Schule des Spurenlesens
Die Hauptfigur im zweiten Roman der 27-jährigen Erfolgsautorin Nora Bossong ist ein Ex-Diplomat, der in der Nazizeit Vizekonsul in Mailand war. 1951 taucht er in der provisorischen Hauptstadt Bonn wieder auf und versucht, erneut in den diplomatischen Dienst zu gelangen. In "Webers Protokoll" stellt Bossong Fragen nach moralischem Handeln und Versagen.
Eine düstere Familiengeschichte, mysteriös aufgeladen und mit ungewöhnlicher Strenge erzählt, das ist Nora Bossongs erster Roman "Gegend", mit dem sie 2006 als eine der überzeugendsten neuen Erzählerinnen aufgefallen ist. Als ihr Debüt herauskam, war die junge Autorin 24 Jahre alt. Ein Jahr später folgte "Reglose Jagd", Nora Bossongs erster Gedichtband, und nun ihr zweiter Roman: "Webers Protokoll".
Schon der Titel führt erfolgreich in die Irre. Der Roman hat nichts von einem klaren, strukturierten Protokoll, ganz im Gegenteil: Er ist eine Schule des Spurenlesens. Konrad Weber wird eingeführt, ein Ex-Diplomat, in der Nazizeit war er Vizekonsul in Mailand. 1951 taucht er in der provisorischen Hauptstadt Bonn wieder auf und versucht, erneut in den diplomatischen Dienst zu gelangen. Um ihn herum aber irrlichtern die Spuren der Vergangenheit. Von einem "Vorfall" in Mailand ist die Rede, von einem Haftbefehl der Nazis, von einem Mann, der "hübscher ist als ein Mädchen", von einem anderen mit "Militärstiefelgang". Wer diese Männer sind, worum es bei dem "Vorfall" und bei dem Haftbefehl ging, das schält sich erst ganz allmählich im Verlauf des Romans heraus.
Nora Bossong legt immer wieder neue Spuren, sie spinnt ein Netz aus Hinweisen, aus Wiederholungen, wiederkehrenden Motiven. Ein gestörter Ex-Diplomat macht Vakuum-Versuche an Vögeln, er will den genauen Zeitpunkt ihres Sterbens vorhersagen. Konrad Webers alter Vorgesetzter geht in den Ruhestand und warnt ihn vor der SS-Generation, die jetzt in den Botschaften das Ruder übernimmt. Ein Kostümfest wird immer wieder zitiert, zu dem Weber, einer sonderbaren Laune folgend, als Papst gegangen war.
Aus allen Hinweisen ergibt sich nach und nach ein Bild: Weber hat versucht, aus seinem Diplomatenstatus zusätzliches Geld herauszuholen. Er hat deutsche Staatsgelder erst unterschlagen und dann verloren. Weber droht aufzufliegen, da bietet sich eine riskante Möglichkeit, seinen Hals zu retten. Eine Untergrundorganisation macht sich an Weber heran: ob er, gegen gutes Geld, falsche Pässe ausstellen könne, mit denen Juden außer Landes geschmuggelt werden. Weber zögert, aus Angst vor allem, aber sein Geldproblem zwingt ihn schließlich zum einwilligen. Der Vizekonsul wird zum Judenretter aus Geldgier.
Nora Bossong spiegelt Webers Geschichte in einer historischen Figur, in Papst Pius dem XII., dem Weltkriegspapst. Webers Frau ist eine inbrünstig Glaubende, die verzückt zu dem mystischen Papst aufschaut. In Webers zweiter Laufbahn in den 50er Jahren wird er an die bundesdeutsche Botschaft beim Heiligen Stuhl geschickt. Die Kontakte zur päpstlichen Diplomatie sind jetzt sein Job. In der Gestalt dieses Papstes kehren die Fragen nach moralischem Handeln und Versagen wieder, die sich auch bei Webers Geschichte aufdrängen.
Der Fortgang des Geschehens wird in diesem Roman regelmäßig unterbrochen von einem Zwiegespräch zwischen einer jungen Erzählerin und einem "Uralten". Der alte Diplomat, der Weber in Mailand gekannt haben will, bezweifelt die Recherchen und Schlussfolgerungen der Erzählerin. Sie denke zu gut von Weber, das ist sein Haupteinwand. Die Skepsis gegenüber der Geschichte ist mit diesem Deutungsstreit in den Roman selbst eingebaut.
