Schule

Die Freiheit der Marionetten

Klassenzimmer in Grundschule
Die Schule verlangt von ihren Schülern vor allem "auszuharren in der Bestuhlung", meint Martin Ahrends. © picture alliance / dpa / Caroline Seidel
Von Martin Ahrends · 28.04.2014
Nicht für die Schule lernen wir, sondern für das Leben, sagt ein Sprichwort. Falsch, sagt der mehrfache Vater und Publizist. Die Schule verpasst es ihren Schülern die wichtigsten Kompetenzen für ein selbstbestimmtes Leben zu vermitteln. Und so stolpern viele Schulabgänger in ihre neu gewonnene Freiheit, viele versagen.
Als meine Kinder so um die 13, 14, 15 waren, wollten sie dringend raus aus der Schule. Es war wie eine zweite Geburt. Da wollten sie ins Leben gehen und sich erproben. Eltern und Schule hatten es mit einer emanzipatorischen Energie zu tun, die nötig ist, um sich vom Nestrand in die Tiefe zu stürzen und dabei den eigenen Schwingen zu trauen.
Die Schule weiß mit dieser Energie nichts anzufangen, sie wird weggebügelt, gefordert wird die immer gleiche Disziplin. Und dann liegen noch einmal vier, fünf lange Jahre vor den jungen Leuten, die keine Kinder mehr sind, aber nichts anderes dürfen als täglich die Schulbank zu drücken, auszuharren in der Bestuhlung und der Beschulung.
In der 13. Klasse glaubten meine Kinder dann schon so etwas wie erwachsen zu sein. Die zweite große Enttäuschung konnte ihnen nicht erspart bleiben: Dass sie sich in der eigenen Entwicklung verspätet fanden, vier, fünf in diesem Alter besonders kostbare Jahre zu spät, wenn sie mit 19, 20 endlich ausgewildert wurden.
Keine Anregung, eine Vision vom eigenen Leben zu entwickeln
Auch mein jüngstes Kind hat sein Abitur abgelegt und muss seit dem letzten Sommer nicht mehr zur Schule gehen – die Schulpflicht endete, andere Pflichten sind noch nicht an deren Stelle getreten, und nun geht es meiner Tochter nicht anders als es ihren Geschwistern erging: Sie erlebt die Freiheit einer Marionette, die man von den Fäden abgeschnittenen hat. Brave Abiturienten berappeln sich schnell, andere bleiben genau an diesem Punkt ihres Lebens auf der Strecke.
Die Schule hat sie von all dem ferngehalten, was sie nun im Schnelldurchlauf zu lernen hat: Den Tag selbst zu strukturieren, das eigene Leben zu entwerfen und Schritt für Schritt ins Werk zu setzen, für den eigenen Unterhalt zunehmend aufkommen zu müssen, stundenlang stupide zu arbeiten für einen Hungerlohn, das schöne Klamottengeld für so selbstverständliche Dinge wie eine Wohnung auszugeben, sich mit Vermietern und WG-Mitbewohnern zu arrangieren, eine gebrauchte Waschmaschine zu organisieren und vier Treppen hoch zu schaffen: "Mit einer Sackkarre? Was ist eine Sackkarre, Papa?"
Mein jüngstes Kind ist zwanzig Jahre alt, jeder fragt sie nun: "Was willst du werden, was studieren, und wenn das nicht klappt, welches ist dein Plan B?" Woher soll sie das wissen? Außer den Berufen der Eltern kennen die Schulabgänger keine Berufe von innen. Wie orientiert man sich über Möglichkeiten der Berufsausbildung? Nun, da es keine Lehrer mehr für sie gibt: Welche staatlichen und kommunalen Institutionen können ihr hilfreich sein? Welche gibt es überhaupt? Wie füllt man einen Fragebogen der Kindergeldkasse aus, wie beantragt man BAFöG?
Wie kriegt man einen Dübel in die Wand?
Meinen stolzen Abiturienten fehlten die simpelsten Fertigkeiten: Sie konnten nicht für sich sorgen, geschweige denn für andere, sie wussten nicht, wie man Geld verdient und wie man es ausgibt, sie konnten weder einkaufen noch kochen, keine Wohnung renovieren, einrichten oder nur gründlich putzen. Sie konnten nicht mal ihr Fahrrad reparieren. Wie kriegt man einen Dübel in die Wand? Wann legt man sich mit Fieber ins Bett, wann geht man damit zum Arzt?
Aber selbst, wenn die Schule sie auf dies und das vorbereitet hat – vorbereitet sind sie nicht auf die großen Entscheidungen ihres Lebens: Wann will ich meine Kinder bekommen, wann studiere ich? Geht beides zusammen? Kann ich derlei überhaupt planen oder muss ich mein Leben einfach wagen? Auch wenn es Schulfächer gäbe mit Namen wie Haushandwerkskunde, Behörden-, Ernährungs-, Familien-, Arbeitskunde, auch dann bliebe ihnen die Erfahrung nicht erspart: Was sie im Gehege der Schule gelernt haben, taugt ihnen draußen in der freien Wildbahn herzlich wenig.
Martin Ahrends, Autor und Publizist, geboren 1951 in Berlin. Studium der Musik, Philosophie und Theaterregie. Anfang der 80er Jahre politisch motiviertes Arbeitsverbot in der DDR. 1984 Ausreise aus der DDR. Redakteur bei der Wochenzeitung Die Zeit und seit 1996 freier Autor und Publizist.
Der Autor und Publizist Martin Ahrends
Der Autor und Publizist Martin Ahrends© privat
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