Schule hinter Gittern

Wie Lernen im Knast funktioniert

Mehrere Häftlinge der Justizvollzugsanstalt (JVA) Ravensburg stehen am 18.03.2014 an der geschlossenen Eingangstür zum Schultrakt.
Für einige Häftlinge ist das Gefängnis ein Ort, an dem sie das Lernen lernen. © picture alliance / dpa / Felix Kästle
Von Thomas Klug und Maximilian Julius Klein |
Die Gefangenen sitzen hier nicht nur ihre Strafe ab: Die JVA Berlin-Tegel ermöglicht es ihnen, ihren Schulabschluss nachzuholen. Viele Inhaftierte können sich hinter Gittern erstmals auf den Unterricht und auf das Lernen konzentrieren.
Zweimal die Woche ist er hier, immer dienstags und donnerstags. Dann zieht Lars Weber die schwere Eingangstür auf und betritt eine andere Welt. Graue Wände neben sich, Panzerglas vor sich. Drinnen tauscht er als erstes seinen Ausweis gegen ein Schlüsselbund, dann bahnt er sich den Weg durch jede Menge Türen.
"Ich komme um halb, dreiviertel acht hier rein, dann fängt der Unterricht an. Ich habe meistens nur zwei Blöcke von acht und bis halb zwölf."
Die Gitter überall, die waren am Anfang ungewohnt. Jetzt sieht sie Lars Weber kaum noch. Er läuft über den Hof. Tür auf, Tür zu. Er durchquert einen Gang. Tür auf, Tür zu. Er nickt einem vorbeikommenden Justizbeamten zu. Tür auf, Tür zu. Er betritt ein weiteres graues Gebäude. Tür auf. Tür zu. Geht in ein kleines Büro. Legt seine Jacke ab. Schnappt sich seine Tasche. Geht eine Treppe nach unten und betritt den Unterrichtsraum. Mathematik.
"Mich hat immer schon Unterricht interessiert, wie man Sachen erklärt, wie man motiviert. Ich bin mehr oder weniger zufällig Lehrer, das hat mich auch in meiner Persönlichkeit total verändert, vor einer Klasse zu stehen und Leute zu begeistern."
Lars Weber ist Lehrer. Zwei Tage pro Woche in der Volkshochschule, zwei Tage in der JVA Berlin Tegel.
Die UNO hängt an der Wand. Als Schautafel. Die aufgeklebten Flaggen sind vergilbt, die Handschrift nur noch schwer zu lesen. Die Vereinten Nationen sitzen im Klassenraum: Deutsche, Bulgaren, Türken, Tschetschenen, Russen, Araber, ein Staatenloser. Sie sitzen hinter den Schulbänken, haben Mathebücher vor sich aufgeschlagen, tippen auf Taschenrechnern herum und lernen gerade die Grundlagen der Prozentrechnung.
Sie sind spät dran damit. Viel zu spät. Ein Kartenständer steht in der einen Ecke, in der anderen Ecke gleich neben der Tür ein Papierkorb mit der Aufschrift "Bücherei“. Die Fenster des Klassenraums sind vergittert.
Wenig Interesse an der Schule vor der Haft
"Ich mach jetzt gerade meine Schule. Ich versuche einen Abschluss nachzuholen. Weil ich das damals versäumt habe. Und jetzt versuche ich mich jetzt auch schon langsam auf draußen vorzubereiten so. Allgemein vom Kopf her."
Dennis ist gerade dabei, seinen Hauptschulabschluss zu machen. Dennis ist 28 Jahre alt, dunkle Haare, dunkle Augen. Sein Blick scheint alles ganz genau zu taxieren. Für Schule hat er sich früher nicht interessiert.
"Ich hatte andere Interessen damals. Also mir... Die Schule hat mir nicht so gelegen. Da hatte ich nicht das große Interesse danach. Und ja, da habe ich kein Abschluss gemacht. Bis zur 7. Klasse. Und das fehlt mir jetzt natürlich. Jetzt für... in Bildungslücken habe ich immens auf jeden Fall. Viele Sachen, obs jetzt in Mathe ist oder halt sprachlich in Englisch oder halt andere Sachen. Das ist jetzt gut, dass ich jetzt wenigstens die Zeit hab ein bisschen nachzuholen. Das hätte ich draußen schwerer gehabt."
