Schriftsteller, Humanist, Politiker
Der 79-jährige kirgisische Schriftsteller Tschingis Aitmatow ist tot. Er starb an den Folgen einer schweren Lungenentzündung in Nürnberg. Der populäre Schriftsteller aus der ehemaligen Sowjetunion wurde den Deutschen insbesondere durch seine Liebesgeschichte "Dshamilja" und durch seinen Roman "Der Schneeleopard" bekannt.
"Иду, шагаю по полю ..."
Auch wenn er fast alle seine Werke auf Russisch verfasst hat: Dass Tschingis Aitmatow Kirgise war, hatte einen wesentlichen Einfluss auf sein Schreiben: Die überlieferten Mythen und Legenden dieses erst im 19. Jahrhundert sesshaft gewordenen Nomadenvolkes sind ein durchgehendes Element in seinem Werk. Kirgisische oder kasachische Gebirgs- und Steppenlandschaften sind für seine Prosa ebenso typisch wie die von jenen Landschaften gezeichneten Bewohner. Als 1959 die erste größere Erzählung des damals 31-jährigen Aitmatow erschien, lag sie durchaus nicht auf der Linie dessen, was man in der Sowjetunion über den Zweiten Weltkrieg bevorzugt schrieb. Ohne Heroismus und Siegerpathos, dafür mit großer lyrischer Sprachkraft, erzählte er eine kleine Geschichte aus dem zentralasiatischen Hinterland. Sie handelte von einer jungen Frau, die sich in einen ganz unheldischen Frontheimkehrer verliebt und schließlich mit ihm weggeht, während ihr ungeliebter Ehemann an der Front seinen Dienst fürs Va-terland verrichtet. Das war an sich schon skandalös. Obendrein bekannte der Ich-Erzähler unverhohlen seine Sympathie für diesen Ausbruch der Liebe aus den Konventionen und machte damit gleichsam auch den Leser zum sympathi-sierenden Komplizen des "Fehltritts". Die Erzählung "Dshamila" jedenfalls brachte ihrem Autor umgehend Weltruhm ein.
In einem engen politischen Sinn hat er sich nie außerhalb des Sowjetsys-tems gestellt, im Gegenteil: Über Jahre hinweg war er sogar Abgeordneter des Obersten Sowjets. Aber sein Gespür als Literat hat ihm immer die richtige Rich-tung gewiesen – hin zu den wirklichen Konflikten, zu den Nöten und Besorgnis-sen der Menschen. Darin kam auch ein tiefes Vertrauen in die Möglichkeiten der Literatur, Veränderungen herbeizuführen, zum Ausdruck. Er hatte dieses Vertrauen auch als reifer Autor nicht verloren.
"Книга не исчерпала еще своих возможностей"
– Das Buch hat seine Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft, wenn auch manche Denker behaupten am Ende des Jahrhunderts, in der neuen Ära würde sich das Buch immer mehr vom Menschen entfernen und der Mensch vom Buch: Ich glaube, das Buch wird seinen Rang behalten und seine Bedeutung.
In den Novellen "Abschied von Gülsary" (1967) und "Der weiße Dampfer" (1970) spitzt sich der Zusammenstoß von althergebrachter Tradition und Le-bensweise auf der einen Seite und dem anmaßenden, dabei nie eingelösten An-spruch der Menschheitserneuerung des Sowjetsystems auf der anderen Seite in extremer Weise zu: Der Bauer und alte Kommunist Tanabai zerbricht an dem letztlich unmenschlichen System, nicht anders als sein Pferd Gülsary, das kast-riert werden musste, damit ein Funktionär darauf reiten konnte. Noch schlim-mer ergeht es dem Großvater Momun in "Der weiße Dampfer". Der alte Mann, ein leidenschaftlicher Erforscher und Bewahrer der überlieferten Legenden, wird vom sadistischen und trunksüchtigen Vertreter der Macht, der obendrein sein Schwiegersohn ist, gezwungen, eine jener seltenen Hirschkühe zu töten, um die sich diese Legenden ranken.
Mit dem 1980 erschienenen Roman "Ein Tag länger als ein Leben" hatte Tschingis Aitmatow noch einmal die literarischen Höhen seines Erstlings "Dshamila" erreicht. Zu sowjetischer Gegenwart und mythischem Hintergrund kamen nun Aufblendungen in die stalinistische Vergangenheit und in die Zu-kunft eines bedrohten Planeten, ein Element, das für Aitmatow immer wichtiger wurde.
