Dies ist die Geschichte eines der schillerndsten polnischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts: Leopold Tyrmand, ein Außenseiter, ein bewunderter Nonkonformist, ein Mann der Widersprüche.
Geboren wurde er 1920 in Warschau als einziges Kind einer jüdischen Familie. Der Vater Mieczysław handelte mit Leder, die Mutter Maryla, geborene Oliwenstein, verkehrte in Künstlerkreisen. Als Gymnasiast begeisterte sich Leopold für Sport, Literatur und Politik. Er rieb sich an der katholisch-nationalistischen Grundstimmung in der polnischen Gesellschaft. Nach dem Abitur studierte er ein Jahr an der Pariser Akademie der Künste. Er begeisterte sich für amerikanischen Jazz und wollte Architekt werden, aber eine Koryphäe des Fachs brachte ihn davon ab: Le Corbusier. 1939 kehrte Leopold Tyrmand ins heimische Warschau zurück.
"Mein Elternhaus gab mir Wärme und Schutz. Doch das, was man in unseren Breiten Geschichte nennt, hat meine Generation beizeiten gelehrt, dass Wärme und Schutz in die Welt der Märchen gehören", schrieb Tyrmand später.
Wie viele jüdische Polen flieht Tyrmand nach Osten
Leopold Tyrmand war auch Fußballfan. Sein letztes großes Erlebnis in Friedenszeiten: Im Warschauer Legia-Stadion bejubelt er Polens 4:2-Sieg über den Vizeweltmeister Ungarn am 27. August 1939.
Fünf Tage nach diesem Fußballtriumph Polens überfällt Deutschland das Land. Tyrmand flieht wie viele jüdische Polen nach Osten. Auf Umwegen gelangt er nach Vilnius, das im Sommer 1940 von den Sowjets besetzt wird. In Vilnius schreibt er politisch konforme Artikel für die sowjettreue polnischsprachige "Prawda Komsomolska". Zugleich arbeitet er für den polnischen Untergrund gegen die Sowjetunion.
Im Frühjahr 1941 nimmt ihn der sowjetische Sicherheitsdienst fest. Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 kommt er wieder frei. Nun herrschen die Deutschen über Vilnius. Für einen jüdischen Polen sind sie noch bedrohlicher als die Sowjets. Leopold Tyrmand ergreift wieder die Flucht und schließt sich in der Provinz südöstlich von Vilnius einer kleinen polnischen Widerstandsgruppe gegen die deutschen Besatzer an:
"Von Kriegsbeginn an hatte ich beschlossen, meine Kräfte mit den Kräften des Guten, der Freiheit und des Fortschritts zu vereinen, wobei auf einem anderen Blatt geschrieben stand, dass mein Ansinnen, mich auf die Seite der um Leben und Tod gegen die Deutschen Kämpfenden zu stellen, ständig auf Hindernisse stieß."
Tyrmand ist 21 Jahre jung, er will wie viele andere für Polens Befreiung kämpfen. Doch als Jude muss er mehr als andere um sein eigenes Leben fürchten. Sicher ist er vor niemandem. Im November 1941 beschafft er sich einen gefälschten Ausweis. Das neue Dokument lautet weiter auf den Namen Leopold Tyrmand, geboren in Warschau. Unter Religion findet sich nun jedoch der Eintrag "römisch-katholisch" und unter Nationalität "französisch".
Derart gewappnet unternimmt Tyrmand einen waghalsigen Schritt: Er begibt sich aus freien Stücken ins Dritte Reich. Sicherheit, lautet seine Maxime, findet man eher im Auge des Taifuns als an der Peripherie.
An einem Tag des Jahres 1942 trifft Tyrmand auf dem Bahnhof von Mainz-Gustavsburg ein. Was dann geschieht, davon handelt sein autobiografischer Roman "Filip". 1961 ist das Buch in Polen erschienen. Erst 60 Jahre später, 2021, auch auf Deutsch.
Filip Vincel, Tyrmands Alter Ego, arbeitet in Deutschland als Übersetzer, hilft in einem Architekturbüro oder einer Bibliothek. Die meiste Zeit jedoch kellnert er im luxuriösen Parkhotel unweit des Hauptbahnhofs von Frankfurt am Main.