Drinnen. Draußen. Das ist mehr als ein Ortswechsel. Drinnen und Draußen – das sind Zeitformen in der Knastsprache. Drinnen steht für das jetzt und hier. Und draußen – das ist Vergangenheit. Und irgendwann Zukunft. Draußen also. Es hat nicht gut geklappt damals, nicht mit der Schule, nicht mit der Freizeit. Es hätte auch anders laufen können, glaubt Dennis heute.
Für die Insassen gibt es nur "drinnen" und "draußen". Draußen ist ihre Vergangenheit.
Für die Insassen gibt es nur "drinnen" und "draußen". Draußen ist ihre Vergangenheit. © dpa / picture alliance / Maurizio Gambarini
"Was ich mir gemerkt habe, was mir klar geworden ist, das auch hier jetzt die letzten Tage, was ich gemerkt habe, was ich manchmal denke, ist: Meine Eltern waren zwar immer hinter mir her und haben alles und sich richtig bemüht, um alles mir das beste zu machen, ja, was sie konnten. Das Problem war meine Eltern haben keinen hohen Bildungsgrad, ja. Das heißt mein Vater hat nicht studiert, meine Mama auch nicht, ja. Und mir persönlich kommt das so vor, also ich bin sehr unaufgeklärt in Sachen, was kann ein junger Mensch überhaupt machen in der Welt draußen. Was kann man überhaupt für Berufe machen und das ist für mich immer noch ein Rätsel, ja."
Dennis hebt die Schultern, um sie schnell wieder fallen zu lassen. Sein Blick bohrt sich kurz in die Wand gegenüber. In zwei Jahren und drei Monaten beginnt für Dennis die Zukunft. Genau dann. Dann wird er sechs Jahre und acht Monate im Gefängnis hinter sich haben. Dann wird er jenseits der 30 sein. Dann fängt ein anderes Leben an. Gerade räumt er noch sein altes auf.
"Ich habe damals sehr gut Fußball gespielt. Und hatte auch also war in einem guten Verein. Hab damals in der Jugend bei Hertha Zehlendorf gespielt. Und da habe ich schon ganz gut gespielt. Hatte ich einen Vertrag, alles. Da war ich 13, dann ging ich noch zur 7. Klasse. Das, die Sache war. Ich hatte 5x die Woche Training ja. Ich bin dort hin gegangen, ich hab sogar schon damals Geld bekommen, ja, fürs Spielen. In dem Alter. Und das war alles sehr schön, hat Spaß gemacht. Dann kam meine erste Liebe dazu. Und das hat alles nicht so zusammen gepasst. 5 Mal die Woche Training, einmal Spiel am Wochenende. Das sind 6 Tage schon mal, Freizeit, die weg sind. Dann noch vormittags zur Schule gehen. Das war mir alles zu viel, dann habe ich alles hingeworfen."
Den Respekt als Lehrer muss man sich erarbeiten
Lars Weber steht an der Tafel. Jeans und Schlabber-T-Shirt. Die linke Hand in der Hosentasche, schreibt er mit der rechten eine Aufgabe für die nächste Stunde an die Tafel.
Dann legt Lars Weber die Kreide aus der Hand. Es ist Pause. Der Lehrer sagt es. Eine Schulklingel gibt es nicht.
"Es gibt schwierige Leute, wo man nicht das Gefühl hat, dass man durchdringt durch diese ganzen Masken. Zum Anfang muss man die auch erstmal, wie sagt man, justieren und sagen, ich bin hier der Chef und lasse mir nicht übers Wort fahren und sie müssen auch was machen, was ich sage und so. Das dauert immer ein bisschen, wenn sie sehen, dass sie Englisch sprechen können, die Russen sind wirklich total interessiert an diesem Englisch und dann noch Mathe, da geht es so langsam vorwärts. Dann hat man sich diesen Respekt so ein bisschen erarbeitet."
