Schriftstellerin Illouz: Ursachen eigener Gefühle gehen in Kindheit zurück
Wie geht man in modernen Gesellschaften mit Gefühlen um? Das ist das große Thema der israelischen Soziologin Eva Illouz, die sich auch in ihrem neuen Buch "Die Errettung der Seele" damit auseinandersetzt. Das sei "teilweise auch ein autobiografisches Buch", sagte Illouz.
Frank Meyer: Wie geht man in modernen Gesellschaften mit Gefühlen um? Das ist das große Thema der israelischen Soziologin Eva Illouz. Die Titel ihrer viel beachteten Bücher machen das schon klar: "Gefühle in Zeiten des Kapitalismus", so hieß ein Buch von Eva Illouz, "Der Konsum der Romantik" ein weiteres. Und jetzt gibt es ihr drittes Buch auf Deutsch, "Die Errettung der modernen Seele" heißt das.
Eva Illouz ist jetzt hier unserem Studio. In Ihrem neuen Buch geht’s um Ihre These, dass wir unsere Gefühle ja eigentlich nur noch in Schablonen wahrnehmen, in den Schablonen, die uns das therapeutische Denken vorgibt. Haben Sie das denn an sich selbst so erlebt, dass Sie Ihre Gefühle nur noch in Schablonen ausdrücken können?
Eva Illouz: Natürlich ist das teilweise auch ein autobiografisches Buch, das muss man sagen, und das sollte wahrscheinlich das Werk eines jeden guten Soziologen sein. Und ich habe wie jeder andere auch Schwierigkeiten mit romantischen Beziehungen gehabt und mich früher immer wieder gefragt, ob ich schon von Kindheit irgendwelche Erfahrungen gemacht habe, die dazu führten, dass ich diese Schwierigkeiten hatte, dass die Dinge nicht so liefen, wie ich es wollte.
Und da habe ich mich immer gefragt: Was ist an mir, dass das nicht funktioniert, warum läuft alles in die falsche Richtung? Was ich sagen möchte, ist, mit dem Ausdruck, Gefühle therapeutisch zu sehen, besteht darin, dass wir den Grund, die Ursache für unsere Gefühle, die wir haben, immer wieder in unserer Kindheit suchen. Die Wurzeln des Übels immer wieder in der Vergangenheit suchen und dann dahingehend versuchen, unsere Persönlichkeit zu verändern hin zu einer geistigen Gesundheit.
Meyer: Also das heißt, Sie untersuchen ja, wie das therapeutische Denken eigentlich die ganze Gesellschaft prägt, wie Unternehmen nach therapeutischen Prinzipien geführt werden, wie das Einwirkungen hat auf Ehe, auf Kindererziehung und so weiter. Wir müssten dafür erst mal erklären, was ist das eigentlich, dieses therapeutische Denken? Sie haben es schon gerade ein bisschen beschrieben, dass wir unsere Lebensgeschichte aus unserer Kindheit herleiten, dass wir uns selbst beobachten, uns fragen, was wir richtig machen, was wir falsch machen. Sind das schon die wichtigsten Bestandteile dieses therapeutischen Denkens?
Illouz: Es gibt viele verschiedene Dimensionen, seine Gefühle therapeutisch wahrzunehmen. Wenn wir uns die Vergangenheit angucken, Puschkin zum Beispiel starb im Alter von 37 in einem Duell oder Werther beging Selbstmord aus Liebeskummer. Dies sind zwei Arten, sich emotional zu verhalten, wie sie früher im 19. Jahrhundert als Erbe betrachtet wurden, einmal aus Ehre, sich einem Duell zu stellen, oder die Leidenschaft einer unmöglichen Liebe voll auszuleben.
Im 20. Jahrhundert sind diese Verhaltensweisen überhaupt nicht mehr akzeptiert. Jetzt geht es vielmehr darum, das Selbstinteresse festzustellen, seine eigenen Bedürfnisse zu kennen, zu merken, was man überhaupt für eine Person ist, denn jetzt heißt es: Was du bist, bestimmt dein Handeln. Und das zeigt eine Bewegung zu einem nunmehr fast utilitaristischen Blick auf die Psyche.
