"Schüchterne sind sehr verlässliche Arbeiter"
Schüchternheit werde meistens als eine übertriebene Furcht vor dem negativen Urteil anderer Menschen definiert, sagt der Autor und Musiker Florian Werner. Allerdings seien schüchterne Menschen auch sehr vorsichtig, sorgfältig im Umgang mit Geld und hätten weniger Unfälle.
Ulrike Timm: Der Mensch ist das einzige Wesen, das erröten kann, sagte Mark Twain. Und weiter: Er ist aber auch das einzige, das Grund dazu hat. Sanftes Erröten war jahrhundertelang ein Zeichen edler Befangenheit, heute ärgern sich Schüchterne eher über ihre blöde Beklommenheit, die ihnen vom Bestellen im Restaurant bis zum Flirt so viele wichtige Situationen schlicht vermasselt, und sie kämpfen gegen ihr innerstes Wesen an oder sie lassen sich sogar therapieren, mitunter auch mit Medikamenten, wenn aus dem Wesenszug echte Sozialangst geworden ist.
Florian Werner zäumt es andersherum auf: Der Autor erzählt uns von seiner Schüchternheit im Buch, "Schüchtern", so heißt es, und er erzählt, wie schwer er sich tut, in Gesprächen Blickkontakt zu halten, wie lange er selbst an unwichtigen E-Mails herumlaboriert und dass er von jedem Kellner garantiert übersehen wird. Er ist jetzt trotzdem da, schönen guten Tag, Herr Werner!
Florian Werner: Hallo, guten Tag!
Timm: Ein Buch als persönlichster Therapieversuch?
Werner: Das war nicht der Auslöser, das war nicht der Grund für mich, das Buch zu schreiben. Aber es ist schon so natürlich auch merkwürdigerweise, dass das Schreiben eines solchen Buches etwas fast Psychoanalytisches hat. Also, man steigt hinab in seine finstersten, schlammigsten Erinnerungen aus der frühkindlichen Zeit, aus der Jugend und arbeitet es also stundenlang am Tag durch mit seinem persönlichen Psychoanalytiker, dem Computer. Und deswegen bin ich vielleicht auch so ein ganz, ganz bisschen gestärkt aus diesem Schreibprozess herausgegangen. Aber es war nicht das Ziel, eine Selbsttherapie zu machen beim Schreiben.
Timm: Woher kommt sie eigentlich, die Schüchternheit?
Werner: Also, definiert wird sie ja meistens als so eine übertriebene Furcht vor dem Urteil anderer, vor allem vor dem negativen Urteil anderer Menschen. Man geht davon aus, dass es teilweise schon angeboren ist, also bis zu 30 oder 50 Prozent können genetisch veranlagt sein. Aber ich glaube, dass es natürlich auch sehr stark soziale Prägung ist.
Ich habe natürlich da auch ein bisschen versucht, meine eigene Lebensgeschichte, mein Verhältnis zu meinen Eltern, zu meinem Bruder und so weiter zu beleuchten, zu durchschauen, und glaube schon, dass ich da sehr meinem Vater nachschlage, der eben auch eher von der leisen, schüchternen, zurückhaltenden Art ist.
Timm: Sie nennen Ihren Essay im Untertitel "Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft". Also, letztlich haben Sie Ihr Manko doch ganz gern?
Werner: Ich habe versucht, mich damit abzufinden. Man könnte ja so den Eindruck bekommen heutzutage, es ist ein schlimmer Makel, es gibt eine, fast eine Schüchternheitsindustrie. Also, sei es eben medikamentös, aber auch durch Therapien, durch Ratgeber, es gibt unendlich viele Ratgeber: Schüchtern war gestern, schüchtern - na und, endlich mit Frauen flirten und so weiter.
Und das suggeriert ja irgendwie, dass es eben etwas Therapiebedürftiges sei. Und ich wollte mich eigentlich dagegenwenden, auch mal fragen, warum eigentlich? Also, warum sollen immer die Leisen therapiert werden und nicht auch mal die Extrovertierten, zu Lauten? Also, warum ist das nicht auch eine Eigenschaft, mit der man ganz gut leben kann?
