Ungarn 1989
Am 19. August 1989 wird mit Zustimmung der ungarischen Regierung ein Grenztor zu Österreich geöffnet. Für DDR-Bügerinnen und -Bürger eine Chance, in die Freiheit zu fliehen. © picture alliance / AP Photo / Votava
Schuldenerlass für Grenzöffnung?
08:18 Minuten
Hat die Bundesregierung 1989 Ungarn Schulden erlassen, damit die Regierung den Eisernen Vorhang für Fluchtwillige aus der DDR öffnet? Offiziell heißt es bis heute: nein. Ein Geheimdienstdokument lässt aber Zweifel aufkommen.
Seit Mai 1989 fliehen immer mehr DDR-Bürgerinnen und –Bürger über die ungarische Grenze in den Westen. Im August kommt es zu einer ersten Massenflucht. In der Nacht vom 10. zum 11. September 1989 öffnet Ungarn seine Grenze. In den nächsten Tagen fliehen Zehntausende DDR-Bürgerinnen und -Bürger in den Westen. Ungarn läutet damit das Ende des Ostblocks ein, den Fall des „Eisernen Vorhangs“.
Der ungarische Regierungschef Miklós Németh betonte damals, dass Ungarn dafür keine Gegenleistung verlange. „Ungarn verkauft keine Menschen.“ Mit diesem Satz wird er auf der Webseite der Bundesregierung zitiert. Doch ein Deutschlandfunk Kultur vorliegendes Dokument lässt diese Behauptung fragwürdig erscheinen. Es stammt aus dem Herbst 1989. Der damalige tschechoslowakische Geheimdienst hat es verfasst.
Das Schreiben legt den Schluss nahe, dass die damalige Bundesregierung gezielt ihre ökonomischen Mittel genutzt hat, um den Eisernen Vorhang für die Fluchtwilligen aus der DDR zu öffnen.
Ungarn ist hoch verschuldet
Das Dokument der Stasi-Unterlagenbehörde im Bundesarchiv trägt den Titel: „Information der Sicherheitsorgane der CSSR. Zur Koordinierung der Politik der UVR [Ungarischen Volksrepublik] und der BRD in der Frage der DDR-Flüchtlinge“. Die Übersetzung ins Deutsche hat das Ministerium für Staatssicherheit der DDR übernommen. Unter dem Vermerk „Übersetzung aus dem Tschechischen“ steht in Großbuchstaben „Streng geheim!“, darüber, rechts oben handschriftlich: „6.10.89 an Gen[ossen] Minister“. Die Übersetzung geht also an Stasi-Chef Erich Mielke persönlich.
„Nach bisherigen Erkenntnissen aus diplomatischen und ökonomischen Kreisen der BRD ist offenkundig, dass die ungarische Handlungsweise im Fall der DDR-Flüchtlinge ökonomisch-finanzielle und außenpolitische Gründe hat“, heißt es in dem Bericht.
Denn Ungarn hatte sich bei westdeutschen Banken, bei der Bundesrepublik, hoch verschuldet. Das Land müsse an die Gläubiger „mehr als 2,5 Milliarden Dollar zahlen“, heißt es in dem Dokument, was „etwa 50 Prozent des Reingewinns aus dem Außenhandel“ ausmache.
Zahlungen für DDR-Flüchtlinge
Um seine Position bei den Banken nicht zu verlieren, lehne Ungarn eine Umschuldung ab und versuche, die erforderlichen Mittel auf dem internationalen Finanzmarkt zu bekommen.