Also die eigenen Bedürfnisse stehen im Vordergrund, die Gefühle werden beobachtet und kontrolliert, und ganz wichtig ist es, man darf nicht leiden. Das ist jetzt der therapeutische Blickwinkel von heute. Das Leiden wird als pathologisch betrachtet und als ein Zeichen von einer pathologischen Krankheit, also als ungesund, und in diesem Sinne muss es abgeschafft werden.
Meyer: Wenn Sie sagen, wir kontrollieren heute unsere Gefühle, wir beobachten die, heißt das auch, ja wir halten uns eigentlich Gefühle vom Leib, wir wollen keine Leidenschaften mehr haben, wir wollen keine unkontrollierbaren Gefühle mehr haben?
Illouz: Hier muss ich das ein bisschen präzisieren. Also dieser therapeutische Blickwinkel beinhaltet zwei widersprüchliche Thesen: Also einmal, wenn man zurückblickt, die Gefühle am Arbeitsplatz, heutzutage soll man sie kontrollieren.
Früher waren in den Fabriken die Vorarbeiter häufig sehr aggressiv, haben ihre Untergebenen angeschrien, wenn sie wütend waren. Und im 20. Jahrhundert ist so ein Verhalten natürlich nicht mehr gerne gesehen. Also heute sollen Sie diese Aggressionen, diese aggressiven Gefühle nicht mehr so ausleben, wie Sie das früher getan haben. Und in der Ehe ist das vielleicht ähnlich. Der therapeutische Rat, den Ehepartner, die Probleme haben, heutzutage bekommen, besteht oft darin, dass sie ihren Ärger nicht so bedrohlich für den anderen, für den Partner ausdrücken sollen, dass sie lernen sollen, ihre Forderungen so zu formulieren, dass sie niemanden in die Enge treiben.
Man soll immer auch ausdrücken können, wer man ist, man soll selbstbewusst auftreten, man soll zu sich stehen. Schüchternheit wird in diesem Sinne als krankhaft betrachtet, als soziale Angst und als negativ eingestuft. Früher war das noch eine Tugend, schüchtern zu sein oder zurückhaltend zu sein, und heute sagen die Psychologen, zeig, wer du bist, sag, was du bist. Und dies spiegelt für mich ein Hin und Her zwischen einerseits einem geforderten emotionalen Ausdruck und andererseits einer geforderten emotionalen Kontrolle.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit der israelischen Soziologin Eva Illouz über die Disziplinierung unserer Gefühle durch das therapeutische Denken. Ich fand besonders interessant, was Sie über die Liebe geschrieben haben in Ihrem Buch, Sie haben es auch gerade schon angesprochen: Wenn Mann und Frau heute aufeinandertreffen, eine Beziehung führen, so beschreiben Sie das, so haben wir ja heute Regeln, wie man Gefühle äußern soll.
Man soll sie besprechen, man soll sie rational fassbar machen. Und Sie beschreiben das so in Ihrem Buch, dass diese rational erfassten Gefühle ja fast wie etwas Drittes zwischen Mann und Frau treten und damit eine unmittelbare Beziehung, unmittelbare Gefühle zwischen den beiden ja erschweren, wenn nicht unmöglich machen. Heißt das jetzt, das therapeutische Denken macht uns auch noch die Liebe kaputt?
Illouz: Einerseits macht diese therapeutische Sicht es schwerer für die Menschen, sich dafür zu entscheiden, mit jemandem zusammenzuleben, und andererseits macht es den Umgang mit Konflikten in einer Beziehung leichter. Also um auf das Erste zurückzukommen: Es macht es deshalb schwerer, sich zu entscheiden, früher war das so, dass man nach den Eigenschaften einer Person fragte: Wie sieht der Mensch aus, was hat er für einen Charakter, was ist das für ein Mensch? Heute hat man extrem elaborierte Ansprüche an die Menschen – einerseits physisch, man hat eine genaue Vorstellung davon, wie zum Beispiel die Hüften oder die Haare eines Menschen aussehen sollen, sehr präzise, das geht bis in den emotionalen sexuellen Bereich, auch in den Bereich des Lebensstils.