Den Nazis in den Kaffee gespuckt
Tag für Tag stehen Filip und seine Kollegen aus diversen besetzten Ländern deutschen Herrenmenschen gegenüber, die sie meistens hassen. Ihr gemeinsamer Lieblingsfeind ist der mürrische Hoteldirektor Eißler mit NSDAP-Abzeichen am Revers:
"Zum Beispiel belustigte es uns, (…) in Herrn Eißlers Kaffee zu spucken. Das große Mysterium der Kaffeeverunreinigung fand um halb neun statt, pünktlich und täglich. Diese Regelmäßigkeit bestärkte uns in der Überzeugung von der Unverrückbarkeit des Universums und der Gesetzmäßigkeiten der Moral, trotz der Tonnen von TNT, die gerade rund um uns herum aus den Liberator- und Halifax-Bombern fielen. "Einen Kaffee für Herrn Eißler!", riefen Pierre oder Savino, Leo, Jupp, Piotr, Vessely, Marcel, Abbelé oder ich, an der mit Blech ausgeschlagenen Küchentheke stehend, auf die wir ein Silbertablett mit einem silbernen Kaffeekännchen und einem kleineren Kännchen für die Sahne stellten. (…) Mit leichtem Schritt lief ich die Treppe nach oben und rief schon im Office, während ich unterwegs das Gedeck mitnahm (…): "Einen Kaffee für Herrn Eißler!" Mit einem Fußtritt der Selbstzufriedenheit und der zeitlosen Gerechtigkeit öffnete ich sodann die Schwingtür des Office und begab mich (…) in den Frühstückssaal."
"Auf meinen Protagonisten wartet 1942/43 im Zentrum des Deutschen Reichs die Vernichtung. Aber er kämpft gegen diese Vernichtung", erklärte Tyrmand im Rückblick in einem seiner raren Interviews, 1985 per Telefon aus den USA für den Münchener Sender Radio Free Europe.
"Er wehrt sich gegen den furchtbaren Druck des Nationalsozialismus, und zwar mithilfe eines biografischen Details, einer persönlichen Eigenschaft: Cleverness, auf Polnisch nennt man es ‚Cwaniactwo‘. Wobei Cwaniactwo eher pejorativ klingt. In Amerika würde man sagen ‚streetwise‘ – gewieft."
Überleben im Auge des Taifuns: Um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen, ging Leopold Tyrman mit gefälschten Papieren nach Frankfurt a. M.© picture alliance / akg-images
Während Tyrmands Alter Ego Filip unter den Deutschen lebt, erkundet er auch ihre Mentalität. Immer wieder geraten dabei die komplizierten Beziehungen zwischen den Einheimischen und Fremden in den Blick. Ob in Moslers Badeanstalt am Frankfurter Mainufer oder beim Picknick im Taunus, die Stimmung ist ausgelassen.
Doch auch in harmlosen Späßen zeigt sich der tödliche Ernst der Situation, wenn Filip und sein Kollege Piotr vom Parkhotel die junge, attraktive Blanca mit edlem Wein verköstigen, den sie bei der Arbeit beiseitegeschafft haben. Blanca ist eine ziemlich unangepasste Deutsche ohne festen Wohnsitz.
"Es gab nichts Besseres als diesen Trarbacher", meinte (…) Piotr beiläufig.
"Nichts Besseres…", sagte Blanca und vertilgte ohne Eile, doch systematisch ein Butterbrot nach dem anderen. "Ihr seid ja alle übergeschnappt. Was für ein Leben ihr führt. Manchmal, wenn ich euch so sehe, frage ich mich, ob die Nazis nicht Recht haben. Jedenfalls hätte ich nichts dagegen, wenn man alle ausländischen Kellner öffentlich erhängen würde. Aus Rache für die Qual, die wir Deutsche empfinden, wenn wir eure gemästeten Visagen anschauen."
"Du übertreibst", sagte ich.
Ein Meister des Rollenspiels
Filip trifft auf überaus unterschiedliche Haltungen der Deutschen zum Nationalsozialismus. Was er davon erfährt, hängt oft von der Rolle ab, in der er sich selbst präsentiert.
"Mal sagt er, er ist Franzose, und das sind die falschen Papiere, die er besitzt, die ausweisen, dass er ein in Warschau geborener Franzose ist. Manchmal sagt er gar nicht, wo er herkommt", so Peter Oliver Loew, Leiter des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt und Tyrmand-Übersetzer.
