"Ich war ein Waisenkind mit zwei Eltern"
Der Vater in diesem autobiografischen Roman ist ihr eigener. Ein überzeugter Kommunist mit verschiedenen Geliebten und strammer Ideologie. Carmen-Francesca Banciu beschreibt in ihrem Prosagedicht "Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten!" sein Sterben und seine Unversöhnlichkeit.
Joachim Scholl: Carmen-Francesca Banciu ist im kommunistischen Rumänien geboren und aufgewachsen. Mit 35 Jahren verließ sie ihre Heimat, zog nach Berlin. Hier wurde sie zur Schriftstellerin von Romanen und Essays, eine deutsche Autorin zudem, schon wenige Jahre nach ihrem Weggang aus Rumänien hat sie auf Deutsch zu schreiben begonnen, auch die Romane "Vaterflucht" und "Das Lied von der traurigen Mutter", zwei autobiografisch grundierte Romane. Jetzt gibt es ein drittes, abschließendes Buch, "Lebt wohl, ihr Genossen und Geliebten. Tod eines Patrioten". Willkommen in der "Lesart" von Deutschlandfunk Kultur, Frau Banciu. Guten Tag!
Carmen-Francesca Banciu: Guten Tag und Danke für die Einladung!
Scholl: "Mein Vater ist ein kleiner alter Mann mit Glaskugeln in den Augenhöhlen." So beginnt Vaterflucht, der erste Roman, vor genau 20 Jahren ist er erschienen. Und dieser Satz kehrt jetzt fast wortwörtlich wieder. In Ihrem neuen Buch geht es um den Tod dieses Vaters. Was für ein Kreis hat sich hier geschlossen, Frau Banciu?
Banciu: Es hat sich ein Lebenskreis geschlossen, aber auch ein Kreis von Suchen und Finden und Sich-selbst-finden und Verstehen von Dingen, die einen so lange beschäftigt haben. Unter anderem, wie stark wirkt sich Ideologie auf das Leben einer Familie aus, wie kann Ideologie eine Familie trennen oder eben nicht trennen? – In meinem Fall eher trennen. Wer wird man, wenn man unter diesen Umständen aufgewachsen ist? Wie viel von all dem ist in einem drin, und wie viel ist man durch den Widerstand, den man täglich geleistet hat oder immer noch leistet wahrscheinlich? Und wer weiß, was noch alles.
Scholl: Jetzt sind Sie schon thematisch losgestürmt in Ihr Buch. Lassen Sie uns noch kurz über die Form vorher sprechen, Frau Carmen-Francesca Banciu, nämlich jetzt im Gegensatz zu den ersten beiden Romanen, kein Roman im Wortsinn geworden, im traditionellen Sinn, sondern eine Art Prosagedicht, eine Art Gesang vielleicht auch, also in rhythmisierten Einzeilern, das über 350 Seiten geht. Ihr Kollege György Dalos hat ein schönes Nachwort beigesteuert und hat vom "endlosen Requiem" gesprochen. Das finde ich einen sehr schönen Begriff. Warum haben Sie sich für diese Form entschieden?
"Was nicht gesagt wird, aber trotzdem drin ist"
Banciu: Mein Schreiben war schon immer geprägt dadurch, dass ich mich interessierte für eine klare, eine kristallklare Form, die geschliffen wird bis zu einem Diamanten sozusagen, indem man unzählige Facetten oder immer mehr Facetten sehen kann, und trotzdem ein sehr konzentriertes und starkes Element ist. Mein Schreiben hat sich immer mehr in die Richtung bewegt, also von einer etwas, sagen wir reicheren – relativ reichen. Mein Reichtum ist im Untertext, in Begriffen. Deswegen glaubt man, die Texte sehr leicht übersetzen zu können, aber sie sind eigentlich sehr schwer zu übersetzen, weil man muss mitübersetzen und im Text mitschwingen lassen all das, was nicht gesagt wird, aber trotzdem drin ist. Und das geschieht auch in der Entwicklung meines Schreibens, also dass immer mehr Gefühl, Erzähltes, Gedachtes, Reflektiertes drin ist, und trotzdem ist es in einem sehr knappen Satz ausgedrückt. Bis es zu der höchsten Form, würde ich sagen, des Ausdrucks kommt, zur Poesie. Und wenn man sich die Trilogie anschaut von "Vaterflucht" bis zum Ende, zum "Leb wohl", dann sieht man, dass hier ein kontinuierlicher Weg stattfindet Richtung Verknappung, Verdichtung, also Richtung Dichtung.
