"Er nimmt die Krise als Normalfall"
Pavel Kohout war einer der intellektuellen Stichwortgeber des Prager Frühlings und Unterzeichner der Charta 77 – dafür wurde er ausgebürgert. Nun wird der Schriftsteller 90 Jahre alt und schaut abgeklärt auf die politischen Verwerfungen in Europa.
Andrea Gerk: Václav Havel, Ota Filip und Pavel Kohout sind die wohl bekanntesten Schriftsteller im Umfeld des Prager Frühlings, der am 21. August vor 50 Jahren niedergeschlagen wurde. Kohout, der in dieser Woche seinen 90. Geburtstag feiert, war einer der intellektuellen Stichwortgeber des Sozialismus mit menschlichem Antlitz, und er erinnert sich so an die Ereignisse von 1968:
Pavel Kohout: Natürlich, wenn heute jemand die Entwicklung – ich meine '68 – beurteilt, dann glaubt er seinen Ohren und Augen nicht, weil das sind alles kommunistische Phrasen, was dort gesagt worden ist. Nur, das war eben das Spiel. Man durfte es den Sowjets nicht mit klaren Worten sagen, was da vor sich geht. Die Sowjets haben nämlich damals eigentlich geglaubt, dass die tschechoslowakische Reform ihnen hilft, weil die waren in einer solchen Misere – ökonomisch –, dass sie von der Tschechoslowakei erwarteten, dass man dort etwas findet, was auch den anderen und auch der Sowjetunion hilft. Deswegen sagte damals Breschnew das berühmte "Eto wasche djelo", "Das ist Ihre Sache" und ließ die Sache. Aber dann haben sie es natürlich schon langsam begriffen, dass das noch viel gefährlicher ist als die Barrikaden, und deswegen kamen dann die Panzer. Und wir, die meisten von uns, die sich also verantwortlich gefühlt hatten für alles, was da …, sind geblieben, weil weglaufen wäre eigentlich auch eine Art Selbstmord, zumindest für einen Schriftsteller.
Gerk: Sagt Pavel Kohout, der tschechische Schriftsteller, der in dieser Woche 90 Jahre alt wird, und der Autor Marko Martin hat ihn vor einigen Tagen in Prag besucht und ist jetzt bei mir im Studio. Hallo, guten Morgen!
Marko Martin: Guten Morgen!
Gerk: Sie haben ja ein ganz persönliches Verhältnis zu Pavel Kohout. Er tritt sogar in einer Ihrer Erzählungen auf, die ist im Band "Schlafende Hunde" erschienen. Wie kam das denn, dass Sie, als jemand, der ja nun doch deutlich jünger ist – Sie sind Jahrgang 1970 –, so fasziniert waren von diesem tschechischen Schriftsteller?
Martin: Als Jugendlicher in der DDR habe ich abends die Dokumentationen im Westfernsehen gesehen über den Prager Frühling und die Niederschlagung, und dann waren diese Leute, Václav Havel, Alexander Dubcek und Pavel Kohout, und das hat mich ungeheuer beeindruckt. Jetzt weniger der Experimentcharakter, ob der Sozialismus zu reformieren ist, sondern der Mut und der menschliche Anstand, gegen ein Betonsystem aufzubegehren, und dann kam 89, ich war schon im Westen, die Prager Revolution, die friedliche erfolgreiche Revolution fand statt. Ich war dann in Prag am 21. August 1990, als man dort zum ersten Mal der Niederschlagung des Prager Frühlings in Freiheit gedenken konnte, und dann waren die ganzen Helden meiner Jugend da – Pavel Kohout, Václav Havel, Dubcek –, und in diesem Alter, wenn man 19 ist und dann durch die Prager Kneipen tourt mit jungen tschechischen Studentinnen, mit jungen Aktivisten und dann die Alten trifft, die gleichzeitig herzensjung geblieben sind, ist das ein ungeheures intellektuelles, aber auch emotionales Initiationserlebnis, und das ist dann zum Sujet einer meiner Erzählungen geworden. Das heißt, man merkt, das ist ein ganz wichtiger Moment auch für die eigene Biografie.
