Schuld hat viele Gesichter
Die französische Schriftstellerin Leslie Kaplan lässt in ihren Roman "Fever" zwei junge Abiturienten aus der französischen Oberschicht einen Mord begehen. Die rationale Beschreibung des Seelenzustandes der beiden Jugendlichen und ihre Entfremdung von der Umwelt nutzt Kaplan, um die Frage nach Schuld zu erörtern. Zugleich schafft sie ein Zeitbild einer Epoche, das von der Modernisierung Frankreichs seit den 1970er Jahren geprägt ist.
"Sie war eine Nutte", sagt Damian zu seinem Mitschüler Pierre. Die beiden stehen kurz vor dem Abitur und haben gerade eine Frau umgebracht. Eine Unbekannte, die sie auf der Straße willkürlich auswählten, in deren Wohnung sie drängten, einfach um einen Mord zu begehen. Seit Monaten hatten sie die Tat geplant, ihre "Meisterleistung": Ein praktischer Nachweis der philosophischen These, dass es keine höhere Ordnung im Universum gibt, dass Zufall die Geschicke der Menschen bestimmt. Wer ohne persönlichen Beweggrund, ohne Notwendigkeit tötet, behaupten die beiden Jungen, kann nicht gefasst werden - und hat damit kein Verbrechen begangen.
"Fever", der neue Roman der französischen Autorin Leslie Kaplan, beginnt mit der Schilderung eines Schocks. Damian und Pierre verlassen den Tatort berauscht und zugleich ernüchtert. Sie kehren zu ihren Familien zurück, in das Alltagsleben von Pariser Wohlstandskindern. Als wäre nichts geschehen.
Über die Sprache vermittelt Kaplan den Zustand ihrer Protagonisten. Zeigt sie kalt und rational, lässt sie Argumente in ausformulierten Sätzen vorbringen. Wie im Fieber hingegen, fortgerissen von Depressionen, Verzweiflung und Wut stoßen sie nur einzelne Worte hervor. Die exaltierten Seelen- und Körperzustände der Abiturienten sind unvorhergesehene Folgen ihrer Mordtat. Lehrer und Verwandte können sie nicht deuten, schließen auf Prüfungsstress.
Damian und Pierre leiden zunehmend unter Alpträumen und Wahnvorstellungen, können sich aber nicht mitteilen. Sie entfremden sich der Umwelt, auch voneinander entfernen sie sich. Ihr Abitur bestehen sie mit Einserdurchschnitt.
"Fever" ist der fünfte - und erste ins Deutsche übersetzte - Roman einer Reihe, die den Gesamttitel "Depuis maintenant" ("Von jetzt an") trägt. Einem Projekt, vor zehn Jahren begonnen, mit dem Kaplan das Zeitbild einer Epoche erschaffen will.
Die 1943 geborene Autorin ist bekannt für den ethischen Anspruch ihres Schreibens. Sie hat Philosophie, Psychologie und Geschichte studiert. In "Fever" verknüpft sie drei Themenkreise: die philosophische Frage nach der Verantwortung des Menschen für sein Handeln, die politische Frage nach der unbewältigten Kollaborationsgeschichte Frankreichs und die psychologische Frage nach Adoleszenz und Familienstrukturen.
Pierre stammt aus einer jüdischen Familie, sein Großvater beschweigt den Holocaust. Damians Großvater, ehemaliger Staatsbeamter, war in der Verwaltung des besetzten Frankreich tätig – und lässt nichts Genaues über seine damalige Tätigkeit verlauten. Dennoch sind die Großeltern für die beiden Jugendlichen stärkere Bezugspersonen als die wohlwollenden aber innerlich abwesenden Eltern.
Schuld hat in Kaplans Roman viele Gesichter. Die moralische Erörterung von Täterschaft während des Zweiten Weltkrieges verlängert die Autorin geschickt ins Heute. Mit vielen Zitaten aus der Philosophie – besonders den Texten Hannah Arendts, aus Literatur, Popsongs, mit Anspielungen auf zeitgeschichtliche Ereignisse, schafft Kaplan ein Bezugssystem innerhalb ihres Romans, an dem sich die Figuren und letztlich auch der Leser ausrichten können.
