? „Zivilcourage“ erscheint ihm wichtiger als „“Kriegsmut“ und „Rüstungskosten“ sind in seinen Augen „unnütz vergeudetes Geld“.
Das Jean-Paul-Buch ist für de Bruyn die Ouvertüre zu seinen literarischen Biografien, die ein subtil ausgeleuchtetes historisches Zeitbild wiedergeben. Die Biografie zwischen Geschichtsdarstellung und Dichtung ist für ihn die passende Erzählform.
Zentrales Thema Zensur
Außerdem wird hier auch ein Thema ins Zentrum gerückt, das de Bruyn seit seinem Romandebüt umtreibt: die Zensur. Zwei Jahrzehnte werden noch vergehen bis er diese öffentlich und gemeinsam mit Christoph Hein, Christa Wolf und anderen Schriftstellern als „überlebt, nutzlos, paradox, menschenfeindlich, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar“ anprangert.
Auf dem X. Schriftstellerkongress 1987 in Ostberlin betont er, dass die Zensur als gängige Praxis dem Ansehen einer Gesellschaft schadet und die „Zweifel an ihrer Reformfähigkeit“ befördert. Im Schatten von Jean Pauls Produktionsbedingungen werden auch die Schwierigkeiten des Autors de Bruyn mit der Zensur kritisch reflektiert. Noch im Jahr 1996 resümiert er:
„Ich habe damals immer gesagt, diese Zensur vergiftet nicht nur die Atmosphäre in der DDR, sondern auch im Westen. Denn nur weil es in der DDR diese Zensur gab, war man im Westen immer darauf aus, Systemkritisches in den Büchern zu entdecken. Dass man danach auch die Bücher immer beurteilte. In dem Augenblick, wo ein DDR-Autor Systemkritik zeigte, konnte er auch ein bisschen schlecht sein, er wurde trotzdem für gut gehalten.“
Beim Erscheinen der Jean-Paul-Biographie brachte de Bruyn besonders das 32. Kapitel Kritik ein, das von Zensur und Selbstzensur in Deutschland handelt.

Die Geschichte der Zensur in Deutschland ist eine ihrer Ohnmacht, die vom Negativen her die Macht des geschriebenen Wortes verdeutlicht. Der Nachwelt erscheint der Zensurbeamte immer als der Narr, der mit bloßen Händen Ströme aufhalten will, und ein Lexikon der Bücherverbote ist eins ihrer Kuriositäten. Was die Zeitgenossen zur Verzweiflung bringt, bringt die Nachgeborenen zum Lachen.

Deutscher Schriftsteller mit DDR-Wohnsitz

Günter de Bruyn verstand sich als ein Schriftsteller deutscher Sprache mit Wohnsitz in der DDR. Er bestritt die Existenz einer „eigenständigen DDR-Nationalliteratur“ und glaubte an eine deutsche Kulturnation, da Sprache und Traditionen stärker als alles andere seien.
In der Ost-Berliner Erlöserkirche fand im Oktober 1989 eine Veranstaltung statt unter dem Motto: Gegen den Schlaf der Vernunft . Mitwirkende waren Schriftsteller, Autoren, Künstler der DDR. Hier am Mikrofon Günter de Bruyn.
Wacher Beobachter und engagierter Analytiker: Günter de Bruyn im Oktober 1989 in der Ostberliner Erlöserkirche.© imago / epd
Nach 1989 schreibt de Bruyn vorerst keinen fiktionalen Text mehr. Der Romancier verstummt. 1991 erscheinen Essays und Reden unter dem Titel „Jubelschreie, Trauergesänge. Deutsche Befindlichkeiten“.
Fortan gilt sein Interesse der Rekonstruktion geschichtlicher Verläufe, wobei die Topografie der Mark Brandenburg und die Entwicklung der preußischen Monarchie im Mittelpunkt stehen. Und er wird zum wachen Beobachter und engagierten Analytiker der deutschen Verhältnisse.

Die Deutschen von heute kommen aus zwei verschiedenen Erfahrungsbereichen; sie gleichen Kindern einer Familie, die getrennt in verschiedenen Umwelten aufwuchsen und auf die eine andere Art von Erziehung eingewirkt hat. Denn der Eiserne Vorhang der 50er-Jahre, der in den 60ern in Deutschland zu einer Betonmauer wurde und erst nach 28 Jahren gewaltlos beseitigt werden konnte, trennte nicht nur Militärblöcke, Wirtschaftsgefüge und Ideologien, sondern auch Lebensgefühle, die nicht so schnell wie die Mauer zu beseitigen sind.