Lars Weber steigt wieder die Treppe nach oben in sein kleines Büro. Ein paar Regale an der einen Wand. Mit Videokassetten für den Unterricht. Hitlerdokus und die Verfilmung des Romans "Die Welle“. Ein Schreibtisch vor dem Fenster, davor Gitter. Ein Schrank an der anderen Wand. Lars Weber lässt sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen. Eine Vierteldrehung nach links, eine halbe Drehung nach rechts. Er sei kein geduldiger Mensch sagt er. Geduld hat er erst hier gelernt, bei seiner Arbeit als Lehrer im Gefängnis.
"Und dabei ruhig zu bleiben, den Humor zu behalten und nicht diesen Satz machen: Das habe ich schon tausendmal erklärt. Nee, mache ich nicht. Ich erkläre es noch mal."
Wer hier sitzt, hat selten gute Erinnerungen an die Schule. Und Erfolg ist etwas, was keiner der Schüler mit der Schule verbindet.
"Sie waren einfach nicht in der Schule, sie haben ihre Drogen genommen, die haben die Schule abgebrochen, sie haben die Schule nicht ernst genommen. Und letzten Endes merken sie, dass sie auch deswegen hier sind, weil sie den normalen Bildungsweg nicht gegangen sind, keinen Beruf gelernt haben und versucht haben, sich irgendwie über Wasser zu halten und dann im Knast landeten."
Die Lebensgeschichten ähneln sich
Die Lebensgeschichten. Lars Weber kennt sie. Sie ähneln sich. Selten fangen sie gut an oder halbwegs normal. Und irgendwann kommt der Punkt, wo die Biographie nicht nur schwierig ist, sondern in den Knast führt. Manchmal nicht nur für ein paar Jahre. Dann sind sie in einer Welt, die bessere Menschen aus ihnen machen soll. Eine eigene Welt. Eine Welt, von der auch ein Lehrer im Gefängnis nicht viel mitbekommt. So einiges aber schon.
"Sie werden nicht erzählen, was da mal passiert ist. Treppengeländer gestoßen. Es gibt schon viele Spannungen untereinander. Viele Spannungen werden hier mit reingebracht. Oder Geld. Oder Drogen. Was hier alles abgeht, ist unglaublich, also was man hier alles haben kann. Und Internet. Und Handys. Unfassbar."
Lars Weber erzählt von einem Schüler, groß, intelligent und jemand, der einen Menschen getötet hat:
"Neulich waren wir mal alleine. Ich frage, was haben Sie denn gemacht: Ich getötet meinen Freund. Haben wir an dem Satz dann Grammatik gemacht: Ich habe meinen Freund getötet. Das war gut, der hat sich total gefreut, dass ihm jemand mal korrigiert, weil das sonst keiner macht. Seitdem habe ich bei ihm einen großen Stein im Brett. Der hat zwar eine große Klappe, aber ich mag sowas. Man hat einen direkten Kontakt. Man hat die Möglichkeiten nicht so oft."
Die nächste Unterrichtsstunde: Englisch.
Lars Weber stellt eine Aufgabe: Lückentexte vervollständigen. Die Sitznachbarn sollen zusammenarbeiten.
"Diese Interaktionen, wie die sich da helfen, also die Türken oder die Araber, wie die sich da helfen, auch hier in der Schule, wie die miteinander kooperieren, wie die sich wirklich helfen. "
Alex, groß und stämmig, ein Tattoo auf dem Handrücken, sechs Jahre in Berlin, zwei davon hinter Gittern
Alex konzentriert sich. Er hat sich seinen Stammplatz in der ersten Reihe ausgesucht. Dort sitzt er immer. Aber heute will er reden. Über sich und die Schule im Knast. Wir gehen wieder in das Büro des Lehrers.
Schule ist gut, sagt er. Er meint es ernst damit. Sehr ernst sogar.
Alex, groß und stämmig, ein Tattoo auf dem Handrücken. Er stammt aus Bayern, lebt seit über sechs Jahren in Berlin, zwei Jahre davon hinter Gittern. Zu dreieinhalb Jahren Haft wurde er verurteilt.
"Räuberische Erpressung. Ich war damals in der Nacht vor einer Sparkasse und hab jemandem sein Geld weggenommen."