Also die Auswahl der Leute, die für einen überhaupt infrage kommen, ist dadurch viel geringer. Leichter macht es dieser therapeutische Blick im Hinblick auf die Lösung von Konflikten. Da, denke ich, ist im 20. Jahrhundert sehr viel erreicht worden. Die Psychologie und die therapeutische Sichtweise hat dabei hilfreiche Techniken geschafft, wie Menschen miteinander kommunizieren können, wie sie Konflikte lösen können, wie sie lernen, einander zuzuhören, miteinander zu sprechen. Ich denke, das ist eine große kulturelle Errungenschaft, diese Erschaffung von Empathie.
Meyer: Wir sollten unterwegs auch einmal klären, ist das eigentlich ein Luxusproblem, worüber wir hier reden, dieses unter den Einfluss des therapeutischen Denkens geraten, ist das das Problem von Menschen, die den Luxus haben, zum Therapeuten zu rennen, sich ausgiebig mit ihrer eigenen Psyche zu beschäftigen, oder betrifft das mehr Menschen?
Illouz: Ja, es ist ein Luxusproblem, aber es ist nicht ein Luxusproblem, das nur wenige Leute betrifft. Im Vergleich zu Leuten, die in Armut leben oder in schlechten gesellschaftlichen Bedingungen, ist das natürlich ein Luxusproblem, aber ich denke, es betrifft auch eine große Sphäre der Gesellschaft. Ich denke, dass das therapeutische Denken das Denken der Mehrheit von Leuten in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen ist. Nehmen wir zum Beispiel einen Schulpsychologen oder einen Ratgeber, der für Schulen arbeitet.
Leute, die sich dort die Kinder ansehen, die betrachten oft ein Kind, das lauter oder wilder ist als andere, gleich als unangepasst und geben ihm den Stempel ADS, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Damit wird dieses Kind kategorisiert. Das Kind wird als unangepasst gebrandmarkt, erst mal schulisch, aber das kann sich dann auch später auf das ganze Leben auswirken. Die Soziologie hat sich meiner Ansicht nach bisher zu sehr auf die materielle Not beschränkt. Ich denke, dass man dabei die emotionale Not nicht vernachlässigen darf. Die Ungleichheiten bei der emotionalen Zufriedenheit und im Glück in der Gesellschaft darf man nicht vernachlässigen.
Meyer: Ihr Buch ist ja eher ein beschreibendes Buch, Sie stellen die Dinge fest, Sie beurteilen sie ganz selten politisch oder moralisch, aber Sie stellen doch ein ziemliches Dilemma fest, in dem wir heute stecken, dank des therapeutischen Denkens, unter anderem, dass wir uns selbst so als Projekt wahrnehmen und immer krampfhaft an der eigenen Selbstvervollkommnung arbeiten müssen. Ich habe mich deshalb auch gefragt, wo ist der Ausweg, gibt es einen Ausweg, würde vielleicht schon helfen, ein bisschen weniger über sich selbst nachzudenken?
Illouz: Ich wusste, dass diese Frage kommen würde. Ich denke, wir müssen verstehen, dass das, was wir über uns denken oder wie wir über uns nachdenken, uns einerseits helfen kann, andererseits aber auch nicht, und dass das Glück keinesfalls davon abhängt, wie viel wir uns über uns selbst Gedanken machen oder wie stark unsere Innenwahrnehmung, unsere Innensicht ist. Ich denke natürlich auch nicht, dass ein völlig unbewusstes Leben besser ist.
Ich verfolge schon noch die Linie, dass man ein bewusstes Leben leben sollte. Aber viele interessante Forschungen haben bisher gezeigt, dass nicht wirklich das bewusste Denken uns steuert, sondern dass das eher nicht bewusste, jetzt nicht unbewusste, sondern sogenannte nicht bewusste Denkweisen sind, Reaktionsweisen sind, die wir automatisiert haben, irgendwann angelernt haben, die unsere Handlung steuern, und das oft effektiver als die Innensicht und die permanente Selbstbespiegelung das tun würde. Wir wissen nicht von Anfang an, was uns im Leben wie reagieren lässt. Wir erfahren das erst Stück für Stück durch Ausprobieren, durch empirische Feststellungen. Also, ich verlange nicht, dass man aufhört zu denken, sondern ich möchte, dass die Grenzen des Denkens klarer wahrgenommen werden, die Grenzen der Funktion des Denkens über sich selbst.
