Was Marcel Proust so zeitlos macht
Marcel Proust wurde 1871 in Paris geboren, dort lebte er, dort starb er 1922 - und dort ist er begraben. In Köln treffen sich nun Mitglieder der deutschen Marcel-Proust-Gesellschaft. Autor Jörg Himmelreich erklärt, was er an dem Schriftsteller so schätzt.
Er ist eine Ikone der Weltliteratur. Jeder Kenner, der auf sich hält, raunt ehrfürchtig seinen Namen, nur wenige aber haben Marcel Proust gelesen. Umfasst doch sein Hauptwerk, der Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", 7 Bände und über 4000 Seiten.
Warum aber lohnt es sich, diese Fülle anzutun, zu lesen, was er zwischen 1909 bis zu seinem Tode 1922 aufgeschrieben hat - meist im Bett und stets nachts. Tagsüber lebte er in einem abgedunkelten Zimmer, um zu ruhen. "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen", so beginnt er den Roman und erzählt von Gedanken, die vor dem Einschlafen frei dahin schweifen, auch von vielen anderen Zimmer, in denen er schon eingeschlafen ist.
Gleich einer Einleitung werden so Orte vorgestellt, mit denen er persönliche Begegnungen, Beziehungen und Sinneseindrücke verbindet. Auf diese Weise begibt er sich auf die Suche nach längst vergangener, längst vergessener und deswegen unbewusster Erinnerung, die die Lebensgeschichte des Erzählers, der auch Marcel heißt, von der Kindheit bis zur Reife beherrscht. Denn die vergessene sei der beste Teil unserer Erinnerung.
Proust geht es dabei weniger um Ereignisse als vielmehr um Sinneseindrücke, die Begebenheiten und Personen hinterlassen. Wenn die literarische Figur Marcel ein Gebäckstück, die französische Madeleine, beim Nachmittagstee in eine Tasse tunkt, so ruft der Geschmack all jene Empfindungen herauf, die er schon als Junge bei den Großeltern gehabt hat, als er bereits damals die Madeleine derart genoss.
So bewegt sich die Suche nach der Erinnerung nicht in einer geradlinigen Handlungsfolge, sondern reiht Eindrücke und Rückbesinnungen aneinander.
Er bietet uns an, uns auch selbst tiefer zu verstehen
Marcels Sinneseindrücke ändern sich ständig. Sie hängen davon ab, ob er einer Person als Junge auf dem Lande begegnet oder viel später als Erwachsener beim mondänen Gesellschaftsempfang in Paris. Und wieder geht es Proust weniger um die konkrete Person als um Psychologie, um die Art und Weise, wie eine Person auf den Erzähler Marcel wirkt.
Er wird erwachsen, lernt die Kreise des französischen Hochadels und Großbürgertums der Jahrhundertwende immer besser kennen, durchschaut immer mehr das vielfältige Geflecht sozialer und gesellschaftlicher Beziehungen, trifft auf zahllose Vulgaritäten, aus denen jeder einzelne, dem er begegnet, zusammengesetzt ist.
Und er sieht, wie angesehene, vom ihm einst verehrte Spitzen dieser Gesellschaft an ihrem Lebensende der leeren Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit verfallen. Ihm dagegen gelingt es, sich die vergessene Erinnerung bewusst zu machen, die verlorene Zeit wiederzufinden und sie aufzuschreiben. Der Erzähler wird Schriftsteller und schafft sich selbst etwas Bleibendes, um das er weiß, das sich ihm nicht länger verbirgt.
Sich mit Marcel Proust auf die Suche nach der verlorenen Zeit zu begeben, ist deshalb so zeitlos lohnenswert. Sensibel stellt er die Innenwelt einer jeden der handelnden Personen dar, zeichnet die Vielfalt der Gefühlsbeziehungen nach, die diese unzähligen Personen untereinander haben und zeigt, wie all dies auf den Erzähler wirkt.
Kunstvoll holt er hervor, was tief verborgen im Inneren seiner Romanfiguren höchst lebendig ist, aber eben nicht nur in ihnen. In Wirklichkeit sei jeder Leser, wenn er lese, so jedenfalls empfand es Proust, ein Leser seiner selbst. Mit diesem Meisterwerk der Weltliteratur bietet er uns an, uns so auch selbst tiefer zu verstehen.
Jörg Himmelreich schreibt als Autor für die "Neue Zürcher Zeitung" und forscht zu kulturgeschichtlichen und außenpolitischen Themen Russlands und Asiens. Er war Mitglied des Planungsstabs des Auswärtigen Amts in Berlin sowie Gastdozent und politischer Berater in Washington, Moskau und London, und ist Mitglied der Marcel-Proust-Gesellschaft.