Wo Inklusion aufhört
Paulina (zweite von rechts) mit ihren Schwestern. © Elin Rosteck
Der Schulhof
30:23 Minuten
Paulina ist 13, gehörlos und geht in eine Regelschule. Sie kommt gut mit, aber auf dem Schulhof ist sie allein. Ein Sonderling. Elias besucht eine Förderschule für Hörgeschädigte und hat dort viele Freunde. Aber er lebt in der Welt der Behinderten. Was ist besser?
Lehrerin Lydia Wurm zieht mit einem Tross jugendlicher Schüler Richtung Sportplatz. Es ist schönes Wetter, heute ist Sportfest und die Jungen und Mädchen explodieren vor Tatendrang: noch eben schnell zugucken bei den jüngeren Jahrgangsstufen: "Guck mal hier! Wie der springt! Der gewinnt nie!"
Ein Mädchen mit Pferdeschwanz mischt sich ein, es macht komische Geräusche. Die anderen ignorieren es einfach. Paulina, das gehörlose Mädchen der Klasse, will etwas sagen. Sie klebt eng an ihrer Lehrerin. Von den Geräuschen ringsum bekommt sie nichts mit. Paulina ist schon seit ihrer Geburt taub. Ihre eigene Stimme und die Geräusche, die sie macht, kann sie auch nicht hören. Sie weiß, dass ihre Laute die anderen irritieren, aber sie rutschen ihr so raus, wenn sie aufgeregt ist.
Sie spricht mit den Händen
Sprechen kann Paulina mit den Händen: Gebärdensprache. In der Schule hat sie eine Dolmetscherin, die ständig in ihrer Nähe ist und mit dem Übersetzen kaum nachkommt. Aber im Moment sind Paulinas Mitschüler mit sich selbst beschäftigt. Sie kichern am Eingang des Sportplatzes in Grüppchen herum und necken sich.
Schubsen, Rempeln, Anfassen. Achte Klasse halt: Erste Annäherungsversuche von 13, 14-jährigen Jugendlichen. Manche sind schon gut entwickelt, manche sind körperlich noch Kinder. Die Dolmetscherin hält Paulina gut im Blick, allzeit bereit, ihr Sprachrohr zu sein. Denn Paulina will mitmischen. Sie sucht nun nach einer offenen Lücke in den Gruppen; geht mal einen Schritt auf die eine zu, dann einen auf die andere, aber keine Chance: Niemand kommt ihr entgegen, nimmt Kontakt auf oder lässt erkennen, dass Paulina willkommen wäre.
Sie ist die einzige Gehörlose an dieser Regelschule. Wohin gibt man ein Kind mit Behinderung? An welcher Schule ist es am besten aufgehoben?
Paulina kämpft um Akzeptanz. Elias um eine Ersatzfamilie.
Elias ist mit einer Gruppe Schulkameraden unterwegs. Er zieht einen Rollkoffer hinter sich her, wie die anderen. Keine Klassenfahrt, sie haben ihre Koffer für die anstehende Woche gepackt. Sie besuchen das Internat einer Förderschule für Hörgeschädigte.
"Es ist manchmal so ein Gefühl, ok, ich bin jetzt nicht zuhause, ich geh mit meinem Koffer durch eine andere Großstadt jeden Montag mit dem Koffer in der U-Bahn zu stehen, die anderen gucken dich an, fährt der hier auf Klassenfahrt oder was?"
Elias ist auf einem Ohr taub; eine Infektion, als er acht Jahre alt war. Jetzt ist er 14. Ein smarter Typ, dem man seine Hörschädigung nicht anmerkt. Seine Eltern haben lange versucht, ihn in der Regelschule im Ort zu halten. Anfang der siebten Klasse, Elias war 12, haben sie aufgegeben. Seitdem geht er zur Förderschule. Und ins Internat.
"Meine ersten Tage hier, ich dachte erstmal so, die sind wirklich alle verrückt. Aber wenn man das kennenlernt und sich drauf einlässt und sich einlebt, dann merkt man, die sind gar nicht verrückt, die sind einfach nur hörgeschädigt. Und erst dann merkt man das richtig und kann man das auch selbst mitleben. Und das ist das, was ich hier so schön finde."
Er ist angekommen, sagt er. Setzt sich ein für die Gemeinschaft, tut was dafür, dass auch andere Kinder, die neu in die Förderschule kommen, sich wohlfühlen. Seine Eltern, seine Geschwister, die sind von montags bis freitags alle weit weg. Daran musste er sich erst gewöhnen.