Timm: Aber ist das nicht - Pardon - auch schon wieder ein bisschen kokett, wenn man das macht? Beziehungsweise, steckt nicht umgedreht eine ganz gehörige Portion meinetwegen schamhaft versteckten Selbstbewusstseins dahinter? - Was ja vielleicht auch ganz gut ist!
Werner: Ja, man läuft natürlich Gefahr, der Koketterie bezichtigt zu werden. Andererseits, wenn man sich als Schüchterner selber zum Thema Schüchternheit überhaupt nicht äußern dürfte, sondern das Thema nur den Selbstbewussten überlassen würde, das wäre ja auch schrecklich. Ich habe mich also entschlossen, doch über meinen Schatten zu springen und ganz ungewohnt selbstbewusst mich eben zu bekennen zu diesem Thema.
Timm: Wann ist denn Schüchternheit Stärke?
Werner: Ich glaube, in ganz vielen Kontexten. Zum einen - da gibt es auch Studien, die das nahelegen - Schüchterne sind sehr verlässliche Arbeiter, sehr sorgfältige Arbeiter, vielleicht auch ein bisschen aus der Not geboren, sie haben natürlich Angst vor Kritik, sie haben Angst davor, kritisiert zu werden, es nicht gut genug zu machen, und deswegen sind sie eben sehr verlässlich, zuverlässig, gründlich.
Das gilt auch für den Beziehungsalltag offensichtlich, sie sind eher treu, auch wiederum möglicherweise eher aus der Not, denn sie gehen eben nicht ständig raus und quatschen irgendwelche anderen Frauen oder Männer an, sondern wissen auch den Wert sozialer Bindungen erst zu schätzen, eben weil es ihnen nicht einfach zufällt.
Und sie sind sehr vorsichtig, sie haben weniger Unfälle, sie sind sehr sorgfältig mit Geld. Das heißt, ich glaube, wenn man sozusagen die Investment-Abteilung unserer Banken mit lauter Schüchternen besetzen würde, vielleicht wäre die Welt ein ganz bisschen besser und sicherer.
Timm: Interessante Vision, sollte man vielleicht mal aufgreifen! Also, einen Tenor habe ich aus Ihrem Buch herausgelesen: Schüchterne Frauen: Das geht noch. Schüchterne Männer: von zu belächeln bis geht gar nicht. Ist das wirklich so?
Werner: Es ist auf jeden Fall eine Charaktereigenschaft, eine Disposition, die extrem stark gegendert ist. Und das geht schon sehr lange so. Wenn man zurückguckt, zum Beispiel die ersten Schüchternheitsratgeber, die entstehen so um das Jahr 1900 herum, und schon damals wird immer gesagt, bei Männern ist das die schlimmste Schwäche, die ein Mann überhaupt zeigen kann, wenn er schüchtern ist, wenn er zurückhaltend ist.
Aber für Frauen ist es ein edles Gefühl, eine edle Veranlagung, die eben ... Und ich glaube, das ist eine Wertung, die bis heute noch sich doch fortsetzt, also sozusagen, dass man Mädchen, jungen Frauen, erwachsenen Frauen auch das eher zugesteht, wenn sie eben vornehm erröten, wenn sie angesprochen werden, während man von Männern doch eher ein draufgängerisches Alphatierverhalten erwartet.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton". Wir sprechen mit dem Autor und Musiker Florian Werner über sein Buch "Schüchtern. Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft". Und vornehm erröten haben Sie so schön eben eingeflochten, das ist ein Sprachgebrauch, den man heute gar nicht mehr benutzt. Es ist ein ja jahrhundertealtes Wort. War das in früheren Zeiten etwas, was sehr geschätzt wurde? Wo und wie, wenn Sie die Kulturgeschichte der Schüchternheit abgrasen, wo war es etwas Positives, etwas Gesuchtes?