Als Pierre und Damian die Geschichte des Eichmann-Prozesses und des Papon-Prozesses im Frankreich der 1990er Jahre recherchieren, stürzt das selbstgefällige Rechtfertigungsmodell für ihre Tat in sich zusammen. Sie erkennen sich als Mörder.
"Fever" ist ein Diskurs in Romanform. Sehr französisch, in der Tradition der "literature engagée", doch keineswegs trocken oder theoretisch. Kaplans Figuren sind widersprüchlich und daher überzeugend. In einer Realität, die die Autorin literarisch gestaltet, doch nicht interpretiert. Das macht ihren Roman anregend und aufregend.
Leslie Kaplan: Fever
Aus dem Französischen von Sonja Finck.
Berlin Verlag.
207 Seiten. 18,00 Euro.
"Fever", der neue Roman der französischen Autorin Leslie Kaplan, beginnt mit der Schilderung eines Schocks. Damian und Pierre verlassen den Tatort berauscht und zugleich ernüchtert. Sie kehren zu ihren Familien zurück, in das Alltagsleben von Pariser Wohlstandskindern. Als wäre nichts geschehen.
Über die Sprache vermittelt Kaplan den Zustand ihrer Protagonisten. Zeigt sie kalt und rational, lässt sie Argumente in ausformulierten Sätzen vorbringen. Wie im Fieber hingegen, fortgerissen von Depressionen, Verzweiflung und Wut stoßen sie nur einzelne Worte hervor. Die exaltierten Seelen- und Körperzustände der Abiturienten sind unvorhergesehene Folgen ihrer Mordtat. Lehrer und Verwandte können sie nicht deuten, schließen auf Prüfungsstress.
Damian und Pierre leiden zunehmend unter Alpträumen und Wahnvorstellungen, können sich aber nicht mitteilen. Sie entfremden sich der Umwelt, auch voneinander entfernen sie sich. Ihr Abitur bestehen sie mit Einserdurchschnitt.
"Fever" ist der fünfte - und erste ins Deutsche übersetzte - Roman einer Reihe, die den Gesamttitel "Depuis maintenant" ("Von jetzt an") trägt. Einem Projekt, vor zehn Jahren begonnen, mit dem Kaplan das Zeitbild einer Epoche erschaffen will.
Die 1943 geborene Autorin ist bekannt für den ethischen Anspruch ihres Schreibens. Sie hat Philosophie, Psychologie und Geschichte studiert. In "Fever" verknüpft sie drei Themenkreise: die philosophische Frage nach der Verantwortung des Menschen für sein Handeln, die politische Frage nach der unbewältigten Kollaborationsgeschichte Frankreichs und die psychologische Frage nach Adoleszenz und Familienstrukturen.
Pierre stammt aus einer jüdischen Familie, sein Großvater beschweigt den Holocaust. Damians Großvater, ehemaliger Staatsbeamter, war in der Verwaltung des besetzten Frankreich tätig – und lässt nichts Genaues über seine damalige Tätigkeit verlauten. Dennoch sind die Großeltern für die beiden Jugendlichen stärkere Bezugspersonen als die wohlwollenden aber innerlich abwesenden Eltern.
Schuld hat in Kaplans Roman viele Gesichter. Die moralische Erörterung von Täterschaft während des Zweiten Weltkrieges verlängert die Autorin geschickt ins Heute. Mit vielen Zitaten aus der Philosophie – besonders den Texten Hannah Arendts, aus Literatur, Popsongs, mit Anspielungen auf zeitgeschichtliche Ereignisse, schafft Kaplan ein Bezugssystem innerhalb ihres Romans, an dem sich die Figuren und letztlich auch der Leser ausrichten können.
Als Pierre und Damian die Geschichte des Eichmann-Prozesses und des Papon-Prozesses im Frankreich der 1990er Jahre recherchieren, stürzt das selbstgefällige Rechtfertigungsmodell für ihre Tat in sich zusammen. Sie erkennen sich als Mörder.
"Fever" ist ein Diskurs in Romanform. Sehr französisch, in der Tradition der "literature engagée", doch keineswegs trocken oder theoretisch. Kaplans Figuren sind widersprüchlich und daher überzeugend. In einer Realität, die die Autorin literarisch gestaltet, doch nicht interpretiert. Das macht ihren Roman anregend und aufregend.
Leslie Kaplan: Fever
Aus dem Französischen von Sonja Finck.
Berlin Verlag.
207 Seiten. 18,00 Euro.