Bildungssystem ist "nachhaltig verändert"
Mehr als die Hälfte aller Schulen in Deutschland sind Ganztagsschulen - diese Zahl zeigt an, dass es ein Erfolgsmodell ist. So lautet das Urteil des Erziehungswissenschaftlers Ludwig Stecher. Zwar könnten nicht einfach bestimmte Aspekte anderer Systeme übernommen werden, da diese dort oft unter anderen Umständen entstanden seien, aber grundsätzlich gelte: Deutschland kann einzelne Merkmale integrieren.
Nana Brink: Wie kaum in einem anderen Land wurde und wird so leidenschaftlich um das Konzept Ganztagsschule gestritten wie in Deutschland. Vor zehn Jahren begann in einer von Bund und Ländern gemeinsam finanzierten Initiative der Umbau des bundesdeutschen Schulsystems in Richtung einer Schule, die nicht um zwölf oder 13 Uhr endet, sondern, wie in vielen angelsächsischen Ländern, aber auch in Frankreich seit Langem gang und gäbe ist, bis nachmittags dauert, inklusive Schularbeiten. Auf dem zehnten Ganztagsschulkongress, der derzeit in Berlin stattfindet, wird über die Erfolge, aber auch über die Probleme diskutiert. Für uns Anlass, einmal einen Blick über den deutschen Tellerrand zu werfen. Professor Ludwig Stecher ist Erziehungswissenschaftler an der Uni Gießen, und er hat das Netzwerk für außerunterrichtliche Bildung initiiert. Schönen guten Morgen, Herr stecher!
Ludwig Stecher: Guten Morgen!
Brink: Sind die deutschen Ganztagsschulen ein Erfolgsmodell?
Stecher: Das ist die Frage, welchen Maßstab wir anlegen. Es ist in den letzten Jahren sicher sehr vieles erreicht worden. Die Ganztagsschule hat das deutsche Bildungssystem strukturell nachhaltig verändert, das können wir eindeutig sagen. Mittlerweile sind mehr als 50 Prozent aller Schulen in Deutschland Ganztagsschulen. Also insofern ein Erfolgsmodell, wenn wir die Entwicklungszahlen zugrunde legen. Die andere seite der Antwort ist – und das ist auch auf dem Ganztagsschulkongress hier noch mal sehr intensiv diskutiert worden –, ist die Frage, wie ist es um die Qualität der Ganztagsschulen bestellt, also mit Blick auf ihre pädagogische Wirksamkeit, auf ihre pädagogische Umsetzung.
Und hier, muss man sicher sagen, sind in den letzten Jahren auch viele Erfolge erzielt worden, wir können uns allerdings nicht darauf zurückziehen, dass diese Erfolge bereits in der ganzen Breite der Ganztagsschulen auch umgesetzt worden sind. Aus diesem Grunde würde ich im Moment in dieser Hinsicht sagen: Wir sind ein gutes Stück vorangekommen auf dem Weg, aber gerade mit Blick auf die Qualität können wir noch nicht von einem sich vollständig durchgesetzten Erfolgsmodell sprechen.
Vergleiche sind schwierig - Welches System kann Vorbild sein?
Brink: Hinken wir da dem Ausland hinterher?
Stecher: Es ist die Frage, welches Ausland wir uns sozusagen als Vorbild oder als Beispiel nehmen. Vergleiche mit anderen nationalen Bildungssystem sind immer aus meiner Sicht hochproblematisch, die für einen solchen Vergleich herangezogen werden könnten. Beispielsweise wenn wir Frankreich nehmen: Wir wissen, dass dort das Ganztagsschulsystem schon viele Jahrzehnte traditionellerweise eingesetzt wird mit bestimmten Problemen, die sich auch dort zeigen, wie der Mittwochnachmittag zum Beispiel, wo die Eltern auch für die Betreuung ihrer Kinder sorgen müssen. Aber es lässt sich nicht einfach sagen: Es gibt ein gutes Ganztagsschulsystem in dem einen Land und bei uns müssen wir diesem Modell nacheifern, weil man immer auch berücksichtigen muss, dass ein Bildungssystem in ein gesellschaftliches System insgesamt eingebunden und integriert ist. Das heißt, es müsste mit dem Bildungssystem, mit dem Schulsystem dann gegebenenfalls auch andere Aspekte des gesellschaftlichen Systems mit übernehmen, um das sozusagen zum Funktionieren zu bringen.
Brink: Ich möchte noch 'mal bei der Qualität bleiben, die ja auch Thema auf dem Kongress ist. Sie haben ja vor drei Jahren das Netzwerk für außerunterrichtliche Bildung mit initiiert. Was ist denn Ihr Anliegen?