"Гуманизм, конечно, это тоже явление" –
Der Humanismus durchläuft auch seine Evolution. In diesem Sinne ist das ökologische Bewusstsein eine neue Form des Humanismus. Das heißt, es geht jetzt um den Erhalt und die Grundlagen des Lebens schlechthin. Das gilt auch für die politischen Opponenten und Gegner. Wenn sie sich in dieser Frage nicht einigen, gehen beide zugrunde. Ökologisches Bewusstsein heißt die Auffindung neuer Kompromisse –
"экологические сознание, это сознание компромисса".
Kurz vor dem letzten Erneuerungsversuch dieses sozialistischen Staatsmodells – der unter dem Namen Perestroika eine Zeit lang bekannt war –, hatte Aitma-tow in "Ein Tag länger als ein Leben" die Bedrängnisse der Zeit formuliert: Ge-schichtsverdrängung und perspektivische Konzeptionslosigkeit markierten eine Gegenwart, die in lähmende Stagnation verfallen war. Dieser Gegenwart widme-te er sich erneut in dem Roman "Der Richtplatz" aus dem Jahr 1986, jedoch in nochmals zugespitzter Form: Kriminalität und Drogensucht, Umweltzerstörung, Zensur oder Religionsfragen – Aitmatow ließ kaum eines der bis dahin gelten-den Tabus aus. Mit seinen letzten Büchern, den Romanen, "Das Kassandramal" und "Der Schneeleopard" oder dem Erinnerungsband "Kindheit in Kirgisien" konnte Aitmatow nicht recht überzeugen. Ohnehin hatte sich sein Augenmerk zunehmend auf die Politik verlagert: als engagierter Umweltschützer, als Bera-ter des Ex-Präsidenten Michail Gorbatschow oder als Botschafter Kirgistans in Luxemburg und bei der EU in Brüssel.
Es ist nicht immer einfach vorherzusagen, welches Werk einem Autor den Ruhm für die Nachwelt sichert. Bei Tschingis Aitmatow allerdings fällt das vergleichsweise leicht: seine Erzählung "Dshamila" nannte sein französischer Kollege Louis Aragon einmal "die schönste Liebesgeschichte der Welt".
Auch wenn er fast alle seine Werke auf Russisch verfasst hat: Dass Tschingis Aitmatow Kirgise war, hatte einen wesentlichen Einfluss auf sein Schreiben: Die überlieferten Mythen und Legenden dieses erst im 19. Jahrhundert sesshaft gewordenen Nomadenvolkes sind ein durchgehendes Element in seinem Werk. Kirgisische oder kasachische Gebirgs- und Steppenlandschaften sind für seine Prosa ebenso typisch wie die von jenen Landschaften gezeichneten Bewohner. Als 1959 die erste größere Erzählung des damals 31-jährigen Aitmatow erschien, lag sie durchaus nicht auf der Linie dessen, was man in der Sowjetunion über den Zweiten Weltkrieg bevorzugt schrieb. Ohne Heroismus und Siegerpathos, dafür mit großer lyrischer Sprachkraft, erzählte er eine kleine Geschichte aus dem zentralasiatischen Hinterland. Sie handelte von einer jungen Frau, die sich in einen ganz unheldischen Frontheimkehrer verliebt und schließlich mit ihm weggeht, während ihr ungeliebter Ehemann an der Front seinen Dienst fürs Va-terland verrichtet. Das war an sich schon skandalös. Obendrein bekannte der Ich-Erzähler unverhohlen seine Sympathie für diesen Ausbruch der Liebe aus den Konventionen und machte damit gleichsam auch den Leser zum sympathi-sierenden Komplizen des "Fehltritts". Die Erzählung "Dshamila" jedenfalls brachte ihrem Autor umgehend Weltruhm ein.
In einem engen politischen Sinn hat er sich nie außerhalb des Sowjetsys-tems gestellt, im Gegenteil: Über Jahre hinweg war er sogar Abgeordneter des Obersten Sowjets. Aber sein Gespür als Literat hat ihm immer die richtige Rich-tung gewiesen – hin zu den wirklichen Konflikten, zu den Nöten und Besorgnis-sen der Menschen. Darin kam auch ein tiefes Vertrauen in die Möglichkeiten der Literatur, Veränderungen herbeizuführen, zum Ausdruck. Er hatte dieses Vertrauen auch als reifer Autor nicht verloren.