Meyer: Das therapeutische Denken bestimmt unser Leben, sagt die israelische Soziologin Eva Illouz. Herzlichen Dank für das Gespräch, thanks a lot!
Illouz: Thank you very much!
Meyer: Mareille Amir war unsere Dolmetscherin bei diesem Interview. Das Buch von Eva Illouz heißt "Die Errettung der modernen Seele", es ist im Suhrkamp-Verlag erschienen und kostet 26,80 Euro.
Eva Illouz ist jetzt hier unserem Studio. In Ihrem neuen Buch geht’s um Ihre These, dass wir unsere Gefühle ja eigentlich nur noch in Schablonen wahrnehmen, in den Schablonen, die uns das therapeutische Denken vorgibt. Haben Sie das denn an sich selbst so erlebt, dass Sie Ihre Gefühle nur noch in Schablonen ausdrücken können?
Eva Illouz: Natürlich ist das teilweise auch ein autobiografisches Buch, das muss man sagen, und das sollte wahrscheinlich das Werk eines jeden guten Soziologen sein. Und ich habe wie jeder andere auch Schwierigkeiten mit romantischen Beziehungen gehabt und mich früher immer wieder gefragt, ob ich schon von Kindheit irgendwelche Erfahrungen gemacht habe, die dazu führten, dass ich diese Schwierigkeiten hatte, dass die Dinge nicht so liefen, wie ich es wollte.
Und da habe ich mich immer gefragt: Was ist an mir, dass das nicht funktioniert, warum läuft alles in die falsche Richtung? Was ich sagen möchte, ist, mit dem Ausdruck, Gefühle therapeutisch zu sehen, besteht darin, dass wir den Grund, die Ursache für unsere Gefühle, die wir haben, immer wieder in unserer Kindheit suchen. Die Wurzeln des Übels immer wieder in der Vergangenheit suchen und dann dahingehend versuchen, unsere Persönlichkeit zu verändern hin zu einer geistigen Gesundheit.
Meyer: Also das heißt, Sie untersuchen ja, wie das therapeutische Denken eigentlich die ganze Gesellschaft prägt, wie Unternehmen nach therapeutischen Prinzipien geführt werden, wie das Einwirkungen hat auf Ehe, auf Kindererziehung und so weiter. Wir müssten dafür erst mal erklären, was ist das eigentlich, dieses therapeutische Denken? Sie haben es schon gerade ein bisschen beschrieben, dass wir unsere Lebensgeschichte aus unserer Kindheit herleiten, dass wir uns selbst beobachten, uns fragen, was wir richtig machen, was wir falsch machen. Sind das schon die wichtigsten Bestandteile dieses therapeutischen Denkens?
Illouz: Es gibt viele verschiedene Dimensionen, seine Gefühle therapeutisch wahrzunehmen. Wenn wir uns die Vergangenheit angucken, Puschkin zum Beispiel starb im Alter von 37 in einem Duell oder Werther beging Selbstmord aus Liebeskummer. Dies sind zwei Arten, sich emotional zu verhalten, wie sie früher im 19. Jahrhundert als Erbe betrachtet wurden, einmal aus Ehre, sich einem Duell zu stellen, oder die Leidenschaft einer unmöglichen Liebe voll auszuleben.
Im 20. Jahrhundert sind diese Verhaltensweisen überhaupt nicht mehr akzeptiert. Jetzt geht es vielmehr darum, das Selbstinteresse festzustellen, seine eigenen Bedürfnisse zu kennen, zu merken, was man überhaupt für eine Person ist, denn jetzt heißt es: Was du bist, bestimmt dein Handeln. Und das zeigt eine Bewegung zu einem nunmehr fast utilitaristischen Blick auf die Psyche.
Also die eigenen Bedürfnisse stehen im Vordergrund, die Gefühle werden beobachtet und kontrolliert, und ganz wichtig ist es, man darf nicht leiden. Das ist jetzt der therapeutische Blickwinkel von heute. Das Leiden wird als pathologisch betrachtet und als ein Zeichen von einer pathologischen Krankheit, also als ungesund, und in diesem Sinne muss es abgeschafft werden.
