Zivilisationsbrüche jenseits des Rheins
Die Schuld aus der Zeit 1914 bis 1944 bestimmte lange die deutsche Außenpolitik. Doch nun verlangt Bundespräsident Joachim Gauck mehr Verantwortung. Was das bedeuten kann, aber nicht bedeuten sollte, erklärt der Schriftsteller Michael Kleeberg.
Es gibt in Frankreich eine Anekdote, die einiges über das Selbstverständnis der Franzosen und über ihre Meinung zu den Deutschen aussagt: Als im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 der Kanonendonner der "dicken Bertha" in Paris zu hören war, fragten sich die Einwohner bang, was sie wohl von der Besatzung durch Menschen zu erwarten haben würden, denen das Wort "gloire" unbekannt war.
Es muss eine Art von metaphysischem Schrecken gewesen sein, als wären Aliens vor den Toren von Paris gelandet, über deren Konzeption von Humanität man große Zweifel hegte. Was aber heißt eigentlich "gloire"? Ruhm, Ehre, Herrlichkeit? Von allem etwas, je nach dem.
Bezogen auf die französische Selbstsicht heißt es aber vor allem, dass das Land als etwas Heiliges angesehen wird, und eine Berührung, Verletzung, Beschmutzung dieses Landes viel mehr ist als ein Verbrechen, nämlich geradezu ein Sakrileg.
Es ist allerdings ein verbreitetes Phänomen, dass Nationen, die über ein quasi mythisch grundiertes Selbstverständnis verfügen, über ein von ihnen historisch hergeleitetes institutionelles gutes Gewissen, in ihren eigenen Aggressionshandlungen recht wenig Skrupel zeigen.
Auch Frankreich gehört zu diesen Staaten, deren Glauben an die eigene Mission und besondere Stellung unter den Nationen die eigenen Verfehlungen und Verbrechen erstaunlich wenig anzuhaben vermochten. Stellvertretend für die dunklen Kapitel der französischen Geschichte sei hier das vielleicht düsterste genannt, die Ereignisse rund um das Ende des französischen Algerien, die erst seit kurzem auf Staatsebene wirklich aufgearbeitet werden.
Algerien gehörte als Département zum französischen Mutterland
Algerien galt den Franzosen ja nie als Kolonie wie zahlreiche schwarzafrikanische Territorien, sondern gehörte als Département zum französischen Mutterland. Seit dem 19. Jahrhundert siedelte dort auch eine große Minderheit französischer Franzosen. Umso heftiger war das Bestreben, Algerien nicht in die Unabhängigkeit zu entlassen.
Eine ganze Generation junger Männer, die ihren Militärdienst während des Aufruhrs dort ableistete, berichtete später traumatisiert von den Folterungen und Erschießungen der Nordafrikaner, die man habe durchführen müssen. Das größte Verbrechen dieses Kriegs jedoch ereignete sich am 17. Oktober 1961 in Paris selbst. Und es ist mit dem Namen eines Mannes verbunden, der wie kaum ein anderer stellvertretend steht für die französischen Lebenslügen des 20. Jahrhunderts: Maurice Papon.
Papon hatte als junger Beamter der Kollaborationsregierung gedient und die Judenverschickung von Bordeaux in die deutschen KZs mitorganisiert. Wie viele andere, so auch sein guter Bekannter Francois Mitterrand, wandelte er sich in den letzten Monaten der deutschen Besatzung zum Résistant und stieg danach bruchlos in der Hierarchie auf. Seit Ende der 50er-Jahre war er Polizeipräfekt von Paris, später sogar Minister.
Als Präfekt verantwortete er an jenem Oktobertag die Hetzjagd auf protestierende Algerier, die rund 300 Tote forderte. Die Demonstranten wurden eingekesselt, regelrecht abgeschlachtet und ihre Leichen zu Dutzenden in die Seine geworfen. Die Aktion war ähnlich generalstabsmäßig organisiert wie 20 Jahre zuvor das Zusammentreiben der jüdischen Bevölkerung.
Am Ausgang des Krieges änderte das nichts. Aber das Massaker wurde Jahrzehnte unter den Tisch gekehrt. Erst 2001 ließ der Pariser Bürgermeister eine Erinnerungstafel anbringen, erst 2012 entschuldigte sich der Präsident Hollande.
Von "gloire" keine Spur.
Michael Kleeberg wurde 1959 in Stuttgart geboren und wuchs in Süddeutschland und Hamburg auf. Er studierte Politische Wissenschaften und Geschichte an der Universität Hamburg. Nach Aufenthalten in Rom und Amsterdam lebte er von 1986 bis 1999 in Paris.
Heute arbeitet er als freier Schriftsteller und Übersetzer aus dem Französischen (Marcel Proust) und Englischen (John Dos Passos) in Berlin. Neben Erzählungen und der Novelle "Barfuß" (1995) veröffentlichte er die Romane "Proteus der Pilger" (1993, Anna-Seghers-Preis 1996) und "Ein Garten im Norden" (1998, Lion-Feuchtwanger-Preis 2000).
Zuletzt erschienen bei DVA der Roman "Der König von Korsika" (2001), 2004 das vielbeachtete libanesische Reisetagebuch "Das Tier, das weint" und der Roman "Karlmann (2007)", für den er den Irmgard-Heilmann-Preis 2008 erhielt.
Sein aktueller Roman "Das amerikanische Hospital" (2010) wurde mit dem Evangelischen Buchpreis ausgezeichnet. Sein Werk ist in zahlreiche Sprachen übersetzt. Michael Kleeberg war Stadtschreiber 2008 der Stadt Mainz, des ZDF und 3sat.
Sein erstes Kinderbuch "Luca Puck und der Herr der Ratten" (2012, Dressler Verlag, das er für seine Tochter geschrieben hat, erhielt den Saarländischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2012.