Paulina hat ihre Familie jeden Tag um sich. Mutter, Vater, drei Schwestern und abends kochen sie oft zusammen. Heute gibt’s Kartoffelgratin. Johanna, 18 Jahre alt, schnippelt die Kartoffeln in eine Auflaufform; Paulina, 15, kümmert sich um die Salatsauce und Jannika, die jüngste, kämpft mit der Knoblauchpresse.
Bettina Willm, die Mutter, spricht nur leise und sie gebärdet jedes Wort mit, ganz automatisch. Sie übersetzt auch die anderen, die gerade keine Hand dafür frei haben. Eine besondere, eine stille Art der Familien-Kommunikation. Paulina guckt immer wieder hoch, um mitzukriegen, wer gerade spricht und was überhaupt Sache ist. Sie ist das einzige der vier Kinder, das taub ist. Die Gebärdensprache können alle hier. Paulina spricht. Und die Mutter übersetzt
"Ich bin gehörlos geboren und ... ich weiß nicht, wann habe ich denn angefangen zu gebärden?"
Mutter und Tochter gehen in einen Dialog. Wie da die Hände durch die Luft fliegen, wie im Ballett. Drei Monate nach Paulinas Geburt fiel es den Ärzten auf, dass sie nicht hören kann. Drei Tage nach der Diagnose haben ihre Eltern angefangen, Gebärdensprache zu lernen. Volkshochschule.
"Im ersten Kurs haben wir dann so gelernt, wie man in die S-Bahn einsteigt oder zur Arbeit fährt, das war natürlich sehr praxisnah."
Plaudern ohne Übersetzer
Die Willms lernen einen Verein kennen, der die Zweisprachigkeit bei Gehörlosen und schwerhörigen Kindern fördert und der Familien in Nordrhein-Westfalen bei der Kommunikation unterstützt. "Gib Zeit" heißt der Verein.
"Da kam dann auch jemand her, hat Bilderbücher mit mir übersetzt, Tischgebete und diese Sachen und dann haben wir es, glaube ich, so gemacht, dass wir es gelernt haben und dann angewandt haben. Während es ja mittlerweile so ist, dass Paulina was lernt und ich es dann von ihr lerne."
Paulina strahlt. Und dann leuchten ihre Augen und funkeln vor Freude und das ganze Mädchen glüht vor Stolz. Johanna übersetzt.
"Ich komme auf ganz viele Freizeiten mit Gehörlosen und dann trifft man sich auch wieder und ab acht Jahren war ich dabei und bis jetzt. Und jetzt bin ich halt 15, da sind die Freizeiten vorbei, aber ich mache jetzt an einem europäischen Feriencamp mit, und dieses Jahr fahren wir nach Kroatien."
Paulina freut sich drauf: Plaudern ohne Übersetzer. Hier in Deutschland, in Wipperführt, auf dem Land weit draußen im Bergischen, ist alles schwieriger für sie. Ihr bester Freund wohnt in Hannover, er ist auch gehörlos. Telefonieren geht deshalb nicht. Kontakt per Whatsapp oder per Besuch.
Paulina flitzt über den Flur, die Reporterin im Schlepptau, und zeigt ihr Zimmer. Sie teilt es sich mit ihrer Schwester Amelie. Hier auf dem Bett, erzählt sie, da hat sie neulich mit dem Mädchen gesessen, das sie in den Ferien besucht hat. Ein Mädchen aus der Gegend, aus ihrer Schule. Ein hörendes Mädchen – einige Jahre jünger als Paulina, aber egal. Da saßen die beiden also, haben sich mit Händen und Füßen verständigt und sich notfalls auch Nachrichten auf dem Handy geschrieben. Das absolute Highlight in den Osterferien.
Vater Willm kommt nach Hause und er bringt die vierte Schwester mit, Amelie. Vielleicht war es für ihn damals am schwersten, Paulinas Sprache zu lernen. Und vielleicht auch, die Diagnose anzunehmen: taub, gehörlos.
"Ich wusste erst nicht so richtig, was es zu bedeuten hat. Zuerst denkt man, na ja, hört sie halt nichts, ist ja nicht so schlimm. Dann überlegt man den zweiten Tag darüber, naja, wenn sie nichts hört, dann könnte dieses, jenes, welches ... was ist dann mit Schule, Beruf und so weiter und so fort. Und dann fängt so langsam an, der Berg zu wachsen. Und dann überlegt man schon und stellt fest, dass man viele Fragen hat und wenig Antworten."
