"Als ich das Schloss umrundet hatte, fand ich ihn an derselben Stelle wieder, den Blick auf die Rosen geheftet. Mit geneigtem Kopf und ernstem Ausdruck kniff er die Augen zusammen, die Augenbrauen leicht hochgezogen wie bei angestrengter leidenschaftlicher Aufmerksamkeit, während er mit seiner linken Hand beharrlich das Ende seines kleinen schwarzen Schnurrbarts, an dem er kaute, zwischen seine Lippen schob."
Eine Erinnerung von Reynaldo Hahn an den zwanzigjährigen Marcel Proust. Auch Jahre später noch wird der Komponist immer wieder Zeuge der tranceartigen Zustände, in die sein Freund mitten im Alltag beim Betrachten von Natur und Kunst geraten konnte. Prousts siebenbändiges Werk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ist das Ergebnis seiner Kontemplationen. Tief lauschte er in Rosen, Kunstwerke – und Menschen hinein. "Der Roman ist eine Feier der Beobachtungsgabe, sowohl für Formen der Natur als auch für Formen des Gesellschaftlichen", sagt Ulrike Sprenger, Literaturprofessorin in Konstanz, die seit über 25 Jahren zum Werk von Marcel Proust forscht und publiziert.
Eine diffuse, ungeheure Sehnsucht
Heute gilt das Werk als Meilenstein der Literaturgeschichte, als "Jahrhundertroman", durch den die Literatur vom 19. ins 20. Jahrhundert geführt wird. Zunächst allerdings erntet Proust nur Unverständnis: "Lieber Freund, ich mag ja total vernagelt sein, aber mir will nicht in den Kopf, wie ein anständiger Mensch dreißig Seiten darauf verwenden kann zu beschreiben, wie er sich in seinem Bett dreht und wälzt, bevor er Schlaf findet." So schreibt ihm ein Verleger, an den Proust das Manuskript seines ersten Bandes, "In Swanns Welt", geschickt hatte. Schon für den zweiten Band aber erhält Proust 1919 mit dem Prix Goncourt die höchste literarische Auszeichnung Frankreichs.
Über 12 Jahre arbeitet Proust an seiner "Recherche du temps perdu". Der erste Band erscheint 1913, der letzte 1927, fünf Jahre nach Prousts Tod. Insgesamt umfasst der Romanzyklus 4000 Seiten. Auch das Figurenarsenal des Romanzyklus ist gewaltig: Es treten Herzoginnen und Diener, Ärzte und Künstler aller Couleur, Kokotten und Köchinnen, Chauffeure, Hoteldirektoren und Pagen auf. Über 200 Kunstwerke werden erwähnt, Gemälde und Kathedralen, Symphonien und Opern, Romane und Gedichte.
Trailer für die Verfilmung des letzten Bandes von Prousts Romanzyklus: "Le temps retrouvé" (Raúl Ruiz, 1995):
Prousts Erzähler heißt ebenfalls Marcel und seine Erfahrungen sind denen des Autors in vielerlei Hinsicht ähnlich, wenn auch nie ganz mit ihnen identisch, wie Ulrike Sprenger betont: "Das Thema ist nicht die erinnerte Welt, sondern das Thema ist, was das Erinnern mit jemandem macht, der sich erinnert." Der erste Band beginnt mit den schlaflosen Nächten des Erzählers und seinen Erinnerungen an seine Kindheit in Combray in den 1870er-Jahren: "Wir werden schon gleich am Anfang des Romans konfrontiert mit einer ungeheuren Sehnsucht, die sich aber gar nicht auf etwas Bestimmtes richtet", sagt Ulrike Sprenger. "Es ist jemand, der Sehnsucht hat nach all dem, was ihm verloren gegangen ist, der aber zugleich nicht weiß, was das ist."
Eine enge Beziehung zur Mutter
Marcel Proust wird am 10. Juli 1871 im noblen Pariser Stadtviertel Auteuil geboren. Hierhin war die Familie geflüchtet, als die Pariser Innenstadt wegen des Aufstands der Pariser Kommune zu unsicher wurde. Der Vater Adrien Proust ist katholisch und ein hoch angesehener Mediziner und Professor für Hygiene an der medizinischen Fakultät, die Mutter, Jeanne Weil, stammt aus großbürgerlicher jüdischer Familie.