"Er ist kein Grummelgreis geworden"
Gerk: Und war das jetzt auch ein emotionales Erlebnis für Sie, ihn jetzt als so alten Mann noch mal zu besuchen?
Martin: Ja, es war emotional, und es war nicht enttäuschend. Er ist kein Grummelgreis geworden, der jetzt monologisiert im Sinne, ich habe es schon damals gesagt, ich hatte recht, oder 'Ich, ich, ich…'. Nein, ein ganz höflicher Gentleman, dem man die 90 nicht ansieht. Also ich hoffe, dass ich mit 60 so gut beisammen bin wie Pavel Kohout mit 90.
Gerk: Pavel Kohout steht ja wie Václav Havel und andere Dissidenten auch wirklich für ein Stück Zeitgeschichte. Er war aber ja zunächst so ein glühender Jungstalinist und wurde erst dann zum intellektuellen Anführer im Prager Frühling. Wie kam denn das, was hat diese Wende, diese innere, bewirkt?
Martin: Das ist eine wichtige Frage, wobei ich hinzufügen muss, Václav Havel war kein Dissident. Dissident, das sind die Leute, dissidere, die weggehen. Pavel Kohout war immer schon ein liberaler Demokrat … Entschuldigung, Václav Havel war immer schon ein liberaler Demokrat, Pavel Kohout kam von der anderen Seite. Er war ein glühender Jungstalinist, der aus der Erfahrung von 1938, als die Westmächte die Tschechoslowakei an Hitler verraten haben, natürlich erst mal die Hoffnung bei der Sowjetarmee gesehen hat und in Stalin, bis er dann desillusioniert war und sagte, wir Kommunisten haben dem tschechischen Volk, der Gesellschaft, so viel Schlechtes angetan, jetzt müssen wir zumindest versuchen, das ein bisschen wieder gutzumachen und dann diesen Reformprozess einzuleiten, und, wie gesagt – Sie hatten es erwähnt –, er war dann einer der geistigen Stichwortgeber des Prager Frühlings.
Gerk: Jetzt hat er ja dann auch die Charta 77 mitbegründet und wurde 1979 mit seiner Frau ausgebürgert, konnte erst zehn Jahre später wieder nach Prag zurückgehen. Was hat er denn nach der Wende für eine Rolle gespielt, als sein Freund Havel ja Staatspräsident war?
Martin: Er hatte, wie er das in seiner Autobiografie beschreibt, ein kurzes Intermezzo auf der Prager Burg, das dauerte nur einige Stunden, dann war er wieder weg, und Pavel Kohout sagt, wer sich, wie er, in seiner Jugend so fundamental geirrt hat, soll Bücher schreiben, aber nicht zum Lehrmeister der Nation werden und nicht Politiker sein, und das hat er auch durchgehalten. Obwohl: Er hat ja sehr viel Reue gezeigt, wenn man dieses Wort verwenden darf – Sie haben es erwähnt, Charta 77 –, er war einer der mutigsten Intellektuellen in der Zeit der sogenannten Normalisierung, als dieser Betonkommunismus wiedergekommen ist und ganz wenige tschechische Künstler den Mut gefunden haben, gegen das Regime sich zu stellen. Und Pavel Kohout zählte zu diesen. Aber er hat, obwohl er das beschrieben hat, auch in dem wunderbaren Buch "Wo der Hund begraben liegt", daraus nicht die Schlussfolgerung gezogen, dass er jetzt berufen wäre, zum Politiker zu werden. Das hat er seinem Freund Vacek, also Václav Havel, überlassen, der ja nie Stalinist gewesen ist.
