Sylvain Tesson: "Der Schneeleopard"
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Rowohlt, Hamburg 2021
192 Seiten, 20 Euro
Unbeugsamer Freiheitsdrang
06:09 Minuten
Mehr als die Hälfte des Jahres ist Sylvain Tesson unterwegs - mit dem Fahrrad, zu Fuß oder auf Tourenski. Er sucht extreme Körpererfahrungen fernab der Zivilisation. Für sein Buch "Der Schneeleopard" hat er China, Tibet und die Mongolei bereist.
Als wir unser Interview führen, ist der 48 Jahre alte Schriftsteller für einen einzigen Tag in Paris. Er sitzt bei seinem Verlag Gallimard in einem Büro vor dem Computer-Bildschirm. Aber seine Gedanken drehen sich um neue Expeditionen: "Ich bin seit einiger Zeit dabei, die Alpen auf Tourenski zu überqueren", erzählt er. "Aufgebrochen bin ich am Mittelmeer. Und jedes Jahr nehme ich mir eine bestimmte Etappe vor."
Starker Hang zum Anarchischen
Am Tag nach unserem Gespräch will er sich gleich wieder auf in Richtung Schneegipfel machen. Dahin, wo man mit dem Sessellift nicht mehr hinkommt. "Die 'législation sanitaire', die Hygieneverordnungen, greifen ab einer bestimmten Höhe nicht mehr", meint Tesson verschmitzt. So viel ist klar: Er hat einen starken Hang zum Anarchischen.
Ganz oben herrscht die Freiheit. Dort kann man das Gefühl bekommen, man stehe außerhalb des Gesetzes - zumindest jenseits der administrativen Beschränkungen. Administration, Verwaltung: Sylvain Tesson bereiten solche Wörter offenbar fast körperliche Übelkeit. Sein unbeugsamer Freiheitsdrang ist auch ein Wesenszug seiner Literatur.
Für sein bislang erfolgreichstes Buch hatte Sylvain Tesson sich auf 4000 Metern über dem Meeresspiegel in Tibet auf die Lauer gelegt. Dort, wo der Schneeleopard zu Hause ist. Gemeinsam mit dem bekannten Tierfotografen Vincent Munier ist er wochenlang durch China, Tibet und die Mongolei gestreift. "Der Leopard zeigt sich so selten, daher ist die Begegnung mit ihm ein magischer Moment", sagt Tesson.
Der Leopard gähnt nur
In seinem Buch beschreibt er einen solchen Moment so: "Er erhob sich und reckte den Hals in unsere Richtung. Er hat uns gesehen, dachte ich. Und jetzt? Wird er sich auf uns stürzen? Er gähnte. So viel zur Wirkung des Menschen auf den tibetischen Leoparden."
Sylvain Tessons mitunter sehr tiefgründige Sätze werden häufig durch solch einen Schuss Lakonie gebrochen. Sein literarischer Zugang zur Natur ist durch die deutsche Romantik inspiriert.
"Ich liebe Novalis", sagt er, "die Idee, dass der Mensch über sich hinaus wachsen kann im körperlichen Kontakt mit der Natur. Die Wanderung, die Reise, die Bewegung führt zu Gedanken und zu Eingebungen. Goethe nennt es 'die Ernte' - das, was er auf seiner Italienischen Reise alles an sich rafft, in sich hineinstopft."
Tesson sucht das Ursprüngliche, den direkten Kontakt mit der Natur. Er ist ein Verfechter der Reduktion, des einfachen Lebens - ein Öko-Pionier also?
Er widerspricht: "Ich bin kein Warner. Ich sage niemandem, was er zu tun hat und verurteile auch keinen. Ich bin ganz einfach in einem Zustand solcher Hoffnungslosigkeit, dass ich keine Kraft habe für Politik."
Rückzug vom "mehr und mehr" des Konsums
Er wolle der Welt nichts hinterlassen, sagt Sylvain Tesson, nicht einmal eigene Kinder - seine Begründung ist etwas überraschend, originell ist sie allemal: "Das hat auch mit Höflichkeit zu tun. Ich will der Welt nichts hinzufügen, sie nicht noch weiter belasten. Dieses ewige 'mehr und mehr' an Meinungen und Überzeugungen, Vorschlägen und Programmen - wir brauchen mehr Ruhe."
Seine ganz persönliche Alternative zu Konsum und Wachstum ist der Rückzug. Vielleicht auch Resignation. Er wolle die Erde nicht verändern: "Ich bin kein Globalisierungsgegner, der sich für eine bessere Welt einsetzt. Ich gehe nicht demonstrieren, sondern entziehe mich. Ich bin ein 'Waldgänger', kein Revolutionär."
Statt sich als Aktivist zu betätigen, kultiviert der Schriftsteller seinen Ennui: den Abscheu vor der hypertechnisierten Gegenwart. Seine Expeditionen haben ihn immer möglichst weit davon weg geführt: nach Island, Indien oder Sibirien, in brennende Hitze oder klirrende Kälte - zu Fuß, mit dem Fahrrad, im Pferde-Treck.
Bevor er das Interview beendet, um sich auf seine Tour in die Abgeschiedenheit der Berge vorzubereiten, reflektiert der undogmatische Zivilisations-Kritiker:
"Wir sind winzige Elemente in einem System, dem wir uns unterwerfen. Wir lieben es, Konsumenten in einer Marktwirtschaft zu sein. Wir benutzen die modernen Technologien. Wir lieben es, die Sklaven dieser unserer Herren zu sein. Es gibt nur ein paar Wenige, die ihre Erkenntnisse in die Praxis umsetzen: Sie entziehen sich, sie verschwinden."