Schriftsteller Mahir Guven über Fanatismus

"Man darf die Freiheit nicht preisgeben"

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Der französische Schriftsteller Mahir Guven: "Zwei Brüder" ist sein erster Roman, mit dem er bereits mehrere Preise gewonnen hat, unter anderem den Prix Goncourt du premier roman 2018.
Der französische Schriftsteller Mahir Guven: Sein Debütroman "Zwei Brüder" wurde mehrfach ausgezeichnet, darunter 2018 mit dem den Prix Goncourt. © Julien Hekimian
Von Dirk Fuhrig |
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Ein Bruderpaar in den Pariser Banlieues: Der eine geht in den Dschihad, der andere kooperiert mit der Polizei. In seinem gefeierten Debütroman "Zwei Brüder" geht Mahir Guven der Frage nach, warum sich junge Menschen einer Ideologie unterwerfen.
"Zwei Brüder" – der eine zieht in den Krieg nach Syrien, der andere schlägt sich als Uber-Fahrer durch. Beide sind in der Banlieue von Paris aufgewachsen, haben die gleiche Sozialisation durchlaufen – aber nur der jüngere radikalisiert sich, während der ältere sogar mit der französischen Polizei zusammenarbeitet.
Mahir Guven hat in seinem preisgekrönten Debütroman die Hinwendung eines Jugendlichen zum Fundamentalismus sehr genau beschrieben. Der Autor wohnt nun in Hamburg-Winterhude, ganz oben in einem schönen Altbau. Es ist einer der ersten Frühlingstage.
"Ich lerne Deutsch seit November. Es hilft mir fürs Leben." Seine Freundin arbeitet seit vergangenem Herbst an einem Hamburger Forschungsinstitut. Mahir Guven ist ihr aus Paris hinterher gezogen. "Jetzt bin ich Hausmann."
Es ist eine Auszeit für ihn. Er hat sich ein Co-Working-Space gemietet, sitzt gern in den Cafés rund um die Alster und schreibt an einem neuen Buch.

Roman im "coolen" Banlieue-Jargon

Mahir Guvens Roman "Zwei Brüder" wurde in Frankreich als bester Debütroman ausgezeichnet. Und das trotz oder wegen des unkonventionellen Stils. Das Buch ist in einem "coolen" Banlieue-Jargon geschrieben.
"Die Sprache ist Ausdruck des Denkens. Der Roman ist in der ersten Person geschrieben, es ist ein Monolog. Alle Leute in meinem Alter, so um die 30, sprechen in der Jugendsprache, in diesem Argot. Künstler prägen heutzutage die Sprache auch sehr, vor allem die Rapper. Und da ich einen sehr realistischen Roman schreiben wollte, konnte ich keine zu ausgefeilte, zu literarische Sprache wählen. Also keinen Stil, den man nicht im Gespräch verwendet, sondern höchstens liest."
Mahir Guven wurde 1986 in Nantes an der Atlantikküste geboren. Seine Eltern stammen aus der Türkei, die sie nach dem Militärputsch 1980 verlassen haben.

Die Frage nach den Attentätern

In "Zwei Brüder" schildert er, dass sich junge Menschen, auch wenn sie in ähnlicher Umgebung aufgewachsen sind, ganz unterschiedlich entwickeln können.
"Der eine Bruder hat eine ausgezeichnete Schulbildung, aber er kommt auf die schiefe Bahn. Und der andere Bruder, der auf der Schule überhaupt nicht klar kam, schlägt sich mit seiner praktischen Intelligenz durchs Leben."
Der Roman zeichnet ein Milieu und eine familiäre Konstellation nach, wie sie auch bei den Attentätern vom Januar 2015 zu finden waren.
"Es waren auch zwei Brüder, die in Paris aufgewachsen waren, die das Attentat auf Charlie Hebdo begangen haben. Ihre Mutter hatte rein gar nichts mit dem Islamismus zu tun, sie war noch nicht einmal besonders religiös. Aber sie hatte sich ein bisschen prostituiert und mit Drogen gehandelt, daher hatte man ihr die beiden Kinder weggenommen und sie in ein Jugendheim gebracht. Sie wurden Kleinkriminelle, Rapper – und sind schließlich zum Islam konvertiert."