Die Familie lernt, auf Gehörlosenart zu kommunizieren. Am Tisch spricht immer nur einer, denn nur einen kann man in Gebärden übersetzen. Durcheinanderquasseln geht nicht. Schule ist immer ein wichtiges Thema beim Essen. Paulina erzählt, dass ein Mädchen in ihrer Klasse ihr in Deutsch geholfen hat; dass die Gruppenarbeit in Religion gut gelaufen ist. Kleine, helle Signale in Paulinas Stille.
Dolmetscher helfen - und nerven
Die erste Stunde beginnt in der Gesamtschule Kürten um 7 Uhr 30. Paulina kommt mit dem Schulbus viel früher an, aber sie geht lieber spät nach oben zu den Klassenräumen im ersten Stock. Heute drängeln sich trotzdem noch die Mitschüler vor dem Raum, in dem sie gleich zusammen Englisch haben.
Wie laut es hier jetzt ist, kriegt Paulina nicht mit. Aber sie sieht, wie die anderen sich unterhalten. Und sie merkt, dass keiner sie grüßt. Und dass keiner ihr zulächelt. Klar, sie ist ja nicht doof. Nur taub. Kann es sein, dass sie die anderen Jugendlichen nervt?
"Ich saß nur einmal neben ihr, war ein bisschen komisch, man redet ja nicht mir ihr direkt, sondern mit den Dolmetschern ..." "da können ja auch andere Leute mithören, die Dolmetscher wissen dann, was man sagen will." "Ich finde das etwas nervig, wenn immer ein Erwachsener neben Dir herlaufen muss und wenn Du Geheimnisse mit Freunden bereden willst, und die das einfach so übersetzen müssen – da gibt es gar keine Privatsphäre mehr."
Die Dolmetscher. Die sind längst da und begrüßen Paulina und strömen jetzt mit ihr und den anderen zusammen in die Klasse. Es sind immer zwei, die sich über den Tag mit Übersetzen abwechseln, alle fünfzehn Minuten. Das Sozialamt bezahlt sie, im Rahmen der Inklusion- und Wiedereingliederungshilfe. Ohne sie wäre Paulina aufgeschmissen. Aber mit ihnen ist es irgendwie, jetzt, in der Acht, auch schwierig. Heide Hassert begleitet Paulina schon seit dem Kindergarten. Damals gingen die Kinder völlig ungezwungen mit ihr um.
"Man hat sich da gefühlt, wie jemand, der nicht da ist. Also, man war wirklich nur Sprachmittlerin und die Kinder haben das total annehmen können, also dass es sogar einmal so war, 'Frau Dolmetscherin, kommen Sie mal...', da waren alle auf dem Klo und da habe ich gedacht, 'ok, dann gehe ich jetzt mit auf dieses Mädchen-Klo und werde da jetzt diese wichtigen Dinge übersetzen' und das war da ganz normal."
Jetzt ist alles anders. Manche Schüler haben sich immer noch nicht an die beiden Erwachsenen gewöhnt, die gerade vor Paulinas Tisch schräg vorne vor der Tafel ihre Plätze einnehmen und auf Dienstmodus schalten. Sie gebärden jedes Wort der Lehrer oder auch mal das Getuschel der Mitschüler, je nach dem. Sie werten nicht. Sie schimpfen nicht. Sie übersetzen. Und sie haben Schweigepflicht.
In Dortmund, an der LWL Realschule mit Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation, gibt es keine Gebärdendolmetscher. Hier können die Lehrer Gebärdensprache und hier lernen es auch alle Kinder von Anfang an. Auch in Elias' Klasse.
"Wir unterscheiden hier zwischen A, B, und C-Klasse. A sind die leicht Schwerhörigen, B sind die Mittel- bis Schwerhörigen und C sind die Gehörlosen. Meine Klasse ist die A-Klasse."
Er steht auf dem Schulhof mit ein paar Klassenkameraden. Manche von ihnen tragen nicht mal Hörgeräte; ihre Ohren sind prima. Aber sie haben Schwierigkeiten, Gehörtes zu verarbeiten. Elias trägt Hörhilfen, aber auch die stoßen an ihre Grenzen, wenn viele Geräusche zusammen kommen, so wie jetzt auf dem Weg ins Schulgebäude. Dann kann auch er die Sprache aus dem Krach nicht herausfiltern. Oben im Klassenraum holen sich die Kinder jeder ein kleines Gerät aus einem Schrank. Sie hängen es sich um den Hals, an einer Schnur. Die Höranlage.