Nora Bossong hat ihren Stoff in einer Akte gefunden. Sie hat sich zu Diplomatentreffen einladen lassen und Berge von Büchern über die Gepflogenheiten in Gesandtschaften und Botschaften gelesen, diese Detailkenntnis kommt dem Roman sehr zugute. Aus dem historischen Stoff und ihrem Wissen über das diplomatische Protokoll hat Nora Bossong ein faszinierendes Labyrinth gebaut, eine spannende Geschichte voller Echos und Irrwege, eine moralisch irritierende Erzählung über einem zweifelhaften Helden.
Rezensiert von Frank Meyer
Nora Bossong: "Webers Protokoll". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 320 Seiten, 19,90 €
Schon der Titel führt erfolgreich in die Irre. Der Roman hat nichts von einem klaren, strukturierten Protokoll, ganz im Gegenteil: Er ist eine Schule des Spurenlesens. Konrad Weber wird eingeführt, ein Ex-Diplomat, in der Nazizeit war er Vizekonsul in Mailand. 1951 taucht er in der provisorischen Hauptstadt Bonn wieder auf und versucht, erneut in den diplomatischen Dienst zu gelangen. Um ihn herum aber irrlichtern die Spuren der Vergangenheit. Von einem "Vorfall" in Mailand ist die Rede, von einem Haftbefehl der Nazis, von einem Mann, der "hübscher ist als ein Mädchen", von einem anderen mit "Militärstiefelgang". Wer diese Männer sind, worum es bei dem "Vorfall" und bei dem Haftbefehl ging, das schält sich erst ganz allmählich im Verlauf des Romans heraus.
Nora Bossong legt immer wieder neue Spuren, sie spinnt ein Netz aus Hinweisen, aus Wiederholungen, wiederkehrenden Motiven. Ein gestörter Ex-Diplomat macht Vakuum-Versuche an Vögeln, er will den genauen Zeitpunkt ihres Sterbens vorhersagen. Konrad Webers alter Vorgesetzter geht in den Ruhestand und warnt ihn vor der SS-Generation, die jetzt in den Botschaften das Ruder übernimmt. Ein Kostümfest wird immer wieder zitiert, zu dem Weber, einer sonderbaren Laune folgend, als Papst gegangen war.
Aus allen Hinweisen ergibt sich nach und nach ein Bild: Weber hat versucht, aus seinem Diplomatenstatus zusätzliches Geld herauszuholen. Er hat deutsche Staatsgelder erst unterschlagen und dann verloren. Weber droht aufzufliegen, da bietet sich eine riskante Möglichkeit, seinen Hals zu retten. Eine Untergrundorganisation macht sich an Weber heran: ob er, gegen gutes Geld, falsche Pässe ausstellen könne, mit denen Juden außer Landes geschmuggelt werden. Weber zögert, aus Angst vor allem, aber sein Geldproblem zwingt ihn schließlich zum einwilligen. Der Vizekonsul wird zum Judenretter aus Geldgier.
Nora Bossong spiegelt Webers Geschichte in einer historischen Figur, in Papst Pius dem XII., dem Weltkriegspapst. Webers Frau ist eine inbrünstig Glaubende, die verzückt zu dem mystischen Papst aufschaut. In Webers zweiter Laufbahn in den 50er Jahren wird er an die bundesdeutsche Botschaft beim Heiligen Stuhl geschickt. Die Kontakte zur päpstlichen Diplomatie sind jetzt sein Job. In der Gestalt dieses Papstes kehren die Fragen nach moralischem Handeln und Versagen wieder, die sich auch bei Webers Geschichte aufdrängen.
Der Fortgang des Geschehens wird in diesem Roman regelmäßig unterbrochen von einem Zwiegespräch zwischen einer jungen Erzählerin und einem "Uralten". Der alte Diplomat, der Weber in Mailand gekannt haben will, bezweifelt die Recherchen und Schlussfolgerungen der Erzählerin. Sie denke zu gut von Weber, das ist sein Haupteinwand. Die Skepsis gegenüber der Geschichte ist mit diesem Deutungsstreit in den Roman selbst eingebaut.
Nora Bossong hat ihren Stoff in einer Akte gefunden. Sie hat sich zu Diplomatentreffen einladen lassen und Berge von Büchern über die Gepflogenheiten in Gesandtschaften und Botschaften gelesen, diese Detailkenntnis kommt dem Roman sehr zugute. Aus dem historischen Stoff und ihrem Wissen über das diplomatische Protokoll hat Nora Bossong ein faszinierendes Labyrinth gebaut, eine spannende Geschichte voller Echos und Irrwege, eine moralisch irritierende Erzählung über einem zweifelhaften Helden.
Rezensiert von Frank Meyer
Nora Bossong: "Webers Protokoll". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 320 Seiten, 19,90 €