Intelligent - aber nicht für die Schule gemacht

Sie haben ihr Leben verbockt, meint Guven. Wie viele andere Banlieue-Kids seien sie aber auch das Ergebnis einer mangelhaften Bildungspolitik.
"Ich habe früher in einer Fußballmannschaft gespielt. Einer von uns, die Nummer 10, hatte keinerlei Ausbildung. Aber er war ungeheuer brillant – lustig, zynisch, hatte eine absolut originelle Sicht auf die Welt und konnte die unglaublichsten Metaphern erfinden. Er hatte ein Metier, das heutzutage ausgestorben ist – sein Beruf war das Klauen von Autoradios. Er war nicht für die Schule gemacht – beziehungsweise die Schule war für ihn nicht gemacht, obwohl er so intelligent war."
Blick auf mehrere Hochhäuser mit Sozialwohnungen eines Pariser Vororts, einer Banlieue. 
Blick auf mehrere Hochhäuser mit Sozialwohnungen eines Pariser Vororts, einer Banlieue. © Imago / IP3press
Die Pariser Attentäter stehen als vages Vorbild hinter Guvens Buch. Ihm geht es vor allem darum, die Mechanismen zu verstehen, die junge Menschen dazu bringen, sich einer Ideologie zu unterwerfen.
"Oft sind es die intelligenten Utopisten, die eine allzu romantische Sicht auf die Welt haben, die sie in Gut und Böse einteilen, die ihre Intelligenz verschwenden. Und das hat mich wirklich beschäftigt. Umso mehr, als ich auch selbst so eine Utopist hätte werden können. Als ich 20 war, träumte ich von Che Guevara und wollte Länder befreien."

Nachdenken über Fanatismus

Bei Guven sind die Utopien schon früh einem lebenspraktischen Realismus gewichen. Um aus dem Migrantenmilieu aufzusteigen, in das er hineingeboren wurde, studierte er Jura und Wirtschaft. Dann arbeitete er "in einem schönem Anzug", wie er selbstironisch erzählt, in der Pariser Bürostadt "La Défense", bevor ihn über den Umweg bei einer Zeitung die Liebe zur Literatur packte und er "Zwei Brüder" schrieb.
Im Gespräch betont er, wie wichtig es ihm ist, über Gewalt, Fanatismus und Religion nachzudenken:
"Wir dürfen nicht überreagieren. Man darf die Freiheit nicht preisgeben. Dazu gehört auch die Glaubensfreiheit. Ich selbst bin Atheist und habe sehr lange gebraucht, um tolerant zu werden. Früher dachte ich, die Gläubigen sind etwas weniger intelligent als ich. Heute bin ich der Meinung, jeder kann glauben oder machen, was er will. Und ich ertrage es nicht, wenn jemand einem anderen vorschreiben will, was er zu denken hat."

Hamburg - ganz anders als Paris

Sein jetziges Leben in Hamburg ist auf eine andere Weise spannend:
"Wir sind in Winterhude, im Norden von Hamburg, ein reiches Viertel. Sehr ruhig, ganz anders als Paris. In einem reichen Viertel in Paris gibt es keine Menschen mit Fahrrad und keine Kinder, die spielen und keinen Biomarkt."
Hier findet der Autor Zeit zum Lesen. Aber auch für ein neues Buch.
"Ich schreibe einen zweiten Roman. Es ist ein ganz anderes Thema, die Geschichte von einem Mann, der aufwacht in einer Welt, in der Frauen regieren."

Mahir Guven: "Zwei Brüder". Roman
Aus dem Französischen übersetzt von André Hansen
Aufbau Verlag, Berlin
282 Seiten, 20 Euro

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