Marcel Proust und Bruder Robert, um 1885.© picture-alliance / Leemage
"Mon petit loup", mein kleiner Wolf, nannte die Mutter Marcel Proust. Von Geburt an schwächlich, mit zehn an Asthma erkrankt, galt ihre ganze Aufmerksamkeit dem Erstgeborenen. Nach ihrem Tod schreibt er darüber: "Unser ganzes Leben war nichts anderes gewesen als eine Schulung, mit der sie mir beibrachte, an dem Tag, da sie mich verlassen würde, ohne sie auszukommen…"
Eine enge Mutterbeziehung hat auch der Erzähler der "Recherche". So beschreibt er, wie der Gutenachtkuss der Mutter als Kind sein "einziger Trost" war.
"Die Mütter und Großmütter lieben bei Proust vorbehaltlos und unbedingt, aber auch erstickend", sagt Ulrike Sprenger. "Man kann das eventuell auch auf die Biografie übertragen – solang diese Liebe besteht, richten sich alle Wünsche auf diese Liebe, die Sehnsucht nach der Mutter, aber sie ist eben auch eine Präsenz, die andere Lieben verunmöglicht, letztlich das Kind auch immer mit Schuld belastet, also eine durchaus problematische Liebe."
Das Madeleine-Erlebnis
Im Fokus des Romans steht das Thema des Erinnerns, insbesondere das der unwillkürlichen Erinnerung an scheinbar Vergessenes. Am bekanntesten ist wohl das inzwischen sprichwörtliche Madeleine-Erlebnis. Jahre nach dem Wegzug von Combray, an das er sich nur noch schemenhaft erinnert, kostet der Erzähler Marcel das in Tee aufgelöste Stück eines Madeleine-Gebäcks: "Und im gleichen Augenblick, in dem dieser Schluck, mit den Krümeln des Kuchens vermischt, meinen Gaumen berührte, fuhr ich zusammen, gebannt durch das Außergewöhnliche, das sich in mir vollzog. Eine freudige Erregung hatte mich durchströmt, völlig zusammenhanglos, ohne jeden Anhaltspunkt für ihre Ursache."
Das Gebäck löst im Erzähler eine starke Kindheitserinnerung aus – in Combray war ihm immer von seiner Tante Léonie in Tee aufgelöste Madeleine gereicht worden. Über mehrere Seiten beschreibt Proust dieses Erlebnis, das zum Ausgangspunkt eines ganzen Romans wird. Der Effekt, dass ein Geschmacks-, Hör- oder Geruchserlebnis plötzlich ganz bestimmte Erinnerungen hervorrufen kann, wird seither auch Proust-Effekt genannt.
"Offenbarung der Wirklichkeit"
An der Madeleine-Szene zeigt sich aber auch, wie Proust seine in den Romanen durchscheinende Autobiografie gezielt verfremdet hat, sagt Ulrike Sprenger: In Prousts Kindheit sei es nicht seine Tante, sondern sein Großvater gewesen, der das Gebäck gereicht habe – und zwar keine Madeleine, sondern geröstetes Brot. "In der Umformung sieht man, dass es ihm eben nicht auf die Wiedergabe eines Gegenstands oder eines Ereignisses aus der Vergangenheit ankommt, im Sinne einer Autobiografie, sondern dass es ihm darauf ankommt, wie solche Dinge erlebt werden, und dafür greift er ins Fiktive", so Sprenger.
Prousts Madeleine wäre fast ein Zwieback gewesen (Arte):
Keinen Roman, sondern ein "Instrument der Erkenntnis", hatte Marcel Proust im Auge, als er "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" schrieb. Jeder Leser sei der Leser seiner selbst, das war sein Credo. Sein Buch sah er als eine Art "Vergrößerungsglas", durch das der Leser die Möglichkeit habe, in sich selbst zu lesen. Prousts Romanzyklus versteht sich als "Offenbarung der Wirklichkeit", als ein Roman über Erfahrungen, die bei den meisten Menschen eher unbemerkt ablaufen. Offenbarungen über das Verhalten anderer – und das eigene Verhalten.