Seit Alex im Gefängnis ist, geht er regelmäßig zur Schule. Mathematik mag er. Und Englisch, sagt Alex. Sein Vater ist Amerikaner, doch zu Hause haben sie nur deutsch gesprochen. Kaum in Berlin angekommen, läuft alles schief.
Es braucht lange, bis man die Gitter nicht mehr sieht.
Es braucht lange, bis man die Gitter nicht mehr sieht.© dpa / picture alliance /Paul Zinken
"Ich bin mit meiner Ex damals nach Berlin gekommen. Die hat hier in Berlin eine Ausbildung angefangen. Und dann bin ich mit nach Berlin gekommen. Bin dann rückfällig geworden. Ich hab draußen viel Kokain und so konsumiert. Und dann entsprechend auch wieder straffällig geworden."
Gefängnis ist Scheiße, sagt Alex noch. Wir sollen das allen erzählen: Gefängnis ist Scheiße. Und Schule wichtig. Er sagt es und geht in die Pause.
Er läuft an seinem Lehrer vorbei. Lars Weber ist gerade mit dem Englisch-Unterricht fertig.
"Heute, dieser..., der hier war, der war jetzt lange nicht da. Zu dem habe ich immer so Distanz. Eigentlich wollte ich ihn heute so ein bisschen anranzen, wo waren Sie denn. Er war ganz nett heute. Dann habe ich mit ihm Englisch geredet und die Wörter erklärt. Und gemacht und getan. Da habe ich ihm gesagt: Sie müssen hierher kommen, wenn Sie das schaffen wollen, müssen Sie hier herkommen. Und ich war nett zu ihm – und das war richtig."
"Wer Interesse hat an der Schule als Neuankömmling auf der anderen Seite, das heißt also als Inhaftierter, der schreibt praktisch eine Bewerbung an die Schule und dann wird je nach Bedarf oder nach Planstellen, werden die Klassen dann bestückt."
An der Gefängnisschule werden ganz grundsätzliche Dinge geübt
Henryk Jaschullek. Er ist am längsten hier, seit 1989. "Lebenslänglich“. Diesen Gag muss er sich oft anhören von seinen Schülern. Jaschullek ist Lehrer: Chemie, Physik, Mathematik.
"Die Schule, die wir hier praktisch mit sechs Kollegen führen, die ist zweigleisig. Sie führt einerseits zu Abschlüssen, zu dem ehemaligen Realschulabschluss, MSA jetzt genannt. Und wir haben noch zwei ehemalige Hauptschulkurse, die dann zur Berufsbildungsreife, wie das jetzt so schön heißt, führen."
Es ist Pause. Henryk Jaschullek erklärt uns die Schule der JVA Tegel.
"Die Kurse sind klassenmäßig organisiert. Wir haben dann pro Kurs so 20 Leute im Schnitt in einer Klasse. Der Unterricht wird dann wie in der normalen Schule ganztägig erfolgen, also von vormittags bis in den Nachmittag hinein, bis Zellenarbeit, Vorbereitung auf die externe Prüfung übrigens..."
Das Schulgebäude ist schlicht. Zwei Etagen Beton. An den Wänden in den Fluren Plakate vom Gefängnistheater, eine Schautafel über einheimische Nadelbäume, über die Regenten Europas und darüber, wie ein Gesetz entsteht. Daneben eine Schautafel, auf der eine Frage prangt: Wie werde ich Bundeskanzler/Bundeskanzlerin? Die Schüler gehen daran vorbei:
"Es sind ja Erwachsene, die aber große Mängel aufweisen, gerade so im Hinblick auf Arbeitstechniken. Die sind also nicht in der Lage zu strukturieren, wenn sie hier anfangen, sie können einen Text nicht nach wichtigen und unwichtigen Dingen unterscheiden, eine Gliederung erstellen, diese ganzen Arbeitstechniken, einen Text zu lesen und dann auch zu verstehen, die werden hier natürlich geübt."
Knast, immer das Gleiche, immer die gleichen Geschichten
In der Pause wollen alle raus – zum Rauchen. Das Bild: immer gleich: der Griff in die Jackentasche, eine Zigarette aus der Packung klopfen, zwischen die Lippen schieben, anzünden, ziehen. Die Hände brauchen Bewegung. Die Hofpause ist wie ein babylonischer Basar. Hier wird gehandelt.