Werner: Ja, ich würde behaupten, dass eigentlich die Schüchternheit, so wie wir sie kennen, ein relativ junges Gefühl ist, oder zumindest die Wertung, die wir damit verbinden. Also, dass das erst seit dem späten 18. Jahrhundert vielleicht überhaupt erst existiert. Also, vorher gab es natürlich auch Gefühle der Schamhaftigkeit und so weiter, aber die waren eher positiv besetzt. Das war also eher so ein Gefühl, das dem Menschen, sagen wir dem mittelalterlichen Menschen zum Beispiel gut zu Gesichte stand, dass er eben zurückhaltend war, dass er still war, dass er nicht versuchte, über seine Stellung, die ihm zugewiesen war durch König, Gott oder Lehnsherr, eben hinauszuwachsen.
Und ich glaube, erst in dem Moment, wo sozusagen eine soziale Mobilität und Offenheit auch entsteht, dann entsteht als Kehrseite auch eben diese Gefahr der Schüchternheit. Das sieht man sehr schön gerade im 18. Jahrhundert in der Literatur, sagen wir bei Karl Philipp Moritz in dem Roman "Anton Reiser", der eben auch extrem schüchtern ist und der eben auch so jemand ist, der seinen sozialen Stand verlässt und dann plötzlich sich unter sozial Höhergestellten wiederfindet und merkt, oh, die sind alle eleganter gekleidet, die wissen, wie man sich zu verhalten hat, die haben einen ganz anderen Habitus. Und dann ist er plötzlich schüchtern-befangen. Das heißt, das ist ein bisschen die Kehrseite der Demokratisierung vielleicht, die Entstehung der Schüchternheit.
Timm: Ist womöglich auch der Briefroman daraus entstanden, lauter Menschen, die wollen, aber sich nicht trauen? Ich meine, Briefromane sind fast immer in irgendeiner Form Liebesromane und handeln dann auch davon, wie es nicht klappt und wie es vielleicht doch klappen könnte!
Werner: Auf jeden Fall! Also sowieso, das Tagebuchführen, das Briefeschreiben, überhaupt die Schriftkultur, die geht natürlich Hand in Hand mit dieser Schüchternheit, mit dieser Selbstbefragung, mit dieser Selbstunsicherheit auch. Und sicherlich, der berühmteste Schüchterne vielleicht überhaupt, Cyrano de Bergerac, ist natürlich der große Briefe- und Alexandrinerschreiber, der eben genau ...
Timm: Der für andere Briefe schreibt, damit deren Liebe klappt!
Werner: Genau, die Gefühle, die er selber in Worte nicht zu packen vermag, der auch seine eigenen Gefühle nicht gestehen kann, der macht das dann eben hinter dem Mantel der Schriftlichkeit und der Poesie.
Timm: Sie haben die Grenze, wo Schüchternheit was Positives war, eben so ein bisschen festgemacht mit 1900, als die ersten Ratgeber auftauchten, wie man das wieder loswird. Warum gerade diese Grenze? Gibt es dafür Gründe, warum das da aufbrach und nicht mehr etwas war, woraus man etwas gestalten kann, sondern etwas Verklemmtes?
Werner: Es ist natürlich ein längerer Prozess. Also, ich glaube, 1900 wird der wirklich manifest, einen Grund habe ich ja versucht schon zu benennen, sozusagen diese soziale Öffnung, auch die stetige Mobilität in der Gesellschaft, ein anderes, sicherlich auch ein stetig zwingendes Ich-Bewusstsein, sozusagen der ... vielleicht auch wiederum als Gegenpol der mittelalterliche Mensch, der eher noch kein stark ausgeprägtes Subjektbewusstsein hatte, eher noch aufging in der Masse, der noch überhaupt nicht ...