Meyer: Wenn Sie sagen, wir kontrollieren heute unsere Gefühle, wir beobachten die, heißt das auch, ja wir halten uns eigentlich Gefühle vom Leib, wir wollen keine Leidenschaften mehr haben, wir wollen keine unkontrollierbaren Gefühle mehr haben?
Illouz: Hier muss ich das ein bisschen präzisieren. Also dieser therapeutische Blickwinkel beinhaltet zwei widersprüchliche Thesen: Also einmal, wenn man zurückblickt, die Gefühle am Arbeitsplatz, heutzutage soll man sie kontrollieren.
Früher waren in den Fabriken die Vorarbeiter häufig sehr aggressiv, haben ihre Untergebenen angeschrien, wenn sie wütend waren. Und im 20. Jahrhundert ist so ein Verhalten natürlich nicht mehr gerne gesehen. Also heute sollen Sie diese Aggressionen, diese aggressiven Gefühle nicht mehr so ausleben, wie Sie das früher getan haben. Und in der Ehe ist das vielleicht ähnlich. Der therapeutische Rat, den Ehepartner, die Probleme haben, heutzutage bekommen, besteht oft darin, dass sie ihren Ärger nicht so bedrohlich für den anderen, für den Partner ausdrücken sollen, dass sie lernen sollen, ihre Forderungen so zu formulieren, dass sie niemanden in die Enge treiben.
Man soll immer auch ausdrücken können, wer man ist, man soll selbstbewusst auftreten, man soll zu sich stehen. Schüchternheit wird in diesem Sinne als krankhaft betrachtet, als soziale Angst und als negativ eingestuft. Früher war das noch eine Tugend, schüchtern zu sein oder zurückhaltend zu sein, und heute sagen die Psychologen, zeig, wer du bist, sag, was du bist. Und dies spiegelt für mich ein Hin und Her zwischen einerseits einem geforderten emotionalen Ausdruck und andererseits einer geforderten emotionalen Kontrolle.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit der israelischen Soziologin Eva Illouz über die Disziplinierung unserer Gefühle durch das therapeutische Denken. Ich fand besonders interessant, was Sie über die Liebe geschrieben haben in Ihrem Buch, Sie haben es auch gerade schon angesprochen: Wenn Mann und Frau heute aufeinandertreffen, eine Beziehung führen, so beschreiben Sie das, so haben wir ja heute Regeln, wie man Gefühle äußern soll.
Man soll sie besprechen, man soll sie rational fassbar machen. Und Sie beschreiben das so in Ihrem Buch, dass diese rational erfassten Gefühle ja fast wie etwas Drittes zwischen Mann und Frau treten und damit eine unmittelbare Beziehung, unmittelbare Gefühle zwischen den beiden ja erschweren, wenn nicht unmöglich machen. Heißt das jetzt, das therapeutische Denken macht uns auch noch die Liebe kaputt?
Illouz: Einerseits macht diese therapeutische Sicht es schwerer für die Menschen, sich dafür zu entscheiden, mit jemandem zusammenzuleben, und andererseits macht es den Umgang mit Konflikten in einer Beziehung leichter. Also um auf das Erste zurückzukommen: Es macht es deshalb schwerer, sich zu entscheiden, früher war das so, dass man nach den Eigenschaften einer Person fragte: Wie sieht der Mensch aus, was hat er für einen Charakter, was ist das für ein Mensch? Heute hat man extrem elaborierte Ansprüche an die Menschen – einerseits physisch, man hat eine genaue Vorstellung davon, wie zum Beispiel die Hüften oder die Haare eines Menschen aussehen sollen, sehr präzise, das geht bis in den emotionalen sexuellen Bereich, auch in den Bereich des Lebensstils.
Also die Auswahl der Leute, die für einen überhaupt infrage kommen, ist dadurch viel geringer. Leichter macht es dieser therapeutische Blick im Hinblick auf die Lösung von Konflikten. Da, denke ich, ist im 20. Jahrhundert sehr viel erreicht worden. Die Psychologie und die therapeutische Sichtweise hat dabei hilfreiche Techniken geschafft, wie Menschen miteinander kommunizieren können, wie sie Konflikte lösen können, wie sie lernen, einander zuzuhören, miteinander zu sprechen. Ich denke, das ist eine große kulturelle Errungenschaft, diese Erschaffung von Empathie.