"Die Leute merken natürlich, dass er kein gebürtiger Deutscher ist, auch kein wirklich gebürtiger Franzose, weil er Französisch mit Akzent spricht. Das bewegt ihn dann dazu, ein bisschen damit zu spielen."
"Was sind das für Leute", wendete sich eine Frau an mich, vom Aussehen her eine Hausfrau, die mich ganz offensichtlich für einen Deutschen hielt. "Polen", entgegnete ich ziemlich automatisch. "Was für Schweine", sagte sie mit grenzenloser Verachtung, "was für eine ordinäre Viehhorde".
Leopold Tyrmand schlägt sich im nationalsozialistischen Deutschland durch – mit vielen Tricks und unter großen Anstrengungen. Er muss vor der Gestapo auf der Hut sein, vor seinen Arbeitgebern und vor den ganz normalen deutschen Nachbarn. Die Jahre 1942/43 verbringt er überwiegend kellnernd im Rhein-Main-Gebiet. Anfang 1944 wird er Hotelgehilfe in Wien. Später heuert er auf einem deutschen Schiff an und gelangt so ins besetzte Norwegen. Von dort will er sich ins neutrale Schweden absetzen. Dabei wird er ertappt und landet in einem Konzentrationslager bei Oslo.
"Das sind Rollen, in die er schlüpft, möglicherweise auch, um all das zu verdrängen, was mit seiner Familie, mit seiner Umgebung im Zweiten Weltkrieg geschehen ist. Sein Vater ist wahrscheinlich im KZ umgebracht worden, seine Mutter hat irgendwie überlebt, ist dann ausgewandert, die Familie ist zerrissen worden. Das alles war für einen jungen Menschen, der Tyrmand damals war, natürlich außerordentlich dramatisch. Und diese ständige Angst, der er ausgesetzt war, das alles hat ihn geprägt und hat ihn dazu gebracht, diese Rollen anzunehmen." (Peter Oliver Loew, Leiter des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, Tyrmand-Übersetzer)
Als man Leopold Tyrmand bei Kriegsende aus dem Lager befreit, ist er zunächst für das Internationale Rote Kreuz tätig, dann für Polpress, die Presseagentur des neuen kommunistischen Polen in Norwegen. Schließlich wird er Presseattaché der polnischen Gesandtschaft in Kopenhagen. 1946, ein Jahr nach Kriegsende, steht Tyrmands Entschluss fest: Er will nach Warschau, ins kommunistische Polen, zurückzukehren.
Sein Vater ist während der Besatzung im KZ-Majdanek bei Lublin umgekommen, die Mutter wird bald nach seiner Rückkehr nach Palästina ausreisen. Und die Stadt, die er 1939 verlassen hat, gibt es nicht mehr. Vor allem nach dem Warschauer Aufstand von 1944 mit bis zu 200.000 Opfern haben die deutschen Besatzer keinen Stein auf dem anderen gelassen. 1946 bewegt man sich in einer Ruinenlandschaft. Der mit Tyrmand befreundete Jerzy Przeździecki, damals als Theaterdirektor auf einem Weichselschiff tätig, erinnert sich:
"Alles, was uns umgab, war eine irre Mischung von Vitalität und Tod. Im Zentrum, am Napoleon-Platz, wo das Hochhaus der Prudential-Versicherung stand, vermischte sich der Geruch feinen französischen Parfums mit dem Geruch der Leichen, die man aus der Kanalisation zog. So lebte die Jugend, der es nicht beschieden war, im Warschauer Aufstand 1944 umzukommen."
Im zerstörten Warschau Lebensfreude zelebrieren
Leopold Tyrmand, der Überlebende und Rückkehrer, zeigt, ja, er zelebriert in diesem zerstörten Warschau Lebensfreude, Energie und Optimismus. Mit seinem Freund Przeździecki lässt er sich auf Wasserskiern von einem Motorboot über die Weichsel ziehen. Die Zeitschrift "Przekrój", ein Blatt der neuen kommunistischen Kulturelite, veröffentlicht das Foto dazu. Tyrmand schreibt eine Zeitlang für "Przekrój".
Ein improvisiertes Leben: Im kriegszerstörten Warschau wird eine kaputte Straßenbahn zum Imbiss umfunktioniert.© picture alliance / IMAGNO / Votava / Votava
Doch bald kommt es zum politischen Konflikt: Im Sommer 1946 spielt der Warschauer Fußballklub Legia gegen Partizan Belgrad. Tyrmand ist als Sportreporter dabei. Er jubelt allerdings nicht wie erwünscht der kommunistischen Führung auf der Ehrentribüne zu, sondern dem sowjetkritischen Anführer der Bauernpartei Stanisław Mikołajczyk. Ein folgenreicher Fehler im neuen System.
