Schröder und Putin
Die letzte Hannover Messe wurde zu einer Weihestunde deutsch-russischer Freundschaft. Wirtschafts- und energiepolitisch zeitigt die in deutsch-russischen Kommuniqués immer wieder beschworene "strategische Partnerschaft" zwischen Deutschland und Russland handfeste Folgen.
Wenn die Deutschen heute von Sibirien träumen, dann sind das nicht nur Albträume von Kriegsgefangenschaft, Zwangsarbeit, Lagerelend, unstillbarem Heimweh und Eisenbahnzügen, aus denen irgendwann in den fünfziger Jahren die letzten "Heimkehrer" ausstiegen, ausgemergelte Männer, die wie eisgraue Fremdlinge wirkten im erblühenden Wirtschaftswunderland. In heutige Sibirien-Träume mischen sich Neugier auf das Land, das irgendwo weit im Osten beginnt, wo Europa zu Ende ist, und Sehnsucht nach seinen Weiten, nach abenteuerlichem Leben in Taiga und Tundra.
Für eine Doku-Soap des ZDF teilten deutsche Familien das Leben nomadisierender Rentierzüchter. Den Wiederholungen dieser "Sternflüstern"-Folgen begegnet man beim Zappen durch die Fernsehprogramme ebenso oft wie den sibirischen Reisereportagen öffentlich-rechtlicher Russlandkorrespondenten, die an die Ufer des Baikalsees führen, oder dem Jenissei, dem Schicksalsstrom Sibiriens, folgen. Eine einschlägige quantitative Medienanalyse würde wohl ergeben, dass die sibirische Wildnis der nordamerikanischen als Thema von Reportagen und Dokumentationen den Rang abgelaufen hat. Die faszinierenden "endlosen Weiten" liegen heute eher im Osten als im Westen.
Muss man das als ein massenkulturelles Indiz für einen großen, auch die Politik umwälzenden Gezeitenwechsel werten, gar als Zeichen dafür, dass die alte deutsche Ostdrift wieder wirksam wird, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Deutschland auf gefährliche Sonderwege führte? Trauen die Deutschen der Westbindung nicht? Suchen sie heimlich im Osten eine mentale Rückversicherung?
Eines jedenfalls scheint klar: Die "Männerfreundschaft", die Bundeskanzler Gerhard Schröder mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zelebriert, hat durchaus einen gesellschaftlichen Resonanzboden. Ob allerdings eine Ostwendung Deutschlands, wenn es sie denn gibt, nach dem überkommenen politischen Erklärungsmuster als Aufkündigung oder zumindest Relativierung der Westbindung verstanden werden muss, das ist doch sehr fraglich. Der Atlantizismus ist seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr der geopolitische Zwillingsbruder der inneren Verwestlichung. Man richtet heute nicht aus Überdruss an Demokratie und Marktwirtschaft den Blick nach Osten.
Die letzte Hannover Messe wurde zu einer Weihestunde deutsch-russischer Freundschaft. Der deutsche Chemieriese BASF und der russische Energiekonzern Gasprom unterzeichneten ein Abkommen über die Erschließung eines nordsibirischen Erdgasfeldes, aus dem der deutsche Erdgasbedarf fünf Jahre lang gedeckt werden könnte. Zum ersten Mal beteiligen die Russen damit ein ausländisches Unternehmen direkt an der Erdgaserschließung. Auch Siemens erntet russische Früchte und wird ICE-Züge liefern. Der Vorvertrag mit der russischen Eisenbahngesellschaft hat ein Volumen von 1,5 Milliarden Euro.
Wirtschafts- und energiepolitisch zeitigt die in deutsch-russischen Kommuniqués immer wieder beschworene "strategische Partnerschaft" handfeste Folgen. Und man tritt Gerhard Schröder sicherlich nicht zu nahe, wenn man ihm unterstellt, dass er in seiner Russlandpolitik nicht zuletzt solche Folgen in Form deutscher Arbeitsplatz- und Energiesicherung im Auge hat. Auch sein hartnäckiges Beharren darauf, dass das EU-Embargo gegen China bald fallen müsse, lässt sich zu einem guten Teil als Versuch erklären, deutschen Unternehmen eine möglichst gute Ausgangsposition bei der ohnehin zu erwartenden weiteren Öffnung des chinesischen Marktes zu sichern.
Aber vollständig erklärt sich Schröders außenpolitische Linie als Außenhandels- und Außenwirtschaftspolitik doch nicht. Eher tastend und suchend als schon voll entfaltet scheint ein neues außenpolitisches Design auf, das für Traditionalisten, die ihre Prägung in den Zeiten der Bipolarität erfuhren, beunruhigend sein muss. Denn es läuft dem amerikanischen Führungsanspruch zuwider und kennt die deutsch-amerikanische Freundschaft als Zentralpfeiler deutscher Außenpolitik nicht mehr. Vielmehr scheint diese Politik mit einem Ende des amerikanischen Zeitalters zu rechnen.
Etwas vereinfacht und zugespitzt könnte man sagen, dass sie dem angelsächsischen Globalismus, der sich überspannt hat, ein kontinentales Modell entgegensetzt. Absolute Priorität hat dabei die enge Partnerschaft mit Frankreich, die als europäischer Machtkern auch ein mögliches Scheitern des EU-Verfassungsprozesses überstehen wird. Wenn die institutionelle Vertiefung der europäischen Integration stagniert, muss sich Europa auf anderen Pfaden zum Ziel weltpolitischer Handlungsfähigkeit bewegen. Mag sein, dass sie auch über Moskau führen. Langfristig jedenfalls weisen die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen Europas auf eine enge Partnerschaft mit Russland, auch wenn die neuen östlichen EU-Mitglieder das heute noch anders sehen mögen.