"Den Sender trägt der Lehrer, das Mikrofon läuft über die T-Spule in unsere Hörgeräte. Das heißt, wir kriegen den Lehrer direkt aufs Ohr. Das hilft uns im Unterricht."
Die Tische sind im Halbkreis angeordnet, damit alle das Mundbild der Lehrerin sehen können. In Elias´ Klasse sind insgesamt nur zwölf Kinder. Paulina sitzt oft mit dreißig Mitschülern in einem Raum. Und jetzt ist Elias´Klasse sogar noch geteilt, je nach Leseverständnis. Elias´Hälfte hat Deutsch bei der einen Klassenlehrerin und die teilt ihre Gruppe jetzt noch weiter auf, damit es noch leiser wird und jeder einzelne in Ruhe das üben kann, was er oder sie gerade braucht.
Intensive Betreuung in der Förderschule
Elias darf in einem Nebenraum mit einer Mitschülerin einen Songtext übersetzen in Gebärdensprache. Nachher werden sie ihn mit dem Handy aufzeichnen und den anderen vorführen. Die Schule legt Wert auf Selbständigkeit und Berufsbildung und überhaupt darauf, mit der Hörschädigung zurecht zu kommen. Letzte Woche war die ganze Klasse für drei Tage auswärts bei einem Seminar mit einem Audio-Therapeuten, erzählt die zweite Klassenlehrerin von Elias, Sonja Scholz, damit jeder und jede seine eigene Kommunikationsstrategie nach außen hin entwickeln kann. Was brauche ich, um möglichst gut hören zu können? Und: was sage ich anderen, wie erkläre ich denen meine Hörschädigung?
"Das war ganz, ganz toll, die Schüler haben super gearbeitet und auch glaube ich, viel mitgenommen. Das ist einfach ein guter Bestandteil hier an dieser Schule."
"Stand up, please ... Good morning everybody."
Bei Paulina in Kürten geht der Unterricht los. Ein Klassenkamerad steht vorne, er hat die Eingangssequenz in die heutige Englischstunde vorbereitet.
"How are you today, Lisa" "Fine, thank you..." "What is the date today?" "I don´t know." "What is the date today, Paulina?"
Paulina strahlt, sie ist dran! Sie stürmt von ihrem Platz - ganz vorne seitlich - an die Tafel und schreibt das Datum von heute an. Laut sagen kann sie es ja nicht.
Die Dolmetscherinnen und Lehrer arbeiten eng zusammen, damit Paulina klarkommt. Gerade ist Stillarbeitsphase. Lydia Wurm schaut bei Paulina über die Schulter.
"Was heißt das?" fragt sie die Dolmetscherin. "Sie kann keine Parties feiern."
Manche Kinder in der Klasse finden, Paulina würde bevorzugt; könne sich mehr herausnehmen; bekäme von den Lehrern mehr Aufmerksamkeit als die anderen. Frau Wurm ist die Sitzreihe weiter runter gewandert und guckt anderen in ihre Hefte.
"Es gibt manchmal Schüler ohne Einschränkung, also offensichtliche Einschränkung, die auf eine andere Art sehr, sehr viel mehr Stress und Arbeit machen als Paulina. Sei es mit Auseinandersetzungen, Nicht-aufpassen, Beleidigungen, andere Störungen, ja, das vergisst man, das ist dann so normal, aber eigentlich macht mir das mehr Stress, mehr Arbeit als zu gucken, ob es für Paulina gerecht ist, was im Unterricht kommuniziert wird. Also ich hab sie noch nie unmotiviert gesehen, außer wenn sie einfach nicht mehr kann, weil sie so erschöpft ist."
An der Gesamtschule Kürten mit über 1000 Schülern gibt es 40 mit besonderem Förderbedarf. Auf dem Schulhof fällt kaum einer davon auf. Paulina erst recht nicht: enge Jeans, Turnschuhe, Bikerjacke: alles normal. Vielleicht ist sie ein bisschen zarter gebaut als ihre Mitschülerinnen, aber auch hochgewachsen. Besonders sind ihre Augen. Die leuchten jetzt wieder. Und ihr wuseliger Pferdeschwanz weht hinter ihr her. Sie hat ein Ziel: Die Clique ihrer Schwester Amelie, und besonders das neue Mädchen aus deren Klasse. Sie ist die, die so schnell Gebärdensprache gelernt hat. 100 Wörter in zwei Wochen. Die Neue hat sich direkt zwei Apps auf ihr Handy runtergeladen, nachdem sie Paulina kennengelernt hat.
