Wie ein säkularer Jude die Türkei erlebt
Vor 500 Jahren floh Mario Levis jüdische Familie aus Spanien ins sichere Konstantinopel, das heutige Istanbul. Immer wieder erlebt der Schriftsteller Antisemitismus. Trotzdem möchte er in der Türkei bleiben.
Seit einigen Jahren ist das Pessachfest für Mario Levi besonders wichtig. Denn seit dem Tod seines Vaters veranstaltet er den traditionellen Seder-Abend. Bei diesem Festmahl im Familienkreis erinnern Juden an den Auszug der Israeliten aus Ägypten und deren Befreiung aus der Sklaverei.
"Es ist sehr traurig, weil wir so wenige sind. Am zweiten Seder-Abend kommen meine beiden erwachsenen Töchter zu mir. Wir feiern zusammen mit meiner Frau, meiner kleinen Tochter und meinem jüdischen Schwiegersohn. Ich spreche den Kiddusch über den Wein und lese nur Teile der 'Haggada', aber nicht auf Hebräisch, sondern auf Ladino."
Ladino ist die Sprache, die die Levis vor 500 Jahren aus ihrer Heimat Spanien mitbrachten und seitdem im Familienkreis sprechen. Levi übersetzt zwischendurch ins Türkische. Er muss pragmatisch sein, um die in der Familie verbliebenen Traditionen herüberzubringen.
Autor möchte das Judeo-Spanische bewahren
Dazu gehört eben auch das Ladino. Als Heranwachsender schämte sich Mario Levi dafür, dass seine Großeltern kein Türkisch sprachen. Erst nach deren Tod verbesserte er sein Ladino, so dass er es heute fließend spricht und sein nächstes Buch sogar in beiden Sprachen, Türkisch und Ladino, verfasst. Der Schriftsteller fühlt eine große Verantwortung für die Bewahrung des Judeo-Spanischen, Optimistisch ist Levi dabei nicht.
"Ladino wird nicht überleben. Es tut mir leid, aber es ist nur eine Frage der Zeit. Künftig wird man Ladino nur an der Universität studieren. Ich gehöre der letzten Generation an, die die Sprache noch zu Hause lernte – und ich bin 61."
Vor 500 Jahren war Istanbul, damals Konstantinopel, noch ein sicherer Hafen für Juden. Doch das hat sich verändert. Ein Erweckungserlebnis hatte Mario Levi am Holocaustgedenktag vor fünf Jahren als er einen Tweet schrieb:
"Ich war sehr naiv, als ich schrieb: 'Heute ist der Holocaustgedenktag. Das darf nie wieder geschehen'. Auf einmal bekam ich viele beleidigende Tweets zurück, wie zum Beispiel: 'Wenn es dir so schlecht geht, dann geh und bringe einige Palästinenser um'. Zuerst war ich überrascht: 'Was habe ich mit diesem Konflikt zu tun?', aber dann habe ich es akzeptiert: Es gibt türkische Antisemiten. Wichtig war, dass ich nicht nur 50 beleidigende Tweets, sondern auch 50 unterstützende Tweets erhielt."
Aufruf zum Boykott von Mario Levis Büchern
Während des Gazakriegs 2014 musste Mario Levi sogar eine Boykottaktion gegen ihn erleben. Manche Türken betrachten die türkischen Juden als israelische Aggressoren.
"Damals riefen manche Türken auf, meine Bücher zu boykottieren, weil ich jüdisch bin. Sie unterscheiden ja nicht zwischen Israelis und Juden, aber das passiert in ganz Europa. In diesem Protest gegen Israel steckt auch Antisemitismus. Anderseits stellte sich der türkische Kultusminister Ömer Çelik in den sozialen Medien öffentlich hinter mich. Er rief mich an und bot mir seine Hilfe an. Sobald er die Attacken in den Medien kritisierte, hörten diese auf."
Mario Levi ist ein säkularer Jude. Er ist kein Mitglied der jüdischen Gemeinde, lebt in einer Mischehe und geht nur zu Beerdigungen, Hochzeiten und am Fastentag Yom Kippur in die Synagoge. Aber Pessach feiert Levi, weil für ihn der Drang nach Freiheit die Essenz des Judentums ist. Den Pessach-Seder beenden Juden weltweit mit dem Spruch "im nächsten Jahr in Jerusalem". Auch Mario Levi?
"Spanien erinnert mich an das Ladino meiner Kindheit"
"Wir enden nicht mit diesen Worten, weil ich nicht daran glaube. Ich habe eine große Sympathie für die Existenz Israels, wo viele Intellektuelle leben und wo ich öfter zu Besuch bin. Wenn ich eines Tages gezwungen werde auszuwandern, wäre jedoch Spanien definitiv meine erste Option, weil ich die spanische Sprache und Kultur lieber mag. Das erinnert mich an das Ladino meiner Kindheit."
Diese Sehnsucht teilen wohl auch andere türkische Juden. 2015 bot Spanien den Nachfahren der geflüchteten Juden, die dies beweisen können, die spanische Staatsangehörigkeit an. 2017 berichtete die angesehene amerikanisch-jüdische Zeitung "Forward", dass knapp 4700 türkische Juden einen spanischen, portugiesischen oder israelischen Pass beantragt hätten. Allein 2017 gingen 400 türkische Juden weg – in die USA, nach Kanada und Israel, das sind fast drei Prozent der 15.000-Mitglieder starken Gemeinde.
Mario Levi betont, dass er und seine beiden erwachsenen Töchter ihre Zukunft in der Türkei sehen. Er will dort für mehr Freiheit kämpfen.
Falls man eines Tages türkische Frauen zwingen würde, ein Kopftuch zu tragen, würde Levi aus Protest in der Öffentlichkeit eine Kippa aufsetzen. Das wäre ihm der Kampf um die Freiheit in der Türkei wert.