Also, wir wissen ja, Dürer war der Erste, der irgendwie seine Bilder überhaupt signierte mit seinem Namen, davor wäre das vielleicht anmaßend gewesen dem Menschen. Und plötzlich, das wird natürlich mit der Moderne immer stärker, dieses Gefühl, der Mensch ist etwas ganz Besonderes mit seinem Ich, mit seinem Selbst.
Und ich denke, das sieht man ja auch im Lauf des 20. Jahrhunderts, dass das immer wichtiger wird, zumindest in unserer westlichen Welt, sich da zu definieren. Und dann eben wiederum auch als Kehrseite entsteht sozusagen dieses Bewusstsein, was passiert, wenn die Gesellschaft auf mich guckt, auf mein Ich. Also, das Ich, wenn das sich zu weit hervorwagt und dann kritisch beleuchtet wird von der Gesellschaft. Und da entsteht, glaube ich, aus dieser Reibung entsteht eben das Gefühl der Schüchternheit.
Timm: Ihr Buch ist eine interessante Kombination aus einer Ich-Geschichte, aus Ihrer Geschichte, und einer Kulturgeschichte eines Wesenszugs, der bei manchen ja pathologisch werden kann. Wie ist das eigentlich, Sie selber arbeiten als Musiker, geben Radio-Interviews und Sie spielen sogar Fußball in der Schriftstellernationalmannschaft. In welcher Position?
Werner: Verteidigung natürlich. Vermutlich sind Schüchterne die geborenen Verteidiger. Also, so als, ich weiß nicht, Mittelfeldspieler, der den Ball an sich reißt, der das Spiel irgendwie lenkt oder steuert, wäre ich sicherlich sehr, sehr schlecht besetzt. Aber so als jemand, der das Spiel der anderen, schüchtern, zurückhaltend kaputt macht ...
Timm: Aber wenn es drauf ankommt, dann überwinden Sie auch mal die Gehemmtheit und schießen zur Not auch beherzt Elfmeter?
Werner: Elfmeter eher selten, aber wenn es sein muss, dann tu ich natürlich, was ich kann, um meinem Team zu helfen!
Timm: Florian Werner war das. Zu dem Essay können Sie ganz selbstbewusst stehen, der ist schön geschrieben und wartet mit einer Fülle interessanter Beobachtungen auf. Und wenn Sie jetzt ein bisschen rot werden, dann sieht man das im Radio nicht.
Das Buch von Florian Werner heißt "Schüchtern. Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft" und ist bei Nagel und Kimche erschienen. Herzlichen Dank für den Besuch im Studio!
Werner: Sehr gerne, danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Florian Werner zäumt es andersherum auf: Der Autor erzählt uns von seiner Schüchternheit im Buch, "Schüchtern", so heißt es, und er erzählt, wie schwer er sich tut, in Gesprächen Blickkontakt zu halten, wie lange er selbst an unwichtigen E-Mails herumlaboriert und dass er von jedem Kellner garantiert übersehen wird. Er ist jetzt trotzdem da, schönen guten Tag, Herr Werner!
Florian Werner: Hallo, guten Tag!
Timm: Ein Buch als persönlichster Therapieversuch?
Werner: Das war nicht der Auslöser, das war nicht der Grund für mich, das Buch zu schreiben. Aber es ist schon so natürlich auch merkwürdigerweise, dass das Schreiben eines solchen Buches etwas fast Psychoanalytisches hat. Also, man steigt hinab in seine finstersten, schlammigsten Erinnerungen aus der frühkindlichen Zeit, aus der Jugend und arbeitet es also stundenlang am Tag durch mit seinem persönlichen Psychoanalytiker, dem Computer. Und deswegen bin ich vielleicht auch so ein ganz, ganz bisschen gestärkt aus diesem Schreibprozess herausgegangen. Aber es war nicht das Ziel, eine Selbsttherapie zu machen beim Schreiben.
Timm: Woher kommt sie eigentlich, die Schüchternheit?