"Weil ich das blöd finde, wenn man sich nicht mit Paulina unterhalten kann und ich es auch verstehen kann, wenn Amelie dann vielleicht genervt ist, wenn man immer über sie mit Paulina spricht, dann hab ich mir überlegt, dass ich ein bisschen Gebärdensprache lerne, damit man sich mit Paulina unterhalten kann."
Amelie strahlt. Sie kommt allmählich in das schwierige Alter, in dem man sich finden muss im Verhältnis zu den anderen; in dem man Charakterstärke braucht, um anders sein zu können als die anderen. Die Neue in der Klasse ist eine prima Verstärkung. Sie kann jetzt auch mit den Händen sprechen. Dann ist es nicht mehr so peinlich, vor den anderen mit der Schwester zu reden.
Was ist richtig für mein Kind?
Hätte es Paulina in einer Förderschule leichter? In der alle ihre Sprache sprechen? In der sie Freunde finden könnte, weil auch andere so sind wie sie?
"Ja, ich überlege das ständig, ob das richtig ist. Immer, wenn´s gut läuft, dann mache ich mir da gar keine Gedanken, dann denke ich mir manchmal, ja, es könnte ja noch anders laufen ... muss ich dem Kind noch was anderes anbieten?, in dem Bewusstsein, dass sie ja in der Gehörlosenwelt auch bestehen muss."
Als sie noch klein war, wollten die Eltern Paulina in der Nähe haben. Im Kindergarten im Dorf lief es gut, in der Grundschule eigentlich auch. Dann kam die Entscheidung für die weiterführende Schule. Sie haben sich ganz viele angesehen, auch die Förderschulen. Die in Dortmund, auf die Elias geht, die hätte ihnen gefallen. Aber dann hätte Paulina ins Internat einziehen müssen. Der Vater war strikt dagegen.
"Das geht einfach nicht, ich selbst war auf einem Internat gewesen und ich war damals 16. Mir ist es damals schon schwer gefallen, die Trennung von zuhause in einer neuen Gruppe, die ich mir auch nicht ausgesucht habe und die Tag und Nacht in einem Zimmer, in einer Klasse zu ertragen zu müssen, das war auch nicht leicht. Und für ein Kind im Alter von 7 oder 8 Jahren geht das einfach nicht, wenn´s irgendwelche Alternativen gibt. Und die gibt´s ja. Auch wenn´s nicht einfach ist."
Elias´ Mutter ist es auch schwergefallen, ihren Zweitgeborenen "abzugeben". Sie hätte ihn auch gerne zuhause groß werden lassen und an der Regelschule behalten. Aber Elias wollte nicht mehr den Status eines Sonderlings haben, ihm hat der Wechsel gut getan.
Paulina und ihre Schwestern machen es sich auf dem Sofa bequem. Kuscheln und kichern zusammen mit einem Harry Potter Buch. Das hier aufgeben? Diese Geborgenheit und Nähe, die Paulina so genießt. Nur noch am Wochenende bei der Familie sein? Nein, sagt Paulina. Die Mutter übersetzt.
"Also, ich hab das eigentlich so für mich entschieden, dass ich es jetzt bis zur zehnten Klasse einfach hier durchhalte. Dann hoffe ich, dass ich nach der Zehnten einfach abgehe und eine Ausbildung mache. Ob ich die mit anderen Gehörlosen machen kann, weiß ich auch gerade nicht, aber so ungefähr habe ich mir das vorgestellt."
Amelie ist mit Lesen dran, Jannika hat sich an sie gekuschelt. "Alles in Ordnung mit Dir, Harry, du bist ja ganz still."
Die Mutter sitzt im Schneidersitz vor Paulina und gebärdet. Und Vater Willm sitzt auf dem Lehnstuhl, streichelt die Hunde und schaut abwechselnd auf seine Familie und durch das Panoramafenster hinaus ins Tal.
"Man sieht immer bei den Leuten das Problem, die das Handicap haben. Aber das Problem sind in der Regel die anderen, die nicht lernen, damit umzugehen. Denen es eigentlich viel leichter fallen müsste, weil sie können hören, sie können sehen, sie können rennen, sie können springen. Aber was sie nicht können, ist mit dem umzugehen, wenn jemand anders das nicht hat, dann werden sie auf einmal unsicher. Das ist eigentlich ein Paradoxon ohne Ende."