Der Hof ist wichtig. Endlich weg von den Fenstern, die das Draußen nur durch Gitterstäbe zulassen. Drinnen geht der Blick nur bis zur nächsten grauen Wand. Die ist immer zum Greifen nah. Und so vertraut, wie man mit keiner Wand vertraut sein möchte. Jedes Stückchen Wand mit den Augen abtasten - das geht so schnell bei neun Quadratmetern.
Knast, das ist immer das Gleiche. Immer die gleichen Geschichten von draußen, die sie sich hier drinnen erzählen. Die Hoffnung auf die Zeit danach. Und immer wieder das Unbehagen, wenn die Zellentür geschlossen wird und der nächste Morgen weit weg ist. Dann ist Knast so richtig Knast.
Privates zu erzählen ist für die Lehrer absolut tabu
Das Schulbüro. Zwei Justizbeamte sitzen hier. Sie sind für das Organisatorische an der Schule verantwortlich: Schüler holen und wegbringen, für Sicherheit sorgen, den Überblick behalten. Milda Gerber, die einzige Lehrerin in der JVA Tegel, kommt herein.
"Also, ich hab in Italien im Gefängnis gearbeitet. Und hab dann hier in Deutschland auch ein Praktikum gemacht, im Gefängnis. Und, ja, fand einfach Vollzug interessant. Also vom Klientel her, von den Männern her. Genau, Männervollzug. Frauenvollzug würde ich niemals machen, aber Männervollzug."
"Männer haben doch teilweise noch eine andere Höflichkeit. Also Frauen treten meistens aggressiver dann auch schnell mal auf. Oder sind barscher."
Milda Gerber ist 28; jünger als einige ihrer Schüler. Sie geht in einen kleinen Raum um die Ecke, ihren Unterrichtsraum.
Sie unterrichtet Deutsch. Es sind nur zwei Schüler, ein Sonderkurs. Sie lässt die Tür offen. Das macht sie immer, wenn sie unterrichtet. Und wenn sie alleine im Schulbüro sitzt.
"Ne, das ist mein Büro. Aber das Ding ist natürlich, die Inhaftierten können während der Pausen hier immer reinkommen. Und wenn der Beamte, also das ist ja vorne nur ein Beamter, wenn der natürlich draußen auf dem Pausenhof ist, dann bin ich hier alleine. Und dann kann natürlich hier jeder reinkommen und die Tür zu machen und ich hab halt keine Sicherheit."
Milda Gerber hat sich wieder in das Büro gesetzt. Ihre zwei Schüler sitzen allein im Klassenraum.
"Am Anfang war ich ziemlich naiv, dass ich dann auch auf die total offen zugegangen bin. Auch von mir persönlich erzählt hab. Und dann gabs so ein paar Vorfälle, wodurch ich natürlich gemerkt habe, also Privates ist absolut tabu. Also in jeglicher Hinsicht. Ja und dann, ich würde es eher Respekt nennen. So in mancher Hinsicht. Da bei dem Kurs jetzt zum Beispiel, da hat man irgendwie so schnell eine Basis aufgebaut, wo ich auch mich durchsetzen kann. Wo es kein Problem mehr ist."
Milda Gerber sagt, dass sie inzwischen weiß, was sie erzählen kann. Und was nicht.
Die Insassen haben keine Illusionen: Auch draußen ist es verdammt schwer.
Die Insassen haben keine Illusionen: Auch draußen ist es verdammt schwer. © dpa / picture alliance / Maurizio Gambarini
"Also zum Beispiel gab's einen, das war im Sommer letztes Jahr. Und der hatte auch nach meinem Namen gefragt und wo ich so herkomme. Und ich hatte nicht meinen Vornamen genannt. Aber ich hatte denen gesagt, ja, ich komme aus Friedrichshain. Und der hatte mich dann bei Facebook ausfindig gemacht und hatte auch alle meine Freunde kontaktiert. Und das musste natürlich gemeldet werden und der ist auch noch Schüler, aber der wurde natürlich, dem wurden natürlich noch mal Sachen gesagt."