"Mikołajczyk bekam großen Beifall, als er das Stadion betrat. Doch in der Presseloge applaudierte ihm nur einer so lautstark. Das war Leopold Tyrmand. Dafür haben sie ihn wenige Tage darauf gleich aus dem Journalistenverband gefeuert. Überhaupt haben sie ihn überall herausgeworfen", erinnert sich Jahrzehnte später der polnische Musiker und Feuilletonist Stefan Kisielewski vom Krakauer katholischen Wochenblatt "Tygodnik Powszechny". Kisielewski hält Tyrmand die Treue. Er versucht, dem jüngeren Freund aus der Klemme zu helfen, wo immer es geht.
Ein Außenseiter ohne politische Heimat
Tyrmand, in journalistischen und durch erste Veröffentlichungen bald auch in literarischen Kreisen bekannt, eckt immer wieder an. Er brilliert auf den Empfängen ausländischer, westlicher Botschaften. Und er sympathisiert mit den Bikiniarzy, polnischen Beatniks, die mit ihrem Outfit gegen den Kommunismus protestieren. Die Bikiniarzy tragen Krawatten, auf denen das Bikini-Atoll abgebildet ist, eine Sympathieerklärung für die US-amerikanischen Atombombentests, die auf dem Bikini Atoll seit Ende des Zweiten Weltkriegs stattfinden und den Ostblock einschüchtern sollen. Tyrmand trägt dazu bunte Socken westlicher Produktion. Selbst das gilt als nonkonformer Akt.
Dabei bleibt er ein Außenseiter ohne politische Heimat.
"Tyrmand war so ein einsamer Don Quichotte. Damals gab es ja keine organisierte politische Opposition. Er kämpfte einfach gegen die Hässlichkeit und die Langeweile des Systems. Und die Machthaber nahmen das bierernst. Denn Tyrmand störte sie dabei, die Jugend für sich zu gewinnen", sagt der Schriftsteller Jan Józef Szczepański, wie Stefan Kisielewski ein Freund von Leopold Tyrmand und Autor des "Tygodnik Powszechny".
"Es ging ihm nicht um hohe Ideale. Leopold Tyrmand kämpfte nicht für Polen, nicht für die Menschheit, nicht für Europa. Er legte sich mit dem kommunistischen Regime an, um modische Krawatten zu tragen, in den Schuhen herumzulaufen, die zu ihm passten, um Jazz zu hören und in seinen Büchern über das zu schreiben, wonach ihm der Sinn stand." (Piotr Wierzbicki, Musikkritiker, konservativer Publizist aus Warschau, Tyrmand-Fan)
In der Redaktion dieses katholischen Blattes hatte Tyrmand eine neue geistige Heimat gefunden, nachdem er für die Staatspresse endgültig untragbar geworden war. Von Warschau aus schrieb er für das Krakauer Blatt, wo vorsichtige Regimekritik möglich war. Der Gründer und langjährige Chefredakteur Jerzy Turowicz erinnerte sich im späten Rückblick:
"Wir betrieben immer eine Politik der offenen Tür. Nicht nur gegenüber Katholiken, sondern gegenüber Menschen, die liberal eingestellt waren, Juden, auch Nichtgläubigen. Wir suchten einen gemeinsamen Nenner im Humanismus. Ich denke, Leopold hat sich bei uns gut gefühlt. Für ihn waren wir hier in Krakau etwas, was ihm in Warschau fehlte."
Ganz und gar dem Katholizismus verschrieben
Tyrmand verschreibt sich in dieser Zeit ganz und gar dem Katholizismus. Das gibt seiner Opposition gegen den Kommunismus eine weitere Farbe. Es geht dem Sohn assimilierter Warschauer Juden nicht um katholische Traditionspflege, wie sie in vielen polnischen Familien im Kommunismus üblich ist. Der Autor setzt sich vielmehr intensiv mit der Moral und Theologie der Kirche auseinander. Zudem faszinieren ihn deren Rituale, auch wenn er ironische Distanz wahrt:
"Am Morgen erwies ich Gott meine Demut. Wie immer aus Anlass von Feiertagen, Anfängen, Abschlüssen, Jahrestagen, Geburtstagen, Namenstagen, Errungenschaften und überhaupt jeder sich bietenden Gelegenheit, nebst weiteren Anlässen zu metaphysischer Rührung. Beginnen wir also in Gottes Namen endlich dieses Tagebuch. Mit ihm verbinde ich unklare Hoffnungen, wie also ohne Gott?"