Werner: Also, definiert wird sie ja meistens als so eine übertriebene Furcht vor dem Urteil anderer, vor allem vor dem negativen Urteil anderer Menschen. Man geht davon aus, dass es teilweise schon angeboren ist, also bis zu 30 oder 50 Prozent können genetisch veranlagt sein. Aber ich glaube, dass es natürlich auch sehr stark soziale Prägung ist.
Ich habe natürlich da auch ein bisschen versucht, meine eigene Lebensgeschichte, mein Verhältnis zu meinen Eltern, zu meinem Bruder und so weiter zu beleuchten, zu durchschauen, und glaube schon, dass ich da sehr meinem Vater nachschlage, der eben auch eher von der leisen, schüchternen, zurückhaltenden Art ist.
Timm: Sie nennen Ihren Essay im Untertitel "Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft". Also, letztlich haben Sie Ihr Manko doch ganz gern?
Werner: Ich habe versucht, mich damit abzufinden. Man könnte ja so den Eindruck bekommen heutzutage, es ist ein schlimmer Makel, es gibt eine, fast eine Schüchternheitsindustrie. Also, sei es eben medikamentös, aber auch durch Therapien, durch Ratgeber, es gibt unendlich viele Ratgeber: Schüchtern war gestern, schüchtern - na und, endlich mit Frauen flirten und so weiter.
Und das suggeriert ja irgendwie, dass es eben etwas Therapiebedürftiges sei. Und ich wollte mich eigentlich dagegenwenden, auch mal fragen, warum eigentlich? Also, warum sollen immer die Leisen therapiert werden und nicht auch mal die Extrovertierten, zu Lauten? Also, warum ist das nicht auch eine Eigenschaft, mit der man ganz gut leben kann?
Timm: Aber ist das nicht - Pardon - auch schon wieder ein bisschen kokett, wenn man das macht? Beziehungsweise, steckt nicht umgedreht eine ganz gehörige Portion meinetwegen schamhaft versteckten Selbstbewusstseins dahinter? - Was ja vielleicht auch ganz gut ist!
Werner: Ja, man läuft natürlich Gefahr, der Koketterie bezichtigt zu werden. Andererseits, wenn man sich als Schüchterner selber zum Thema Schüchternheit überhaupt nicht äußern dürfte, sondern das Thema nur den Selbstbewussten überlassen würde, das wäre ja auch schrecklich. Ich habe mich also entschlossen, doch über meinen Schatten zu springen und ganz ungewohnt selbstbewusst mich eben zu bekennen zu diesem Thema.
Timm: Wann ist denn Schüchternheit Stärke?
Werner: Ich glaube, in ganz vielen Kontexten. Zum einen - da gibt es auch Studien, die das nahelegen - Schüchterne sind sehr verlässliche Arbeiter, sehr sorgfältige Arbeiter, vielleicht auch ein bisschen aus der Not geboren, sie haben natürlich Angst vor Kritik, sie haben Angst davor, kritisiert zu werden, es nicht gut genug zu machen, und deswegen sind sie eben sehr verlässlich, zuverlässig, gründlich.
Das gilt auch für den Beziehungsalltag offensichtlich, sie sind eher treu, auch wiederum möglicherweise eher aus der Not, denn sie gehen eben nicht ständig raus und quatschen irgendwelche anderen Frauen oder Männer an, sondern wissen auch den Wert sozialer Bindungen erst zu schätzen, eben weil es ihnen nicht einfach zufällt.
Und sie sind sehr vorsichtig, sie haben weniger Unfälle, sie sind sehr sorgfältig mit Geld. Das heißt, ich glaube, wenn man sozusagen die Investment-Abteilung unserer Banken mit lauter Schüchternen besetzen würde, vielleicht wäre die Welt ein ganz bisschen besser und sicherer.
Timm: Interessante Vision, sollte man vielleicht mal aufgreifen! Also, einen Tenor habe ich aus Ihrem Buch herausgelesen: Schüchterne Frauen: Das geht noch. Schüchterne Männer: von zu belächeln bis geht gar nicht. Ist das wirklich so?