Stecher: Also: Die Idee ist grundsätzlich, dass wir, wenn wir uns den Alltag von Kindern und Jugendlichen anschauen, wir sehen, dass sie in sehr unterschiedlichen Bildungssettings etwas lernen. Da ist zunächst einmal der Unterricht, dann an der Ganztagsschule der außerunterrichtliche Teil, die außerunterrichtlichen Angebote, also, sie nehmen ja an Angeboten von Musikschulen teil, sie nehmen noch an Volkshochschulkursen für junge Leute teil, sie gehen gegebenenfalls in die Nachhilfe, es gibt es in Deutschland ja auch einige kommerzielle Institute, die das anbieten. Das heißt, die Schüler sind eigentlich umgeben von verschiedenen Bildungssettings, wie wir das nennen, Bildungsangeboten, die wir auch in anderen Ländern so ähnlich finden. Wir kennen das beispielsweise aus den Vereinigten Staaten, die After School Programs, aber wir kennen das auch zum Beispiel aus Schweden, wo es Freizeitzentren gibt, die nachmittags pädagogisches Angebot für Schüler und Schülerinnen anbieten. Und diese verschiedenen Angebote oder Bildungssettings, die sind dadurch gekennzeichnet, dass sie im Grunde alle ein bestimmtes pädagogisches Ziel verfolgen. Und in dem Augenblick, in dem wir diese Gemeinsamkeit erkennen, können wir sagen: Wird dieses Ziel erreicht, wie effektiv sind diese Angebote und was oder wie müssten diese Angebote strukturiert sein, um diesen entsprechenden Ergebnisse auch zu erzielen?
Brink: Können wir das noch mal runterbrechen? ich stelle mir das gerade vor, auf einer Ganztagsschule, zum Beispiel meine Tochter geht auf eine Ganztagsschule, die geht bis 16 Uhr. Und auch da überlegt man, ob man nicht anfängt, Vereine zum Beispiel da zu integrieren in der Zeit, die die Kinder haben. Muss man sich das so vorstellen, dass diese Überlegungen in diese Richtung gehen?
Stecher: Gut, das ist ein Teilaspekt, den Sie ansprechen, inwieweit die außerschulischen Partner, wie wir sie nennen, und die Schulen hier kooperieren. Grundsätzlich ist für die Ganztagsschule ja erhofft, dass sie sich nach außen hin öffnet und gerade den außerschulischen Kooperationspartnern hier die Türen öffnet, damit diese mit ihren Inhalten, mit ihren Arbeitsweisen, die sich doch vom klassischen Unterricht unterscheiden, die Arbeit der Ganztagsschulen unterstützen sollen.
Grundsätzlich nicht fremde Bildungssysteme kopieren
Brink: Gibt es denn noch andere Bereiche im Ausland oder andere ausländische, andere Länder, wo man sich dann in Deutschland was abkucken kann?
Stecher: Ja, ich sagte vorhin schon: Grundsätzlich sollten wir nicht fremde Bildungssysteme kopieren oder integrieren, weil wir sozusagen, wir müssten alles mitnehmen. Wenn man jetzt über Finnland beispielsweise spricht, was immer gerne angeführt wird, dann müsste man nicht nur eben das Schulsystem importieren, sondern man müsste auch die Lehrerausbildung mit importieren, man müsste die Anerkennung, die der Lehrerberuf insgesamt gesellschaftlich hat, importieren, um sozusagen das Ganze wirklich erfolgreich kopieren zu wollen.
Ich würde es eher so halten wie ein Kollege von mir, der sagte, es geht nicht darum, ganze Systeme zu kopieren, sondern man muss gucken, was funktioniert mit blick auf einzelne Merkmale in den jeweiligen Bildungssystemen, und dann versuchen, diese sozusagen als kleine Teile in unser System zu integrieren.
Brink: Eine letzte kurze Frage noch: Sehen Sie dafür Sensibilität im deutschen Bildungswesen, bei den Akteuren, in diese Richtung zu denken?
Stecher: Ja, ja. Wenn man sich gerade den Ganztagsschulkongress hier anschaut, wie Schulleiter und die Lehrkräfte miteinander diskutieren und auch mit der bildungsverwaltung, sieht man, dass alle im Grunde ein sehr großes Engagement mitbringen auch mit Blick auf die Frage: Was ist sozusagen vom Schüler her zu denken. Das mag nicht überall und in der Fläche schon erfolgreich sein, aber dass wir hier außerordentlich engagierte Leute an allen wichtigen Stellen sitzen haben, das steht für mich außer Frage. Und wer diesen Ganztagsschulkongress hier miterlebt, glaube ich, wird das auch nicht anders sehen können.
Brink: Professor Ludwig Stecher, Erziehungswissenschaftler an der Uni Gießen. Und wir sprachen über Ganztagsschulen und außerschulische Bildung. Schönen Dank für das Gespräch!
Stecher: Gerne!
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