"Süffig lesenswerte Zeitdokumente"
Gerk: Aber wie spiegeln denn seine Werke diese Politik, die er ja doch auch aufgesogen hat? Er ist ja auch durchdrungen davon. Wie spiegelt sich das in seinen Theaterstücken und Romanen?
Martin: Auf eine faszinierende Weise, die eben nicht didaktisch ist, und aus diesem Grund glaube ich, dass ein Buch wie "Tagebuch eines Konterrevolutionärs", was 1969 kurz nach der Niederschlagung des Prager Frühlings entstanden ist, eines der ganz wichtigen literarischen Dokumente ist, um diese Zeit zu verstehen und auch die Irrwege von ostmitteleuropäischen Intellektuellen nachzuvollziehen. Das, was ich erwähnt hatte, das Buch "Wo der Hund begraben liegt" über die Zeit in der Charta 77, sind wichtige, lesenswerte, – ich würde geradezu sagen: süffig lesenswerte – Zeitdokumente, ganz zu schweigen von den Romanen und den Theaterstücken. Er kommt natürlich vom Theater, und er weiß zu plotten. Das heißt, man hat es nicht mit einer Thesenliteratur zu tun, sondern hier ist ein genuiner Erzähler, der auch sehr genau weiß, wie setzt er erzählerische Momente ein, wie kommt Atmosphäre in die Prosa, damit es eben nicht nur die gute Gesinnung ist.
Gerk: Wird er denn in Tschechien auch noch gelesen?
Martin: Es sind jüngere Leute, die ihn wiederentdecken, unter anderem mein Kollege Jaroslav Rudis, der einer der jüngeren tschechischen Gegenwartsliteraten ist, lädt ihn ein zu Lesungen, und er sagt, dieses Generationsding, dass man sich immer abgrenzen müsse von den Alten, ist eigentlich völlig unnötig, wenn der Esprit stimmt, und der Esprit muss liegen in der Neugierde, in einer humanen Neugierde gegenüber der Gesellschaft und eben nicht in Besserwisserei, und bei Pavel Kohout ist das nicht, und aus diesem Grund ist er stilistisch vielleicht nicht, aber intellektuell immer noch für viele, auch jüngere Intellektuelle ein Markierungspunkt.
Gerk: Und er nimmt ja auch noch aktiv geistig teil an dem, was aktuell politisch passiert. Wie guckt er denn auf sein Heimatland, wo ja doch auch ein deutlicher Rechtsruck passiert ist?
Martin: Ja, er sieht diese Querfront, die sich ja auch in Deutschland andeutet, im Anti-EU-Feeling, in Pro-Putin-Gestimmtheiten, zwischen Altlinks und Neorechts, und er beschreibt das. Er beschreibt das allerdings mit einer, – ich würde schon sagen: abgeklärten Souveränität, weil er hat zu viel erlebt, er hat 39 die Nazipanzer in Prag erlebt, er hat 1968 die Sowjetpanzer in Prag erlebt, er ist so viele Male in seinem Leben desillusioniert worden, sodass er die Krise als den Normalfall nimmt.
Er sagt, hätten wir denn wirklich allen Ernstes geglaubt, dass unsere EU immer so stabil bleibt? Natürlich wird gezerrt von Moskau, von der neuen Rechten. Er sagt, das ist aber sozusagen das, womit man rechnen muss, und es ist die Aufgabe des Schriftstellers und der Intellektuellen, sich dazu zu verhalten und nicht noch Öl ins Feuer zu gießen, sondern auf den Common Sense zu bestehen und das gleichzeitig in Worte zu kleiden, die nicht besserwisserisch und nicht didaktisch sind, sondern auf eine pragmatische und humane Weise überzeugen, und das macht er bis heute in einer ganz verblüffend luziden Weise.
Gerk: Marko Martin, danke für diese Eindrücke von Ihrem Besuch bei dem Schriftsteller Pavel Kohout, der an diesem Freitag seinen 90. Geburtstag feiert.
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