Werner: Es ist auf jeden Fall eine Charaktereigenschaft, eine Disposition, die extrem stark gegendert ist. Und das geht schon sehr lange so. Wenn man zurückguckt, zum Beispiel die ersten Schüchternheitsratgeber, die entstehen so um das Jahr 1900 herum, und schon damals wird immer gesagt, bei Männern ist das die schlimmste Schwäche, die ein Mann überhaupt zeigen kann, wenn er schüchtern ist, wenn er zurückhaltend ist.
Aber für Frauen ist es ein edles Gefühl, eine edle Veranlagung, die eben ... Und ich glaube, das ist eine Wertung, die bis heute noch sich doch fortsetzt, also sozusagen, dass man Mädchen, jungen Frauen, erwachsenen Frauen auch das eher zugesteht, wenn sie eben vornehm erröten, wenn sie angesprochen werden, während man von Männern doch eher ein draufgängerisches Alphatierverhalten erwartet.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton". Wir sprechen mit dem Autor und Musiker Florian Werner über sein Buch "Schüchtern. Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft". Und vornehm erröten haben Sie so schön eben eingeflochten, das ist ein Sprachgebrauch, den man heute gar nicht mehr benutzt. Es ist ein ja jahrhundertealtes Wort. War das in früheren Zeiten etwas, was sehr geschätzt wurde? Wo und wie, wenn Sie die Kulturgeschichte der Schüchternheit abgrasen, wo war es etwas Positives, etwas Gesuchtes?
Werner: Ja, ich würde behaupten, dass eigentlich die Schüchternheit, so wie wir sie kennen, ein relativ junges Gefühl ist, oder zumindest die Wertung, die wir damit verbinden. Also, dass das erst seit dem späten 18. Jahrhundert vielleicht überhaupt erst existiert. Also, vorher gab es natürlich auch Gefühle der Schamhaftigkeit und so weiter, aber die waren eher positiv besetzt. Das war also eher so ein Gefühl, das dem Menschen, sagen wir dem mittelalterlichen Menschen zum Beispiel gut zu Gesichte stand, dass er eben zurückhaltend war, dass er still war, dass er nicht versuchte, über seine Stellung, die ihm zugewiesen war durch König, Gott oder Lehnsherr, eben hinauszuwachsen.
Und ich glaube, erst in dem Moment, wo sozusagen eine soziale Mobilität und Offenheit auch entsteht, dann entsteht als Kehrseite auch eben diese Gefahr der Schüchternheit. Das sieht man sehr schön gerade im 18. Jahrhundert in der Literatur, sagen wir bei Karl Philipp Moritz in dem Roman "Anton Reiser", der eben auch extrem schüchtern ist und der eben auch so jemand ist, der seinen sozialen Stand verlässt und dann plötzlich sich unter sozial Höhergestellten wiederfindet und merkt, oh, die sind alle eleganter gekleidet, die wissen, wie man sich zu verhalten hat, die haben einen ganz anderen Habitus. Und dann ist er plötzlich schüchtern-befangen. Das heißt, das ist ein bisschen die Kehrseite der Demokratisierung vielleicht, die Entstehung der Schüchternheit.
Timm: Ist womöglich auch der Briefroman daraus entstanden, lauter Menschen, die wollen, aber sich nicht trauen? Ich meine, Briefromane sind fast immer in irgendeiner Form Liebesromane und handeln dann auch davon, wie es nicht klappt und wie es vielleicht doch klappen könnte!
Werner: Auf jeden Fall! Also sowieso, das Tagebuchführen, das Briefeschreiben, überhaupt die Schriftkultur, die geht natürlich Hand in Hand mit dieser Schüchternheit, mit dieser Selbstbefragung, mit dieser Selbstunsicherheit auch. Und sicherlich, der berühmteste Schüchterne vielleicht überhaupt, Cyrano de Bergerac, ist natürlich der große Briefe- und Alexandrinerschreiber, der eben genau ...