Die Stasi – eine „Angst-Episode“

De Bruyn hat sich sein Leben lang schonungslosen Selbstbefragungen und Zwischenbilanzierungen unterzogen. Als in den 1990er-Jahren die Archive der DDR-Staatssicherheit geöffnet und zugänglich gemacht wurden, findet er in den Unterlagen zwei Vorgänge zu seiner Person namens „Roman“. Denn nach dem Misserfolg einer Anwerbung des Schriftstellers wurde eine „Operative Personenkontrolle“ angelegt.
Die Lektüre der Akten beschämt den Betroffenen: „Das Erschrecken kam daher, ich habe mich immer als Held gefühlt dabei, wie ich denen nämlich widerstanden habe. Und merkte dann nachher in den Akten, dass die in diesen Gesprächen doch einiges von mir erfahren haben.“
Vor allem erschreckte de Bruyn, dass er die Begegnungen ausgeblendet und als erledigt betrachtet hatte. So muss diese „Angst-Episode“, wie er das Erlebnis rückblickend bezeichnet, nochmals durchlebt werden. Schreibend. Im zweiten Teil der Autobiografie „Vierzig Jahre“ heißt es im Kapitel „Streng geheim“:

Der Plan, mich als Spitzel zu werben, wurde, wie ich den Akten entnehme, im Sommer 1973 entworfen und mehrfach modifiziert. Berichte von Zuträgern waren schon vorher angehäuft worden, allesamt aus dem Literaturbereich stammend, wo man, wie die widersprüchlichen Charakterisierungen zeigen, nur wenig wusste von mir. Während der eine mich als kontaktarm und verschlossen schildert, bin ich dem anderen als selbstbewusst und kontaktfreudig erschienen.

Unzuverlässige Erinnerung

Zeitgleich zur Einsicht in die Akten der DDR-Staatssicherheit verfasst de Bruyn eine Vorlesung, in der es um „Wahrheit und Dichtung in der Autobiografie“, also auch um „falsche Erinnerungen“, geht.

Was sich mir in der Erinnerung fast zum Ruhmesblatt des Widerstands gestaltet hatte, wurde mir nun zum Schandblatt verwandelt, sieht man von meiner tatsächlich konsequenten Weigerung am Ende ab. Offensichtlich hatte die Demütigung vor den gehassten und gefürchteten Leuten, die ich mir nicht vergeben konnte, einen Verdrängungsmechanismus in Gang gesetzt, der es mir erlaubte, als ich selbst weiterzuleben, und die Erinnerung hatte zusätzlich manches zu meinen Gunsten verkehrt.

Historische schwarz-weiß Aufnahme aus der Ost-Berliner Erlöserkirche im Oktober 1989. Bei einer Veranstaltung unter dem Motto: Gegen den Schlaf der Vernunft . Mitwirkende waren Schriftsteller, Autoren, Künstler der DDR. In der ersten Reihe im Publikum sitzen: Ulrich Plenzdorf (2.v.li.), Christoph Hein (mi.), Stephan Hermlin und Günter de Bruyn (re.).
Günter Bruyn neben weiteren Schriftstellern, Autoren und Künstlern der DDR bei „Gegen den Schlaf der Vernunft“ im Oktober 1989 – unter anderem Ulrich Plenzdorf, Christoph Hein und Stephan Hermlin.© imago images / epd
Am 1. November 2016 feierte Günter de Bruyn seinen 90. Geburtstag. Und während in den Lobpreisungen das Verstummen des Romanciers bedauert wird, ist bereits ein Roman im Entstehen, der 2018 erscheint: „Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll.“
Als er am 4. Oktober 2020 stirbt, hält er noch einen weiteren Trumpf in der Hand: eine von ihm autorisierte Version der „Undine“-Geschichte nach Friedrich de la Motte-Fouqué. Als „Die neue Undine“ erscheint sie postum 2021.

Eine Literaturauswahl

  • "Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin". Frankfurt am Main, 1994
  • "Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht". Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1996
  • "Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2018
  • "Neue Herrlichkeit". Roman. Mitteldeutscher Verlag, Halle -Leipzig, 1985
  • "Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter". Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale), 1975
  • "Buridans Esel". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1994
  • "Jubelschreie, Trauergesänge. Deutsche Befindlichkeiten". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1991

Eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2022. Das Skript zur Sendung finden Sie hier.

Mehr zum Thema