So heißt es am 1. Januar 1954 im "Tagebuch 1954", das unter antikommunistischen Dissidenten bald zur Legende wird. Leopold Tyrmand beginnt seine Aufzeichnungen, in schlechtester Stimmung, gequält von seiner offiziellen Bedeutungslosigkeit und vom Kater des vorausgegangenen Silvesterballs.
"Meine Haltung als Tagebuchautor war existenzialistisch"
Drei Monate beobachtet er nun Warschau, Polens Land und Leute, seine kommunistischen Gegner – und immer wieder sich selbst:
"Meine Haltung als Tagebuchautor war existenzialistisch", erklärt Tyrmand 1985 in Radio Free Europe.
"Allerdings steckt mein Tagebuch-Pessimismus voller Ironie und Selbstironie. Ich würde sogar sagen, es gibt dort eine Art Witz. Um diesen Witz habe ich hart gerungen."
Tyrmand notiert am 7. Januar 1954:
"Am Vormittag war ich beim Friseur. Ein finsterer Lümmel, aber ich mag ihn über alle Maßen. Dahinsiechende Privatinitiative, klitzekleiner Laden auf dem Hinterhof in der Ulica Chmielna. Im Innenraum ungehobelte, ordinäre Freundlichkeit für den Kunden. Meist ist es leer. Niemand wartet, und wir reden über Frauen. Mein Friseur gefällt sich in Schilderungen, so dickflüssig von Sperma, dass ich nach jedem Besuch eine Kopfwäsche für die Hälfte des Preises verlange."
Mit "Der Böse" kommt der Erfolg
Tyrmand lebt zu dieser Zeit in einem zehn Quadratmeter großen Zimmer des YMCA im Stadtzentrum Warschaus. In diesem früher einmal komfortablen Heim Christlicher Junger Männer ist alles heruntergekommen und vieles möglich. Hier hört er westliche Radiosender mit amerikanischem Jazz, lässt sich von seinen Nachbarn bespitzeln, hat Affären mit Frauen, darunter einer Nachhilfeschülerin aus kommunistischem Elternhaus, und schreibt für die Schublade.
Bereits ein Jahr später wendet sich das Blatt. In der Sowjetunion hat das sogenannte Tauwetter unter Nikita Chruschtschow eingesetzt. Die Entstalinisierung erreicht Polen. "Czytelnik", ein bedeutender Literaturverlag, beauftragt Leopold Tyrmand mit einem Roman über den Warschauer Alltag der Nachkriegszeit. 1956 erscheint "Der Böse", der Form nach ein Kriminalroman, und wird auf Anhieb zum Bestseller. Tyrmand schildert die Warschauer Halbwelt, Kleinkriminelle und eher edle Robin-Hood-Figuren. Er entblößt die Mafiastrukturen des sozialistischen Systems. Nicht zuletzt vermittelt er ein ungeschminktes Bild von Warschau im Wiederaufbau:
"Der Bus fuhr die Leszno lang und bog in die Nowotki ein: In Muranów fuhr er langsam zwischen den Neubauten und dem Niemandsland des ehemaligen Ghettos entlang. (…) Zwischen der Inflancka und der Nowotki-Straße erstreckte sich eine Berg- und Tallandschaft aus zertrümmerten Ziegeln, mittendrin stand unbewegt eine Baumaschine. Am Tage durchpflügte sie diese Steinwüste mit ihren Furchen und Schollen, formte aus ihnen sandig-steinerne Hügel und Dünen."
Vom Außenseiter ins Kulturestablishment
"Der Böse" katapultiert seinen Autor aus der Rolle des unterdrückten Außenseiters direkt ins Kulturestablishment. Leopold Tyrmand gibt mit Autos an, bezieht eine große Wohnung, heiratet, lässt sich scheiden, heiratet wieder, steht im Mittelpunkt einer Gesellschaft, der das Regime plötzlich mehr Freiheit zugesteht.