Amelie liest vor: "Rons Ohren färbten sich rosa, denn er dachte, er hätte zuviel gesagt." Die Mutter lacht: "Paulina sagt, sie hätte auch rosa Ohren."
Die Nestwärme ist spürbar. Paulina saugt sie in sich auf. Sie gibt ihr Kraft für den nächsten Schultag.
"Wenn Du niemanden hörst, dann ist das doch einsam, oder?"
Deutschstunde. Auch da geht es um ein Buch. Um ein Buch für Heranwachsende. Frau Giebisch hält die Zügel fest in der Hand, denn in dem Buch ist auch mal von nackten Brüsten die Rede.
"Wer denkt jetzt, dass es Isa egal ist, dass sie nicht weiß, was sie tut, wenn sie das T-Shirt auszieht, wer glaubt das?"
Elke Giebisch unterrichtet nicht nur Deutsch, sie leitet und organisiert auch den Fachbereich Sonderpädagogik. Seitdem die Inklusion Regierungsziel in Deutschland und in Nordrhein-Westfalen ist, gibt es diese Fachbereiche an den Regelschulen, die Förderkinder aufnehmen. Elke Giebisch stellt an der Gesamtschule Kürten für jedes Förderkind den eigenen, behinderungsbedingten Förderplan auf. Für Paulina z.B. werden in manchen Klassenarbeiten manche Aufgaben etwas anders formuliert als für die hörenden Kinder, so dass sie sie sprachlich verstehen kann. "Nachteilsausgleich" heißt das in der Fachsprache.
"Es klappt sehr gut mit Paulina. Sozial müssen wir gucken, dass da die Integration noch besser wird, man sieht, wie glücklich sie strahlt, wenn die Kinder Gebärdensprache mit ihr sprechen."
Wenn sie mit ihr sprechen. In der Fünf gab es ein Jahr lang Gebärdenunterricht für alle, die mitmachen wollten. Die halbe Klasse kann das eigentlich ganz gut. Aber man muss es auch anwenden wollen oder vielleicht auch nur dran denken. Auch mal zwischendurch. Haben die Mitschüler mal überlegt, wie es sich anfühlen mag, wenn man nichts hören kann? Sich reinversetzt in Paulinas Situation?
"Äh, nö, keine Ahnung." "Also ich denke, das kann man sich gar nicht vorstellen, weil man das noch nie erlebt hat." "Ich glaube, man könnte das mal ein bisschen simulieren, wenn man sich mal was in die Ohren stopft, was schallundurchlässig ist." "Ich fände es komisch, wenn man fernsieht, dass man den Ton nicht hört. Oder Radio kann sie ja nicht hören. Nicht cool!" "Nein ... weil das ist ja so, als ob Du alleine wärst, wenn Du dann niemanden hörst, dann ist das so einsam, oder?"
Elias kennt diese Einsamkeit auch. Er kennt sie aus seiner Zeit an der Regelschule und er kennt sogar Mobbing; so fies, dass er selbst fies wurde zu seinen Mitschülern und dass gar nichts mehr ging. Jetzt ist er Klassensprecher in der Schule und Gruppensprecher in seinem Internatshaus. Zum Abendessen sind alle acht Kinder da und jeder deckt auf, was er gerne essen möchte. Zwei Erzieherinnen lassen ihre Augen schweifen und leiten die Jungs und lenken und manchmal müssen sie auch ein bisschen schlichten oder trösten: Das ist Elias´ Zuhause von montags bis freitags.
"Es ist nicht so, dass es hier keine Probleme gibt, aber dieses große Thema Hören, das ist hier einfach, das ist hier nicht aus´m Raum, aber es gibt hier keine Probleme damit, weil es hier wirklich jeder in einer anderen Form hat."
Er hat Freunde gefunden. Er hat gerade noch mit ihnen auf dem Rasen gesessen, auf der großen Wiese zwischen den Internatshäusern. Und Paulina?
Die wünscht sich Freunde. Wenigstens einen. Oder eine Freundin. Einfach mal ein bisschen plaudern nach der Schule, schwatzen, zusammensein.
Frühstück bei Familie Willms. Ein neuer Tag. Paulina setzt auf diesen Tag. Paulina setzt auf jeden Tag. Vielleicht lächelt ihr heute jemand zu in der Schule. Oder hilft ihr in Deutsch. Oder wählt sie beim Sport aus, wenn die Kinder die Mannschaften einteilen. Vielleicht.
Paulina reißt die Haustür auf und stürmt mit ihren Schwestern hinaus ins Leben.