"Книга не исчерпала еще своих возможностей"
– Das Buch hat seine Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft, wenn auch manche Denker behaupten am Ende des Jahrhunderts, in der neuen Ära würde sich das Buch immer mehr vom Menschen entfernen und der Mensch vom Buch: Ich glaube, das Buch wird seinen Rang behalten und seine Bedeutung.
In den Novellen "Abschied von Gülsary" (1967) und "Der weiße Dampfer" (1970) spitzt sich der Zusammenstoß von althergebrachter Tradition und Le-bensweise auf der einen Seite und dem anmaßenden, dabei nie eingelösten An-spruch der Menschheitserneuerung des Sowjetsystems auf der anderen Seite in extremer Weise zu: Der Bauer und alte Kommunist Tanabai zerbricht an dem letztlich unmenschlichen System, nicht anders als sein Pferd Gülsary, das kast-riert werden musste, damit ein Funktionär darauf reiten konnte. Noch schlim-mer ergeht es dem Großvater Momun in "Der weiße Dampfer". Der alte Mann, ein leidenschaftlicher Erforscher und Bewahrer der überlieferten Legenden, wird vom sadistischen und trunksüchtigen Vertreter der Macht, der obendrein sein Schwiegersohn ist, gezwungen, eine jener seltenen Hirschkühe zu töten, um die sich diese Legenden ranken.
Mit dem 1980 erschienenen Roman "Ein Tag länger als ein Leben" hatte Tschingis Aitmatow noch einmal die literarischen Höhen seines Erstlings "Dshamila" erreicht. Zu sowjetischer Gegenwart und mythischem Hintergrund kamen nun Aufblendungen in die stalinistische Vergangenheit und in die Zu-kunft eines bedrohten Planeten, ein Element, das für Aitmatow immer wichtiger wurde.
"Гуманизм, конечно, это тоже явление" –
Der Humanismus durchläuft auch seine Evolution. In diesem Sinne ist das ökologische Bewusstsein eine neue Form des Humanismus. Das heißt, es geht jetzt um den Erhalt und die Grundlagen des Lebens schlechthin. Das gilt auch für die politischen Opponenten und Gegner. Wenn sie sich in dieser Frage nicht einigen, gehen beide zugrunde. Ökologisches Bewusstsein heißt die Auffindung neuer Kompromisse –
"экологические сознание, это сознание компромисса".
Kurz vor dem letzten Erneuerungsversuch dieses sozialistischen Staatsmodells – der unter dem Namen Perestroika eine Zeit lang bekannt war –, hatte Aitma-tow in "Ein Tag länger als ein Leben" die Bedrängnisse der Zeit formuliert: Ge-schichtsverdrängung und perspektivische Konzeptionslosigkeit markierten eine Gegenwart, die in lähmende Stagnation verfallen war. Dieser Gegenwart widme-te er sich erneut in dem Roman "Der Richtplatz" aus dem Jahr 1986, jedoch in nochmals zugespitzter Form: Kriminalität und Drogensucht, Umweltzerstörung, Zensur oder Religionsfragen – Aitmatow ließ kaum eines der bis dahin gelten-den Tabus aus. Mit seinen letzten Büchern, den Romanen, "Das Kassandramal" und "Der Schneeleopard" oder dem Erinnerungsband "Kindheit in Kirgisien" konnte Aitmatow nicht recht überzeugen. Ohnehin hatte sich sein Augenmerk zunehmend auf die Politik verlagert: als engagierter Umweltschützer, als Bera-ter des Ex-Präsidenten Michail Gorbatschow oder als Botschafter Kirgistans in Luxemburg und bei der EU in Brüssel.
Es ist nicht immer einfach vorherzusagen, welches Werk einem Autor den Ruhm für die Nachwelt sichert. Bei Tschingis Aitmatow allerdings fällt das vergleichsweise leicht: seine Erzählung "Dshamila" nannte sein französischer Kollege Louis Aragon einmal "die schönste Liebesgeschichte der Welt".