Wie eine Komödie von Molière
Besonders in seinen Beschreibungen gesellschaftlichen Verhaltens zeigt sich auch Prousts komische Ader. "In den Salonszenen kann man sehr schön seinen Humor sehen, zum Beispiel, wo er sie als Theaterszenen gestaltet", sagt Sprenger. "Das sind Szenen wie aus den Komödien von Molière. Da sind dann plötzlich Personen auf der Bühne von Proust, die sich selbst maßlos überschätzen oder irgendeiner idiosynkratischen Leidenschaft nacheifern."
Da gibt es etwa Marcels Freund Albert Bloch. Mit seiner empfindsamen Ausdrucksweise erscheint er wie eine Parodie des Erzählers – so antwortet er auf die Frage, ob es regne: "Monsieur, ich bin gänzlich außerstande Ihnen zu sagen, ob es regnet. Ich lebe so entschieden jenseits der physikalischen Zufälligkeiten, dass meine Sinne sich nicht die Mühe machen, mich zu benachrichtigen."
Schmerzhafte Selbstbeobachtung
Marcel Proust selbst fühlte sich bereits als Kind alt – und hatte das Gefühl, in seinem zarten Alter bereits über mehr Erfahrung zu verfügen als seine Eltern. Es gab nicht viele, denen er sich mitteilen konnte. In einem Brief an seinen von ihm verehrten Philosophielehrer Alphonse Darlu schreibt er über seine obsessive Selbstbeobachtung: "Ich kann kein uneingeschränktes Vergnügen mehr an dem finden, was mir früher meine höchste Freude war, an literarischen Werken. (…) Um mich aber zu heilen, kann ich nur mein Innenleben vernichten oder aber diesen unablässig auf mein Innenleben gerichteten Blick, und dies scheint mir schrecklich."
Der Brief des Sechzehnjährigen legt offen, wie schmerzhaft die Erkenntnisse und Fähigkeiten sind, die Proust jedoch später als Rüstzeug seines außergewöhnlichen Schreibens dienen werden: die Kunst, nach innen zu gehen, die Empfindungen, welche die Außenwelt in ihm auslöst, wahrzunehmen und dabei die innere Vielstimmigkeit auszuhalten.
Historisches Gruppenbild von Marcel Proust und seiner Mitschüler des Philosophiekurses von M. Darlu am Lycée Condorcet.© picture alliance / akg-images
Schon während der Schulzeit entdeckt Proust seine erotische Zuneigung auch zu Männern – und wird dafür von seinen Mitschülern zurückgewiesen. Die schulischen Erfahrungen der Ausgrenzung wegen seiner homosexuellen Neigungen mögen für Proust so traumatisch gewesen sein, dass er sich zeit seines Lebens nicht öffentlich dazu bekannte. Auch beim Schreiben seiner Romane war Proust sehr auf Diskretion bedacht. So ist nicht der Erzähler selbst homosexuell, sondern andere Figuren des Romans.
Die Erfahrung der Ausgrenzung spielt immer wieder eine Rolle im Romanzyklus, sagt Sprenger: "Proust beschäftigt sich sehr stark in den gesellschaftlichen Teilen des Romans mit sozialen Aspekten. Er ist kein gesellschaftsferner Ästhet. Im Gegenteil zeichnet er sehr genau auf, wie soziale Ein- und Ausgrenzung funktioniert." Zwar seien in den Pariser Salons zunächst Juden und Homosexuelle willkommen, aber Proust zeige auch den Opportunismus dieser Gesellschaft, "die den eigenen sozialen Aufstieg allem anderen überordnet, und wie sie in dem Augenblick, wo die politische Lage oder die politische Atmosphäre es erlaubt, dann radikal und brutal ausgrenzt".
Kind und alter Mann zugleich
Trotz Krankheit und Schuldgefühlen – es ist eine gute Zeit, die Marcel Proust nach Abschluss der Schulzeit mit seinen Eltern verbringt. Proust geht ins Theater, besucht Konzerte, Ausstellungen, Salons. Schreibt erste Erzählungen und Artikel. Und geht seinen Liebschaften nach. Wobei er immer wieder zu Dreierkonstellationen neigt und sich nicht längere Zeit auf einen Partner beschränken mag.