"Ich bin hier im Gefängnis, das macht mich traurig"
Für heute ist der Unterricht vorüber. Die Schüler werden wieder zu Gefangenen. Sie werden in ihre Zellen gebracht. Auch Dennis. Er gestikuliert. Sein Weg führt über den Hof. Dennis hatte von seine Fußballverein erzählt. Es hätte gut laufen können. Es ist nicht gut gelaufen.
"Dann habe ich mit den Jungs auf der Straße mehr rumgehangen. Dann hat sich eins zum nächsten ergeben. Dann hat man mal angefangen Geld zu machen. Also hat man kein Geld gehabt, ja. Dann wollte man vielleicht auch wie die anderen mal ins Kino gehen und so. Zum Beispiel bei meinem Freundeskreis, wo ich groß werde, da ist das ganz selten, dass einer zu Hause, das die ein Haus haben. Und, dass das denen finanziell sehr gut geht beispielsweise. Das ist meistens nicht so, und dann sieht man halt andere Leute mit schönen Schuhe, will man die auch haben, ja. Hat man angefangen zu klauen. Einbrüche zu machen."
Wir laufen an Rasen vorbei. Mitten im Grün ein ausgetretener Pfad, ein Kreis. Ein einzelner Gefangener zieht dort seine Runden, abgetrennt von allen anderen. Dennis beachtet ihn nicht, erzählt von sich und von seinen vier Schwestern.
"Macht mich auch traurig, ja. Ich bin hier im Gefängnis, ich habe meine Geschwister draußen, ich habe vier Schwestern. Und die liebe ich über alles, ja. Ich weiß gar nicht warum die mich so lieben, ehrlich gesagt, ja. Weil die eigentlich voll wenig von mir hatten in all den Jahren. Und ich versuch den jetzt auch ein bisschen was zurück zu geben, wenn ich entlassen werde und, ja. Muss ja auch."
Haus II. Es ist das älteste Gebäude der JVA Tegel. Das unbeliebteste ist es auch. Wilhelm Vogt saß hier schon ein, der als Hauptmann von Köpenick berühmt wurde. Das ist über einhundert Jahre her. Seitdem kann sich hier nicht viel verändert haben. Dennis hat gerade ein Problem. Ein Mobiltelefon war da, wo es nicht sein durfte. Im Knast kommt man an alles ran. Das sagt hier jeder – die Gefangenen, die Lehrer, sogar die Beamten.
"Aktenzeichen XY" beliebter als die Sportschau
Die Zelle von Dennis ist im Erdgeschoss von Haus 2. Es riecht stickig. Vom Bett kann Dennis direkt auf die Toilette schauen. Es gibt nur kaltes Wasser. Ein Poster an der Wand. Es zeigt die Al-Aqsa Moschee. Hab nicht aufgeräumt, sagt Dennis. In einen braunen Pressspanschrank hat er viele Sachen hastig hineingestopft. Klamotten, Geschirr, Fertigessen. Die Gefangenen können die Küchenzeile nutzen. Der Fernseher ist das Fenster nach draußen. "Aktenzeichen XY“ schaut er regelmäßig. Manchmal kennt er die Leute, nach denen gefahndet wird. Im Knast soll die Sendung beliebter sein als die Sportschau. Der Fernseher konkurriert mit den Hausaufgaben. Er will Vokabeln lernen, die Schule abschließen. Illusionen macht er sich keine.
"Mir ist ja klar, dass mir der Hauptschulabschluss nicht irgendwelche großen Türen öffnen wird, ja. Aber das mach ich jetzt nur für mich halt, dass ich hier nicht verstumpfe auch, im Haus. Und hier in den Betrieben, das liegt mir nicht so. Daher ist gerade die beste Lösung für mich. Das ich hier ein bisschen Schule mache, meinen Kopf fit halte, ja. Ich verspreche mir davon nicht allzu viel. Also, was jetzt arbeitstechnisch angeht auf der Arbeitswelt, weil ich bin jetzt 28 Jahre alt, hab keine Berufsausbildung. Macht man gerade einen Hauptschulabschluss, ist man nicht so gefragt."
