Schriftsteller

Philosophieren in Gedichten

Lars Gustafsson, schwedischer Schriftsteller und Philosoph, aufgenommen am 03.03.2012 in Mainz.
Lars Gustafsson, schwedischer Schriftsteller und Philosoph, aufgenommen 2012 © picture alliance / Erwin Elsner
Von André Hatting |
Zauberer, ironischer Skeptiker, Spieler und Suchender - all das ist Lars Gustafsson, auch noch mit 78 Jahren. In Deutschland hat den Autor vor allem Hans Magnus Enzensberger bekannt gemacht. Nun ist sein neuer Gedichtband erschienen.
Moor, Pferde, Gießkanne, Kartoffelsack – der Gustafsson-Wortschatz: klar und stark wie ein Herbsttag in Südschweden. Die Gustafsson-Grammatik: lyrische Prosa im Verssprung, bescheiden und basisdemokratisch. Seit er Gedichte schreibt, und das tut der mittlerweile 78-Jährige schon sehr lange, spürt der promovierte Philosoph das Besondere im Alltagsallgemeinen auf. Zum Beispiel in dieser alten "Halbdollarmünze, geprägt in St. Louis 1912", die irgendwann "in einer kleinen Schale aus grünem Glas" gelandet ist. Sie verliert an Wert, "während eigentlich nichts geschieht". Gustafssons fulminantes Schlussfazit: "Das meiste, das den Dingen geschieht,/ hat überhaupt nichts mit ihnen zu tun." Ein beeindruckender Aphorismus in Versform, kongenial übersetzt von Barbara M. Karlson.
Gustafssons Gedichte zu lesen bereitet auch deshalb so große Freude, weil er viele seiner Texte mit Humor verfeinert. "Frau Gauß, unsere gescheite Putzfrau" meint den Mathematiker Carl Friedrich Gauß und dessen Glockenkurve zur Normalverteilung. Gustafsson sieht darin einen langen Rock, mit dem die tyrannische "Schlossherrin" uns "in der spröden Langeweile/ des Mittelmaßes hält". Unter ihrem Rock verbirgt sie das Besondere, die Abweichung, das Unwahrscheinliche wie das "Kalb mit zwei Köpfen, den alten Mann im Wald/ der im Alter von 107 Jahren starb./ – vollständig glücklich –".
Gustafsson bleibt sich treu
"Philosophieren in Gedichten" hat Gustafsson seine Poetik einmal genannt. Sie hat ihn zu einem der beliebtesten schwedischen Gegenwartsautoren gemacht. Zum Glück ist er im aktuellen Band seiner Methode treu geblieben, denn der Titel lässt zunächst befürchten, Gustafsson kommt im Alterswerk verstärkt aufs Mythologische. Eines der schönsten Beispiele für sein "Philosophieren in Gedichten" ist "Aus den Erinnerungen eines Hobels":
"Unter der Oberfläche der Dinge
Verbirgt sich nichts anderes
als die Oberfläche der Dinge.
So lange wie etwas
von den Dingen übrig bleibt
ist es Oberfläche. Nichts anderes."
Vorn an der Front der (Sprach-)aufklärer
Freges "Logische Untersuchungen", Heideggers hermeneutische Ontologie, Wittgensteins Sprachphilosophie - das steckt alles in diesen sechs Zeilen über einen Hobel, gleichsam zum Wortbrühwürfel komprimiert, der sich in unserer Hirnschale auflöst und angenehm zum Denken verführt. Hier gibt es die große Philosophie zum Mitnahmepreis, das Proseminar in Gedichtform.
Genau das ist die Größe Gustafssons: Er löst das Versprechen der Lyrik auf eine Differenzqualität und ein Alleinstellungsmerkmal ein, ohne im wörtlichen Sinn exklusiv zu sein. Er schließt eben nicht aus, etwa durch formale Radikalität, sondern ein. Damit hat er die Nachkriegsavantgarden seinerzeit eingeholt, ohne sie zu überholen. Heute, wo viele sich wieder antik aufhübschen und Poesie mit Pose verwechseln, steht der gute alte Gustafsson plötzlich ganz vorn an der Front der (Sprach-)aufklärer.

Lars Gustafsson: Das Feuer und die Töchter. Gedichte
Aus dem Schwedischen von Barbara M. Karlson und Verena Reichel
Hanser Verlag, München 2014
104 Seiten, 15,90 Euro

Mehr zum Thema