Marcel Proust 1892 auf dem Tennisplatz am Boulevard Bineau in Paris.© picture-alliance / Leemage
Erst nach dem Tod der Eltern – der Vater stirbt 1903, die Mutter zwei Jahre später – bezieht der 34-Jährige eine eigene Wohnung. Für sein Auskommen ist gesorgt, denn der Vater hatte es dank seiner Privatpatienten zu einem gewaltigen Vermögen gebracht. Durch die Erbschaft konnte er sich ohne finanzielle Nöte ganz seinem Roman widmen – und sich in den Pariser Salons einen Namen machen.
Prousts Wirkung in diesen Jahren beschreibt sein Schriftstellerkollege Edmond Jaloux so: "Es war unmöglich, sich nicht nach ihm umzudrehen, nicht frappiert zu sein von seiner ungewöhnlichen Physiognomie, an der von Natur aus alles die Maße zu übersteigen schien. Dazu kam noch etwas Verhaltenes, Geistesabwesendes. (…) Man befand sich gleichzeitig einem Kind und einem uralten Mandarin gegenüber." Proust lebte, was dem Erzähler seines Romans vorschwebte: das Kind von einst mit dem Erwachsenen von heute zu verbinden.
In seinen Büchern lebt er weiter
Im Frühjahr 1922 ruft Proust müde und lächelnd seine Haushälterin Céleste zu sich: "Es gibt eine große Neuigkeit. Heute Nacht habe ich das Wort ›Ende‹ geschrieben. (...) Jetzt kann ich sterben." Tatsächlich bleiben ihm bis zu seinem Tod nur noch ein paar Monate. Die letzten drei Bände seiner Recherche kann er selbst nicht mehr durchlesen und überarbeiten. Am frühen Abend des 18. November 1922 stirbt er im Beisein seiner Haushälterin Céleste und seines Bruders Robert. Seine Beisetzung wenige Tage später zieht zahlreiche Größen aus Kultur und High Society an.
"Jetzt kann ich sterben." Marcel Proust 1922 auf seinem Totenbett.© picture alliance / Heritage-Images / © Fine Art Images
Kurz nach der Beerdigung entdeckt Céleste, dass im Schaufenster einer Buchhandlung die bereits erschienenen Werke Prousts in jeweils drei Exemplaren präsentiert werden – und fühlt sich daran erinnert, was Proust selbst in einem Roman über einen fiktiven Schriftsteller schrieb: "Man begrub ihn, doch die ganze Trauernacht hindurch wachten in beleuchteten Vitrinen seine Bücher, zu dreimal dreien wie Engel mit gebreiteten Schwingen angeordnet, und schienen ein Symbol der Wiederauferstehung dessen zu sein, der nicht mehr war."
Das vollständige Manuskript dieser Langen Nacht finden Sie hier.
Produktion dieser Langen Nacht:
Autorin: Sabine Fringes; Regie: die Autorin; Sprecherinnen und Sprecher: Jonas Baeck, Burghart Klaußner, Hildegard Maier, Michael Rotschopf, Svenja Wasser; Redaktion: Dr. Monika Künzel; Webdarstellung: Constantin Hühn
Über die Autorin:
Sabine Fringes lebt in der Nähe von Köln. Sie schreibt Features, Reportagen, Hörspiele und führt Regie. Für ihr Feature über Komponistenpaare "Bis dass der Klang Euch scheidet" erhielt sie 2016 eine Auszeichnung beim Prix Europa in der Kategorie "Best European Radio Music". Zuletzt: "Gefiederte Musen. Musik, von Vögeln inspiriert" (WDR 2021).
Zum Weiterlesen:
Ulrike Sprenger: Das Proust-ABC
Reclam-Verlag, Stuttgart 2021
318 Seiten, 20 Euro
Jean-Yves Tadié: Marcel Proust
Aus dem Französischen von Max Looser
Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a.M. 2017
1265 Seiten, 34 Euro
Redaktioneller Hinweis: Die Sendung ist eine Wiederholung vom 11.7.2021.