Timm: Der für andere Briefe schreibt, damit deren Liebe klappt!
Werner: Genau, die Gefühle, die er selber in Worte nicht zu packen vermag, der auch seine eigenen Gefühle nicht gestehen kann, der macht das dann eben hinter dem Mantel der Schriftlichkeit und der Poesie.
Timm: Sie haben die Grenze, wo Schüchternheit was Positives war, eben so ein bisschen festgemacht mit 1900, als die ersten Ratgeber auftauchten, wie man das wieder loswird. Warum gerade diese Grenze? Gibt es dafür Gründe, warum das da aufbrach und nicht mehr etwas war, woraus man etwas gestalten kann, sondern etwas Verklemmtes?
Werner: Es ist natürlich ein längerer Prozess. Also, ich glaube, 1900 wird der wirklich manifest, einen Grund habe ich ja versucht schon zu benennen, sozusagen diese soziale Öffnung, auch die stetige Mobilität in der Gesellschaft, ein anderes, sicherlich auch ein stetig zwingendes Ich-Bewusstsein, sozusagen der ... vielleicht auch wiederum als Gegenpol der mittelalterliche Mensch, der eher noch kein stark ausgeprägtes Subjektbewusstsein hatte, eher noch aufging in der Masse, der noch überhaupt nicht ...
Also, wir wissen ja, Dürer war der Erste, der irgendwie seine Bilder überhaupt signierte mit seinem Namen, davor wäre das vielleicht anmaßend gewesen dem Menschen. Und plötzlich, das wird natürlich mit der Moderne immer stärker, dieses Gefühl, der Mensch ist etwas ganz Besonderes mit seinem Ich, mit seinem Selbst.
Und ich denke, das sieht man ja auch im Lauf des 20. Jahrhunderts, dass das immer wichtiger wird, zumindest in unserer westlichen Welt, sich da zu definieren. Und dann eben wiederum auch als Kehrseite entsteht sozusagen dieses Bewusstsein, was passiert, wenn die Gesellschaft auf mich guckt, auf mein Ich. Also, das Ich, wenn das sich zu weit hervorwagt und dann kritisch beleuchtet wird von der Gesellschaft. Und da entsteht, glaube ich, aus dieser Reibung entsteht eben das Gefühl der Schüchternheit.
Timm: Ihr Buch ist eine interessante Kombination aus einer Ich-Geschichte, aus Ihrer Geschichte, und einer Kulturgeschichte eines Wesenszugs, der bei manchen ja pathologisch werden kann. Wie ist das eigentlich, Sie selber arbeiten als Musiker, geben Radio-Interviews und Sie spielen sogar Fußball in der Schriftstellernationalmannschaft. In welcher Position?
Werner: Verteidigung natürlich. Vermutlich sind Schüchterne die geborenen Verteidiger. Also, so als, ich weiß nicht, Mittelfeldspieler, der den Ball an sich reißt, der das Spiel irgendwie lenkt oder steuert, wäre ich sicherlich sehr, sehr schlecht besetzt. Aber so als jemand, der das Spiel der anderen, schüchtern, zurückhaltend kaputt macht ...
Timm: Aber wenn es drauf ankommt, dann überwinden Sie auch mal die Gehemmtheit und schießen zur Not auch beherzt Elfmeter?
Werner: Elfmeter eher selten, aber wenn es sein muss, dann tu ich natürlich, was ich kann, um meinem Team zu helfen!
Timm: Florian Werner war das. Zu dem Essay können Sie ganz selbstbewusst stehen, der ist schön geschrieben und wartet mit einer Fülle interessanter Beobachtungen auf. Und wenn Sie jetzt ein bisschen rot werden, dann sieht man das im Radio nicht.
Das Buch von Florian Werner heißt "Schüchtern. Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft" und ist bei Nagel und Kimche erschienen. Herzlichen Dank für den Besuch im Studio!
Werner: Sehr gerne, danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.