So kann Leopold Tyrmand auch seine Leidenschaft für den Jazz, in den Jahren des Stalinismus verpönt, endlich öffentlich ausleben. 1956 organisiert und moderiert er ein großes Jazzfestival in Sopot. Das trägt seinen Teil dazu bei, dass der polnische Jazz mit dem Krzysztof-Komeda-Sextett und vielen anderen auch international bekannt wird.
Auch als Sportreporter im Einsatz: Leopold Tyrmand beim Davis-Cup-Match zwischen Polen und Großbritannien 1947.© picture-alliance / PAP | PAP
Außerdem veröffentlicht Tyrmand nun in rascher Folge Feuilletons, sogar einige Auszüge aus seinem Tagebuch, außerdem Erzählungen und Romane, darunter "Filip" über seine Erlebnisse in Nazideutschland. Unter Władyslaw Gomułka, dem neuen Chef der Vereinigten Arbeiterpartei, wird die Zensur gelockert. Doch die Liberalisierung ist nur von kurzer Dauer. Nach wenigen Jahren dreht die Partei die Schrauben wieder fest. Tyrmands letztes, in den frühen 1960er-Jahren in Polen entstandenes Buch unter dem Titel "Gesellschafts- und Gefühlsleben" darf nicht erscheinen. Nicht so sehr deshalb, weil der Roman politisch unbequem ist, sondern vor allem, weil sich in ihm prominente Vertreter der hauptstädtischen Kulturszene erbarmungslos karikiert wiederfanden.
"Er hat ja die polnische kulturelle Elite ziemlich unverblümt beschrieben, kritisiert, bloßgestellt. Das hat man ihm nicht überall zugutegehalten, sondern er hat sich natürlich auch Gegner gemacht", sagt der Tyrmand-Übersetzer Peter Oliver Loew.
Er mutmaßt, warum Leopold Tyrmand, in Warschau endlich prominent und erfolgreich, schließlich doch an Emigration denkt:
"Das wurde ihm zu eng, das wurde ihm zu brav, zu sehr geregelt. Und so hat er dann für sich Wege gesucht, seine Rollen weiter spielen zu können, und das konnte er in Polen eben nicht mehr."
1965 geht er ins Wirtschaftswunderland
Im März 1965 verlässt Leopold Tyrmand Polen in seinem Auto der Marke Opel, das Manuskript seines damals noch unveröffentlichten Tagebuchs 1954 im Motorraum versteckt. Er fährt nach Westdeutschland, dorthin, wo er sich gut zwei Jahrzehnte zuvor als "Gastarbeiter" verdingt hatte, um den deutschen Vernichtungskrieg zu überleben. Und er beobachtet die Zustände in der Bundesrepublik:
"Heute sind die Hallen und Bahnsteige wieder voll von Griechen, Spaniern und Jugoslawen, die zwar in Diolen und Trevira gekleidet sind, deren Gesichter und Bewegungen jedoch an Polen, Belgier und Tschechen vor zwanzig Jahren erinnern. Ich habe den unbestimmten Eindruck, dass die Deutschen auch sie nicht sehr mögen und wieder die Zeit herbeisehnen, da die deutschen Bahnhöfe endlich wieder ruhig und überschaubar werden. Diesmal ist es jedoch nicht so einfach."
"Durch Tyrmands Brille kann man in verschiedene Welten schauen: den Zweiten Weltkrieg, den es immer wieder neu zu beschreiben gilt, das Leben in Warschau während der Stalin-Ära, Amerika. Tyrmands Leben war spannend." (Agata Tuszyńska, Schriftstellerin aus Warschau, Frauenrechtlerin, Autorin einer Tyrmand-Biographie, die ihren Helden kritisch sieht)
In der Wochenzeitung "Die Zeit" erscheinen 1965 Tyrmands Beobachtungen im Wirtschaftswunderland:
"Nach einleitenden Höflichkeitsfloskeln fragte er mich, ob ich zufällig auf Arbeitssuche sei. `Wissen Sie´, entgegnete ich tiefsinnig, das heißt zweideutig, `der Mensch sucht sein ganzes Leben lang eine Arbeit, die seine Anstrengung lohnt.´
`Fein´, freute sich mein Gegenüber. `Und was sind Sie von Beruf?´
`Schriftsteller.´
Er wurde nachdenklich und versank eine Weile in Schweigen. Dann sagte er: `Wie schade, dass Sie Schriftsteller sind! Wir benötigen so dringend Verkäufer in unserer Firma. Für die Konfektion. Das lässt sich sehr leicht erlernen´, setzte er hoffnungsvoll hinzu. Als er bei mir jedoch keinen Enthusiasmus entdeckte, lächelte er, um Entschuldigung bittend, und fügte scherzhaft hinzu: `Wissen Sie, so ist das eben mit den Ausländern. Nie sind sie so, wie man sie braucht.´"
Über Frankreich schließlich in die USA
"1965 hätte er in Deutschland bleiben können. Er hatte Kontakte zu deutschen Intellektuellen", sagt Peter Oliver Loew. "Aber es hat ihn in Deutschland nicht gehalten."
