Schuldiger gesucht

Bernd Schroeder schreibt über einen spektakulären Justiz-Fall im beginnenden 20. Jahrhundert, der die Gemüter bis weit in die Weimarer Republik hinein erregte. In seinem historischen Dokumentarroman thematisiert er eine Erfahrung, die zur Jahrhundert-Erfahrung werden sollte: die Unmöglichkeit, so etwas wie Wahrheit zu begründen. Indizien reichen nicht aus, um Gewissheit herzustellen.
Der Fall erregte die Gemüter zu Beginn des 20. Jahrhunderts und schlug Wellen bis weit in die Weimarer Republik hinein. Der junge Rechtsanwalt Karl Hau soll im November 1906 in Baden-Baden seine Schwiegermutter erschossen haben. Nach einem Indizienprozess im Sommer 1907 wurde er vom Geschworenengericht zum Tode, dann aber zu lebenslanger Haft verurteilt und schließlich im Jahr 1924 zur Bewährung entlassen. Hau hat nie ein Geständnis abgelegt. In zwei Büchern, die rasch zu Bestsellern wurden, wollte er seine Unschuld beweisen. 1926 endete er durch Selbstmord.

Bernd Schroeder hat aus dieser Geschichte, die Jakob Wassermann schon 1928 zu seinem Roman "Der Fall Maurizius" inspirierte, einen historischen Dokumentarroman gemacht. Er kann aus zahlreichen Quellen schöpfen: aus Verhörprotokollen, Gerichtsakten, aus Briefen, die Haus Frau an ihre Mutter schrieb und nicht zuletzt aus Haus eigener Darstellung. Dazu kommen fiktive Elemente, Nebengeschichten und Nebenfiguren, die den Stoff zum breit angelegten Gesellschaftspanorama der Kaiserzeit werden lassen.

Schroeder montiert den Roman aus drei Erzählsträngen. Die Vorgeschichte beginnt in Korsika, wo der 19-jährige Hau - ein blendender Hochstapler im Stil Felix Krulls - die Damen der Familie Molitor kennenlernt: die Mutter, das spätere Mordopfer, und ihre beiden jüngsten Töchter. Beide verlieben sich in den gebildeten Angeber Hau, der sich für Lina, die ältere und reifere entscheidet. Da die Mutter gegen diese Verbindung ist, flieht er mit Lina, erzwingt die Hochzeit und geht mit ihr nach Amerika, wo er sich zum Juristen ausbilden lässt. Sie schildert ihn als treuen und einfühlsamen Ehemann. Doch auf seinen zahlreichen Reisen vergnügt er sich mit Prostituierten und verjubelt den Erbteil seiner Frau. Seine Verschwendungssucht bringt die Familie an den Rand des Ruins. Die prekäre finanzielle Lage soll schließlich auch das Motiv für den Mord abgeben.

Der zweite Erzählstrang beginnt mit dem Ende, Haus Selbstmord. Am Ausgang der Geschichte besteht also von Anfang an kein Zweifel. Von hier aus erzählt Schroeder rückwärts von den Zuchthausjahren, dem Hunger während des Weltkrieges bis zurück zum Urteilsspruch. Der Prozess selbst ist die zentrale, am meisten Platz einnehmende Handlungsebene. Hier treffen die beiden anderen Linien zusammen.

Schroeder thematisiert eine Erfahrung, die zur Jahrhundert-Erfahrung werden sollte: die Unmöglichkeit, so etwas wie Wahrheit zu begründen. Indizien reichen nicht aus, um Gewissheit herzustellen. Vermutlich war es diese Verunsicherung, die den Prozess zu einem Massenereignis werden ließ. Die allgemeine, hypernervöse Erregbarkeit war ein Symptom der Zeit. Freuds Hysterikerinnen und der militärisch gepanzerte Mann sind die Repräsentanten der Epoche, die schließlich im Weltkrieg untergehen sollte.

Schroeder setzt diese Massenanspannung geschickt in Szene. Mit Lina, die ihrem Karl Hau blind ergeben ist, und ihrer überspannten jüngeren Schwester Olga zeigt er zwei Frauentypen der präemanzipatoerischen Epoche, die ihr Unglück schon spüren, die aber noch nicht wissen, was sie so unglücklich macht, und die nichts anderes tun können, als auf Ehe und Familienpflicht zu warten.

Glücklicherweise widersteht Bernd Schroeder der Versuchung, eine Lösung des ungelösten Falles anzubieten. Sein Hau ist eine schillernde Figur: so faszinierend wie abstoßend, so schlicht wie undurchschaubar. Die zeitgenössischen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern des Angeklagten finden eine Entsprechung in diesem Roman, der die Leser zwischen Aversion und Mitleid hin und herreisst.
Hau war Ekel und Justizopfer in einer Person. Sein ausschweifender Charakter, seine sexuelle Enthemmtheit, seine Angeberei waren geeignet, Moralvorstellungen der Zeit radikal in Frage zu stellen. Und doch hat er es durch die Art seines Auftretens geschafft, viele Menschen für sich einzunehmen. Die Justiz allerdings brauchte einen Schuldigen. Hau bot sich dafür an. Besser ein zweifelhafter Täter als gar keiner.

Rezensiert von Jörg Magenau


Bernd Schroeder: Hau
Hanser Verlag, München und Wien 2006, 366 Seiten, 21,50 Euro