Eckhard Fuhr ist Feuilletonchef der Tageszeitung "Die Welt". Zuvor war er langjähriger Leitartikler und Ressortchef Innenpolitik bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Fuhr, geb. 1954, hat Geschichte und Soziologie studiert. Ab 1980 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Freiburger Universität. 1986 begann er seine journalistische Laufbahn bei der FAZ. Zunächst in der Nachrichtenredaktion tätig, wechselte er später ins Innenressort und betreute auch die Politischen Bücher.
Für eine Doku-Soap des ZDF teilten deutsche Familien das Leben nomadisierender Rentierzüchter. Den Wiederholungen dieser "Sternflüstern"-Folgen begegnet man beim Zappen durch die Fernsehprogramme ebenso oft wie den sibirischen Reisereportagen öffentlich-rechtlicher Russlandkorrespondenten, die an die Ufer des Baikalsees führen, oder dem Jenissei, dem Schicksalsstrom Sibiriens, folgen. Eine einschlägige quantitative Medienanalyse würde wohl ergeben, dass die sibirische Wildnis der nordamerikanischen als Thema von Reportagen und Dokumentationen den Rang abgelaufen hat. Die faszinierenden "endlosen Weiten" liegen heute eher im Osten als im Westen.
Muss man das als ein massenkulturelles Indiz für einen großen, auch die Politik umwälzenden Gezeitenwechsel werten, gar als Zeichen dafür, dass die alte deutsche Ostdrift wieder wirksam wird, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Deutschland auf gefährliche Sonderwege führte? Trauen die Deutschen der Westbindung nicht? Suchen sie heimlich im Osten eine mentale Rückversicherung?
Eines jedenfalls scheint klar: Die "Männerfreundschaft", die Bundeskanzler Gerhard Schröder mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zelebriert, hat durchaus einen gesellschaftlichen Resonanzboden. Ob allerdings eine Ostwendung Deutschlands, wenn es sie denn gibt, nach dem überkommenen politischen Erklärungsmuster als Aufkündigung oder zumindest Relativierung der Westbindung verstanden werden muss, das ist doch sehr fraglich. Der Atlantizismus ist seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr der geopolitische Zwillingsbruder der inneren Verwestlichung. Man richtet heute nicht aus Überdruss an Demokratie und Marktwirtschaft den Blick nach Osten.
Die letzte Hannover Messe wurde zu einer Weihestunde deutsch-russischer Freundschaft. Der deutsche Chemieriese BASF und der russische Energiekonzern Gasprom unterzeichneten ein Abkommen über die Erschließung eines nordsibirischen Erdgasfeldes, aus dem der deutsche Erdgasbedarf fünf Jahre lang gedeckt werden könnte. Zum ersten Mal beteiligen die Russen damit ein ausländisches Unternehmen direkt an der Erdgaserschließung. Auch Siemens erntet russische Früchte und wird ICE-Züge liefern. Der Vorvertrag mit der russischen Eisenbahngesellschaft hat ein Volumen von 1,5 Milliarden Euro.
Wirtschafts- und energiepolitisch zeitigt die in deutsch-russischen Kommuniqués immer wieder beschworene "strategische Partnerschaft" handfeste Folgen. Und man tritt Gerhard Schröder sicherlich nicht zu nahe, wenn man ihm unterstellt, dass er in seiner Russlandpolitik nicht zuletzt solche Folgen in Form deutscher Arbeitsplatz- und Energiesicherung im Auge hat. Auch sein hartnäckiges Beharren darauf, dass das EU-Embargo gegen China bald fallen müsse, lässt sich zu einem guten Teil als Versuch erklären, deutschen Unternehmen eine möglichst gute Ausgangsposition bei der ohnehin zu erwartenden weiteren Öffnung des chinesischen Marktes zu sichern.
Aber vollständig erklärt sich Schröders außenpolitische Linie als Außenhandels- und Außenwirtschaftspolitik doch nicht. Eher tastend und suchend als schon voll entfaltet scheint ein neues außenpolitisches Design auf, das für Traditionalisten, die ihre Prägung in den Zeiten der Bipolarität erfuhren, beunruhigend sein muss. Denn es läuft dem amerikanischen Führungsanspruch zuwider und kennt die deutsch-amerikanische Freundschaft als Zentralpfeiler deutscher Außenpolitik nicht mehr. Vielmehr scheint diese Politik mit einem Ende des amerikanischen Zeitalters zu rechnen.
Etwas vereinfacht und zugespitzt könnte man sagen, dass sie dem angelsächsischen Globalismus, der sich überspannt hat, ein kontinentales Modell entgegensetzt. Absolute Priorität hat dabei die enge Partnerschaft mit Frankreich, die als europäischer Machtkern auch ein mögliches Scheitern des EU-Verfassungsprozesses überstehen wird. Wenn die institutionelle Vertiefung der europäischen Integration stagniert, muss sich Europa auf anderen Pfaden zum Ziel weltpolitischer Handlungsfähigkeit bewegen. Mag sein, dass sie auch über Moskau führen. Langfristig jedenfalls weisen die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen Europas auf eine enge Partnerschaft mit Russland, auch wenn die neuen östlichen EU-Mitglieder das heute noch anders sehen mögen.
Eckhard Fuhr ist Feuilletonchef der Tageszeitung "Die Welt". Zuvor war er langjähriger Leitartikler und Ressortchef Innenpolitik bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Fuhr, geb. 1954, hat Geschichte und Soziologie studiert. Ab 1980 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Freiburger Universität. 1986 begann er seine journalistische Laufbahn bei der FAZ. Zunächst in der Nachrichtenredaktion tätig, wechselte er später ins Innenressort und betreute auch die Politischen Bücher.