Meyer: Wir sollten unterwegs auch einmal klären, ist das eigentlich ein Luxusproblem, worüber wir hier reden, dieses unter den Einfluss des therapeutischen Denkens geraten, ist das das Problem von Menschen, die den Luxus haben, zum Therapeuten zu rennen, sich ausgiebig mit ihrer eigenen Psyche zu beschäftigen, oder betrifft das mehr Menschen?
Illouz: Ja, es ist ein Luxusproblem, aber es ist nicht ein Luxusproblem, das nur wenige Leute betrifft. Im Vergleich zu Leuten, die in Armut leben oder in schlechten gesellschaftlichen Bedingungen, ist das natürlich ein Luxusproblem, aber ich denke, es betrifft auch eine große Sphäre der Gesellschaft. Ich denke, dass das therapeutische Denken das Denken der Mehrheit von Leuten in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen ist. Nehmen wir zum Beispiel einen Schulpsychologen oder einen Ratgeber, der für Schulen arbeitet.
Leute, die sich dort die Kinder ansehen, die betrachten oft ein Kind, das lauter oder wilder ist als andere, gleich als unangepasst und geben ihm den Stempel ADS, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Damit wird dieses Kind kategorisiert. Das Kind wird als unangepasst gebrandmarkt, erst mal schulisch, aber das kann sich dann auch später auf das ganze Leben auswirken. Die Soziologie hat sich meiner Ansicht nach bisher zu sehr auf die materielle Not beschränkt. Ich denke, dass man dabei die emotionale Not nicht vernachlässigen darf. Die Ungleichheiten bei der emotionalen Zufriedenheit und im Glück in der Gesellschaft darf man nicht vernachlässigen.
Meyer: Ihr Buch ist ja eher ein beschreibendes Buch, Sie stellen die Dinge fest, Sie beurteilen sie ganz selten politisch oder moralisch, aber Sie stellen doch ein ziemliches Dilemma fest, in dem wir heute stecken, dank des therapeutischen Denkens, unter anderem, dass wir uns selbst so als Projekt wahrnehmen und immer krampfhaft an der eigenen Selbstvervollkommnung arbeiten müssen. Ich habe mich deshalb auch gefragt, wo ist der Ausweg, gibt es einen Ausweg, würde vielleicht schon helfen, ein bisschen weniger über sich selbst nachzudenken?
Illouz: Ich wusste, dass diese Frage kommen würde. Ich denke, wir müssen verstehen, dass das, was wir über uns denken oder wie wir über uns nachdenken, uns einerseits helfen kann, andererseits aber auch nicht, und dass das Glück keinesfalls davon abhängt, wie viel wir uns über uns selbst Gedanken machen oder wie stark unsere Innenwahrnehmung, unsere Innensicht ist. Ich denke natürlich auch nicht, dass ein völlig unbewusstes Leben besser ist.
Ich verfolge schon noch die Linie, dass man ein bewusstes Leben leben sollte. Aber viele interessante Forschungen haben bisher gezeigt, dass nicht wirklich das bewusste Denken uns steuert, sondern dass das eher nicht bewusste, jetzt nicht unbewusste, sondern sogenannte nicht bewusste Denkweisen sind, Reaktionsweisen sind, die wir automatisiert haben, irgendwann angelernt haben, die unsere Handlung steuern, und das oft effektiver als die Innensicht und die permanente Selbstbespiegelung das tun würde. Wir wissen nicht von Anfang an, was uns im Leben wie reagieren lässt. Wir erfahren das erst Stück für Stück durch Ausprobieren, durch empirische Feststellungen. Also, ich verlange nicht, dass man aufhört zu denken, sondern ich möchte, dass die Grenzen des Denkens klarer wahrgenommen werden, die Grenzen der Funktion des Denkens über sich selbst.
Meyer: Das therapeutische Denken bestimmt unser Leben, sagt die israelische Soziologin Eva Illouz. Herzlichen Dank für das Gespräch, thanks a lot!
Illouz: Thank you very much!
Meyer: Mareille Amir war unsere Dolmetscherin bei diesem Interview. Das Buch von Eva Illouz heißt "Die Errettung der modernen Seele", es ist im Suhrkamp-Verlag erschienen und kostet 26,80 Euro.