"Wir sind erschöpft"
Sie bleibt widerständig: die türkische Schriftstellerin Ece Temelkuran. Die Erdogan-Kritikerin appelliert an Europa, Oppositionelle in der Türkei zu unterstützen. Die 43-Jährige ist aber beinahe am Ende ihrer Kräfte.
Als Schriftstellerin Ece Temelkuran neulich mit ihrer Mutter telefonierte, brach die in Tränen aus. "Ich will keine Heldin, sondern eine ganz normale Tochter", schluchzte die alte Dame. Temelkuran lacht, als sie die Episode im Garten ihrer Istanbuler Wohnung nacherzählt. Doch es ist ein bitteres Lachen. Denn wie berechtigt die Sorge ihrer Mutter ist, weiß die bekannte Erdogan-Kritikerin selbst am besten.
"Ja, man muss tatsächlich eine Heldin sein, um in der Türkei heute noch zu sagen was man denkt. Kein optimales Umfeld also um zu schreiben. Wenn Leute gezwungen werden Helden zu sein, ist das ein ganz schlechtes Zeichen für ein Land…"
Ece Temelkuran landete bisher nicht, wie so viele ihrer Kollegen, auf der Anklagebank eines Gerichts. Doch wie hoch der Preis für kritische Arbeit in der Türkei sein kann, erfuhr sie schon vor Jahren. Bis zum Jahr 2011 gehörte die studierte Juristin zu den bekanntesten Zeitungskolumnistinnen ihres Landes – unerschrocken, kritisch, umstritten.
Flucht in die Literatur
Als sie dann jedoch über einen Bombenangriff des türkischen Militärs berichtete, bei dem 36 Jugendliche starben, kurdische Jugendliche (!), verlor sie über Nacht ihren Job. Die folgende Hetzkampagne auf Twitter und Facebook, die Drohungen, Verleumdungen und Vorwürfe brachten sie an den Rand ihrer Kräfte. Statt weiterer Artikel schrieb sie in der Folge Romane. Eine Flucht? Ja, vielleicht. Temelkuran drückt nachdenklich die Zigarette aus. Eine Flucht vor allem vor Druck, Schnelligkeit und Ungenauigkeit der Massenmedien. Nicht aber vor unbequemen Themen.
"Ich habe immer daran geglaubt, dass es beim Schreiben vor allem darum geht, denen eine Stimme zu geben, die nicht gehört werden. Also beschloss ich zum Beispiel in meinen Büchern auf eine Art über die Armenier zu schreiben, wie es noch nie jemand getan hat, damit die Leute endlich zuhören. Genauso die Kurden. Das Problem ist, dass kaum ein Türke diejenigen wirklich kennt, die er da Terroristen nennt. Ich sage also: Ich werde euch von ihnen erzählen und ihr werdet merken, wie ähnlich ihr euch eigentlich seid."
12 Bücher, vor allem Romane, hat Temelkuran inzwischen geschrieben. Die meisten von ihnen zu den dunklen, unaufgearbeiteten und deswegen chronisch krank machenden Kapiteln der türkischen Geschichte. Sie sei die Psychologin der Türkei, sagen manche. Temelkuran schüttelt die Korkenzieherlocken. Von Selbstüberschätzung hält sie trotz zahlreicher Veröffentlichungen und Preise nichts.
Ist Burnout die Diagnose?
"Wenn dieses Land eine Seele hat, ja, dann versuche ich die zu beschreiben. Aber wahrscheinlich bin ich inzwischen weniger die Psychologin als eher selbst die Patientin. Vom vielen Beschäftigen mit diesem Land bin ich selbst verrückt geworden…"
Verrückt wirkt die sympathische 43-Jährige eigentlich nicht. Vielleicht aber wäre "Burnout" die Diagnose, die man nach einem Interview mit ihr stellen würde. Denn auch an Ece Temelkuran sind die Ereignisse der letzten Wochen und Monate nicht spurlos vorbeigegangen. Wer ihre bewusst Erdogan-kritische Streitschrift "Euphorie und Wehmut – Die Türkei auf der Suche nach sich selbst" aus dem vergangenen Jahr liest, der entdeckt darin bei allem Frust noch die angriffslustige und damit auch immer ein wenig hoffnungsvolle, zumindest aber kämpferische Journalistin.
Vor allem dann, wenn sie von den Gezi-Protesten im Jahr 2013 berichtet, den Sternstunden der türkischen Zivilgesellschaft. Deren Geist, so schrieb sie in Euphorie und Wehmut, hänge trotz allem immer noch über der Türkei… Mehrere Terroranschläge, ein weiterer Wahlerfolg für die AKP im November 2015 und natürlich der Putschversuch vom Sommer haben das geändert. Nach ihrer aktuellen Stimmung, ihren Gefühlen im Bezug auf die Türkei gefragt, antwortet Ece Temelkuran heute nicht angriffslustig, wütend oder gar hoffnungsvoll, sondern einfach nur erschöpft.
"In der letzten Zeit haben Leute wie ich das Gefühl, wir haben nichts erreicht. Wir haben nichts verändert, Wir haben verloren… Viele um mich haben jetzt nur noch einen Wunsch: Es soll einfach nur alles aufhören, wir kommen mit diesem ständigen Katastrophenzustand einfach nicht mehr klar. Die Türkei ist in eine Kategorie von Staaten abgerutscht, in der jeden Tag alles möglich scheint."
Wichtige Stimme in der Türkei
Diese Hoffnungs- und Ratlosigkeit, diese unendliche Erschöpfung – gerade unter denen, die so lange durchgehalten habe – ist das vielleicht Traurigste am aktuellen Zustand der Türkei. Keine Spur mehr vom so genannten Geist von Gezi, keine Spur von Neuanfang und Hoffnung auf ein besseres Morgen… Und doch wäre Ece Emelkuran nicht eine der wichtigsten Stimmen der Türkei, wenn sie so leicht aufgeben würde. Gerade in diesen Tagen erscheinen wieder vermehrt Artikel und Kolumnen von ihr in den wenigen verbliebenen nicht regierunstreuen Zeitungen am Bosporus. Und auch aus ihrer Kritik am Westen, dem sie wegen seiner jahrelangen Unterstützung für Erdogan und die AKP eine Mitverantwortung für die aktuelle Situation der Türkei vorwirft, macht sie keinen Hehl.
"Ich habe noch einen Rat an die Intellektuellen, die Politiker und die Medien in Europa: Sie sollten den Enthusiasmus, den sie jahrelang für die AKP und ihr Märchen von der islamischen Demokratie aufgebracht haben, nun endlich uns Oppositionellen entgegenbringen. Wie man in Zukunft mit der Türkei umgehen will, sollte zunächst eine philosophische, keine praktische, alltagspolitische Frage sein. Der Westen muss sich endlich entscheiden, wen oder was er eigentlich schützen will!"