Leopold Tyrmand reist nach Frankreich, wo er vor dem Zweiten Weltkrieg studiert hatte und wo er nun mit dem linksliberalen polnischen Exilverlag "Kultura" Verbindung aufnimmt. Es hält ihn auch dort nicht. So wenig wie in Israel, wo seine Mutter lebt, zu der lange nur wenig Kontakt hatte und die er nun zum ersten Mal besucht.
Schließlich entscheidet er sich 1966 für die USA. Dort fasst er bald als politischer Autor englischer Sprache Fuß. Bekannt macht ihn seine Mitarbeit beim liberalen "New Yorker". Doch sein Amerika entdeckt er dort nicht, nur linke Intellektuelle, die den Krieg der USA in Vietnam kritisieren und in den Kommunisten nicht zwingend Feinde sehen.
Daraufhin sieht Tyrmand sein Amerika-Ideal, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, des Individualismus und aller kapitalistischer Freiheiten in Gefahr. Und er warnt die Amerikaner davor.
"Tyrmand war gekommen, um Amerika vor sich selbst zu schützen. Das hat er den Amerikanern von Beginn an gesagt, und das konnte nicht gut enden", sagt die polnische Schriftstellerin und Tyrmand-Biografin Agata Tuszyńska.
Späte Wandlung zum Konservativen und Reagan-Anhänger
In Rockford im Bundesstaat Illinois leitet Tyrmand seit 1976 ein Institut für konservative Politik, das Ronald Reagan nahesteht. Dort schimpft er über Hollywood, über die Verwahrlosung der Sitten, über Pornografie und über vieles, was die Kommunisten in Polen einst ihm vorgehalten haben.
"Das ist doch derselbe Mann, der jetzt Sex um des Sex willen brandmarkt, ihn geradezu bestrafen möchte. Tyrmands späte amerikanische Philosophie ist das genaue Gegenteil von dem, was er einst selbst praktiziert hat", sagt Agata Tuszyńska.
Und Peter Oliver Loew meint: "Es war keine zwangsläufige Entwicklung, dass am Ende auch Ronald Reagan ein Telegramm schrieb, in dem er Tyrmands Kampf für die Freiheit rühmte. Das ist dann so gekommen. Es hätte nicht so kommen müssen."
Vieles spricht dafür, dass Leopold Tyrmand seinen Antikommunismus gegen die liberale westliche Welt richtete, weil er sich von ihr unverstanden fühlte. Am 19. März 1985 erlag Tyrmand im Alter von 64 Jahren einem Herzinfarkt in Florida. Er hinterließ zwei vier Jahre alte Kinder und seine dritte – amerikanische – Ehefrau Mary Ellen Fox, die er 1971 geheiratet hatte.
Eine auch heute noch aufschlussreiche Lektüre
Leopold Tyrmand war ein bedeutender europäischer Autor des 20. Jahrhunderts. Er schrieb leidenschaftlich, provokant und mit Witz von den Abgründen, denen er selbst nur knapp entkommen war. Mit Vorliebe schwamm er gegen den Strom. Manchmal rettete er sich an ungewöhnliche Ufer.
Deutschland hat das Leben dieses polnischen Katholiken jüdischer Herkunft entscheidend beeinflusst.
Seine Entscheidung, ausgerechnet ins nationalsozialistische Deutschland überzusiedeln, um zu überleben, war mehr als wagemutig. Wie er in seinen Rollen, die er spielen musste, Deutschland und die Deutschen damals erlebte, ist eine auch heute höchst aufschlussreiche Lektüre. Die neue Übersetzung seines Romans "Filip" geht gerade in die zweite Auflage.