Wie, das beschreibt der tschechoslowakische Geheimdienstbericht so: „Die erlangten Informationen bestätigen, daß zwischen den Regierungen der BRD und der UVR [Ungarischen Volksrepublik] eine Vereinbarung über die Zahlung eines Betrages für die DDR-Flüchtlinge in der Höhe getroffen wurde, der an die DDR bisher beim `Freikauf politischer Häftlinge´ gezahlt wurde.“
Laut der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur waren dies gegen Ende der DDR rund 90.000 D-Mark pro Person. Für Ungarn bedeutete das eine enorme Haushaltsentlastung bei der Schuldentilgung 1989: In dem Deutschlandfunk Kultur vorliegenden Dokument wird geschätzt, dass „Ungarn auf diesem Weg 150 bis 200 Mill[ionen] erhalten wird. Um diese Summe werden der UVR die Zahlungen herabgesetzt, die sie an die BRD im Zusammenhang mit einem Regierungskredit zu leisten hat, der ihr in den vergangenen Jahren gewährt wurde“, so heißt es in dem Dokument des tschechoslowakischen Nachrichtendienstes von 1989.
Aufbruch ins westliche Wirtschaftssystem
Außerdem habe die Kohl-Regierung Ungarn weitere Türen geöffnet, um mit dem Westen ins Geschäft zu kommen: „Gleichzeitig hat die westdeutsche Regierung versprochen, ihren Einfluß in Bankenkreisen der BRD geltend zu machen, damit die Privatbanken der BRD den ungarischen Wünschen entgegenkommen.“
Dem Geheimdienstbericht zufolge war Ungarn 1989 bereits auf dem Weg, sich in das westliche Wirtschaftssystem zu integrieren – in Form von Kapitalbeteiligungen westlicher Firmen an ungarischen Betrieben: „Diese Operationen sollen der UVR allein 1989 etwa 300 Millionen Dollar einbringen. Es wird erwartet, daß westdeutsche Unternehmen einen bedeutenden Anteil an dieser Summe haben werden.“
In den deutsch-deutschen Beziehungen war der Freikauf politischer Häftlinge aus der DDR eine seit Jahrzehnten etablierte Praxis. Die westdeutsche Regierung zahlte anfangs pro Person etwa 30.000 DM, erst in bar, später in Form von Lebensmitteln, Industriegütern oder auch Erdöl, Kupfer oder Silber – denn diese Güter lassen ließen sich am Weltmarkt in Devisen umwandeln. Außerdem wollte die Bundesregierung Barzahlungen vermeiden.
Wenn die Informationen des tschechoslowakischen Geheimdienstes stimmen, knüpfte der Deal zwischen Budapest und Bonn an diese Praxis an und schuf einen großen Anreiz, dass möglichst viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger über Ungarn in den Westen gelangten.
DDR-Flüchtlinge in Polen
In einem zweiten Deutschlandfunk Kultur vorliegenden Dokument des tschechoslowakischen Geheimdienstes vom 5. Oktober 1989 geht es um 230 DDR-Flüchtlinge in der BRD-Botschaft in Warschau. Wieder trägt das Dokument den Vermerk „Streng geheim!“, wieder ist es von der Stasi ins Deutsche übersetzt, diesmal allerdings aus dem Russischen.
In diesem Dokument heißt es, die Bundesregierung übe gezielten „politisch-ökonomischen Druck auf die gegenwärtige Regierung der VRP“, also der Volksrepublik Polen, aus, dass „eine Lösung nach ungarischem Muster“ vorgenommen werde. Es stehe ein Schiff bereit für den Transport von etwa 120 Personen nach Westdeutschland.
Wer hat die beiden Geheimdienstberichte verfasst? Wer steckt hinter den brisanten Informationen – und wie glaubwürdig sind sie? Sollten sich ihre Informationen als wahr herausstellen, würde dies jedenfalls ein neues Licht auf die Vorgeschichte des Mauerfalls 1989 werfen. Die damalige Bundesrepublik hätte dann mit ökonomischen Mitteln darauf hingearbeitet, die ungarische Grenze für die Fluchtwilligen aus der DDR zu öffnen. Das Einfallstor war die Überschuldung von Ostblockstaaten wie Ungarn auf den westlichen Kapitalmärkten.
Klar ist zumindest: Die Behauptung, Ungarn habe 1989 für die Grenzöffnung keine Gegenleistung erwartet, steht im Widerspruch zu den Darstellungen der beiden öffentlich bislang unbekannten Geheimdienstberichte.
(lkn)