Gerne denkt Dennis nicht darüber nach. Irgendwann ist jedes Detail der Zukunft ausgemalt, jeder Plan geschmiedet und verworfen, jede Sehnsucht im Kopf abgespeichert. Wie es wirklich sein wird, lässt sich nicht ausmalen: Das Gefühl, wenn er durch das Gefängnistor geht und nicht mehr zurück muss, wenn er seine Schwestern wiedersieht und nicht nach einer Stunde jedes Gespräch abgebrochen werden muss. Jetzt ist er hier in seiner Zelle, darf möglichst wenig auffallen. Und muss die Regeln einhalten. Eine Regel heißt: Es gibt Uhrzeiten, zu denen er in seiner Zelle sein muss. Gefangenenzählung.
"Ich muss gucken das ich mit dem Kochen so hin komme, das wenn's klingelt, das ich mein Essen da habe. Dazu kommt das wir 500 Leute im Haus sind. Da will jeder kochen, da will jeder duschen, da will jeder das machen. Und dann ist man da manchmal richtig in Hektik, ja. "
Doch die Uhrzeiten sind nicht einmal das Wichtige. Das Wichtige ist: Wann ist die Zellentür offen und wann ist sie verschlossen. Zellentür auf heißt Kontakt nach draußen, Austausch, Reden können. Zellentür zu heißt: Mit sich allein sein. Mit sich, seiner Vergangenheit, mit den eigenen Träumen und Zweifeln.
Alex hat gute Chancen, wegen guter Führung acht Monate früher raus zu kommen
Alex sitzt in seiner Zelle. Brütet noch einmal über den Matheaufgaben. Prozentrechnung. Eine Gleichung, zwei Bruchlinien, drei Zahlen, ein x. Hinter dem x muss sich auch eine Zahl verbergen. Das weiß Alex. Er muss die Zahlen irgendwie sortieren, irgendetwas wird multipliziert, dann wird etwas geteilt. Alex konzentriert sich, will es rauskriegen. Knast ist Scheiße, hat er gesagt. Und jetzt sagt er sogar: Schule ist mir wichtig. Er sagt das einfach so.
"Es ist eine Chance die wo einem hier gegeben wird. In Tegel in der JVA. Und wer weeß, ob man dann draußen noch motiviert ist, vielleicht wieder in alte Muster verfällt. Man weiß ja nie was kommt, ja. Und wie gesagt, hier ist alles gut. Die Lehrer sind offen man kann hier gut mit denen quatschen und... Ist gutes Angebot und Zeit wäre verloren, wenn ich jetzt hier anfange und dann mittendrin einfach entlassen werde und dann die Schule abbreche."
Will Alex einen guten Eindruck machen? Mit Sätzen wie diesen vielleicht punkten, um früher entlassen zu werden?
"Ich bin noch jung, Ausbildung. Bildung allgemein ist im Leben das Wichtigste und so. Früher war mir das scheißegal. Da habe ich nicht so dran gedacht. Lass mal Vater predigen, dies, das. Aber hier das ist einfach nicht nur Zeitvertreib, auch das man Geld dafür auch verdient, spielt auch eine Rolle. Aber auch Bildung. Ich will draußen eine Ausbildung anfangen. Und ohne Schulabschluss ist das bei der heutigen Wirtschaftslage einfach nicht möglich."
Alex hätte tatsächlich gute Chancen, wegen guter Führung acht Monate früher raus zu kommen. Das will er aber nicht. Er will bleiben. Seine Strafe absitzen – bis zum letzten Tag. Freiwillig. Wegen der Schule. Alex will endlich etwas zu Ende bringen. Er weiß, dass er draußen sonst wieder Probleme kriegt – ohne Schulabschluss.
"Aber da ich ja Schule mache und die Prüfungen dann noch sind, würde ich die verpassen. Und deswegen bleibe ich, um die Prüfungen von der Schule noch mitnehmen zu können."
Alex will auf Nummer sicher gehen. Und sicher – das ist für ihn der regelmäßige Unterricht, die Schule im Knast. Bis zum Abschluss.
Die Journalisten Thomas Klug und Maximilian Julius Klein recherchierten in der Justizvollzugsanstalt in Berlin-Tegel für ihre Reportage über den Schulunterricht hinter Gittern.
Die Journalisten Thomas Klug und Maximilian Julius Klein
Thomas Klug und Maximilian Julius Klein© privat
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