Scholl: Was passiert, ist schnell erzählt: Die Erzählerin heißt, wie in den anderen Büchern auch, Maria Maria. Der Vater ist jetzt Mitte 80, er ist auf der Straße gestürzt, ins Krankenhaus gekommen, und damit beginnt ein langes Sterben. Maria Maria wird in Deutschland angerufen, fährt dann nach Rumänien, ist aber beileibe nicht allein am Krankenbett, sondern da sind noch die Geliebten Rebekka und Daria, zwei Frauen, die nach dem Tod ihrer Mutter sich um diesen Vater gekümmert haben. Was ist das für eine Situation für Maria Maria, und im übertragenen Sinn auch für Sie als Tochter gewesen?
Banciu: Der Vater hat einen Unfall. Er ist jemand, der voller Energie ist, der voller Lebensmut, würde man sagen, und Hoffnung ist. Und plötzlich hat er einen Unfall, der ihn von heute auf morgen oder von jetzt auf jetzt sozusagen zum Pflegefall macht. Er kann aber damit nicht umgehen. Er kann das auch nicht akzeptieren. Er kann auch den Tod nicht akzeptieren. Er ist nicht vorbereitet dafür. Die Frauen, die ihn betreuen, die um ihn herum sind und mit denen Maria Maria in Konkurrenz tritt oder die mit ihr in Konkurrenz treten, sind die ewigen oder die Geliebten des Vaters und sie sind stellvertretend für eine Reihe von Geliebten, die der Vater gehabt hat in seinem Leben oder die er auch noch weiter hat. Denn sie begleiten ihn bis auf den Friedhof. Und es ist eine Auseinandersetzung mit einer – natürlich mit den Geliebten des Vaters einerseits, aber auch mit … - also gibt es Besitz in der Liebe? Oder was ist Liebe? Oder wieweit Liebe auch Leben und Alltag und Arbeit zusammen das Recht einem geben, zu glauben … Wie könnte ich das nur ausdrücken? Also diese Frauen, die haben auch keinen Moment lang ein Schuldgefühl, weil sie den Vater der Mutter entzogen haben, sondern sie glauben eben …
Scholl: Wir müssen, glaube ich, noch einwerfen, dass dieser Vater und Ihr Vater auch, Frau Banciu, einst ein hoher kommunistischer Funktionär im sozialistischen Rumänien war. Wir sehen jetzt einen verbitterten zornigen alten Mann, der auch auf seine Tochter ganz besonders zornig schaut, weil sie hat ihn verraten. Sie wird sogar als Vaterlandsverräterin bezeichnet. Frau Banciu, Sie haben diese Agonie Ihres Vaters selbst miterlebt. Konnten Sie denn am Ende doch noch so eine Art Versöhnung erreichen mit diesem Vater, der ja auch, glaube ich, völlig unbelehrbar jetzt auch auf die neuen Entwicklungen schaute?
"Im Kommunismus ist die Idee des Teilens ja so groß"
Banciu: Ich konnte versöhnt sein oder mich versöhnen mit dem Vater. Er konnte nicht mit mir. Also diese Versöhnung hat nie stattgefunden. Die Tochter oder – es ist ein autobiografischer Roman, aber trotzdem ist das jetzt nicht sehr wichtig zu wissen. Es ist nur eine Geschichte, die man aus der Insider-Perspektive erzählt. Aber dieses Leben ist oder dieses Zusammenleben und diese Familie ist ein exemplarische Familie für ein System. Die Art Leben in der Familie und außerhalb der Familie, auch mit den Geliebten, ist auch eine exemplarische Art von Leben, denn da ist im Kommunismus die Idee des Teilens ja so groß und das Vermischen von Arbeit und Alltag und Privatem. Es gibt ja kaum eine Trennung zwischen privat und beruflich. Deswegen ist das auch möglich, und deswegen findet so ein Leben statt, ohne dass es unbedingt verurteilt wird, also diese außerfamiliären Beziehungen.
Und für mich war dieser Vater, der nie vorhanden war, der immer sich entzogen hat, um höhere Ziele zu verfolgen und nicht in das kleine Glück der Familie, was etwas Frivoles gewesen wäre, das war auch einer der Gründe, warum ich diese Bücher geschrieben habe. Zu verstehen, warum ich zwei Eltern hatte und trotzdem ein Waisenkind war. Für mich war Versöhnung möglich, weil ich glaubte, zu verstehen. Er aber hatte nie die Bereitschaft, jemand anderen zu verstehen. Er war für die Ideologie und die Partei, das Vaterland, waren die höchsten Werte, und alles andere musste sich unterordnen.
Scholl: "Lebt wohl, ihr Genossen und Geliebten. Tod eines Patrioten." Das Buch von Carmen-Francesca Banciu ist in der Berliner Palm Art Press erschienen, hat 371 Seiten und kostet 25 Euro. Vielen Dank für Ihren Besuch, Frau Banciu!
Banciu: Danke schön!
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