Schule ist "eine Brutstätte für Mobbing und für Schulhoftyrannen"

Dagmar Neubronner im Gespräch mit Joachim Scholl |
Die Entscheidung für Homeschooling beruhte bei Dagmar Neubronner auf der Beobachtung, wie aus ihren wissbegierigen fröhlichen Kindern schlappe und übellaunige Schulkinder wurden. Auf der ersten globalen Konferenz zum Thema treffen sich Eltern aus 20 Ländern in Berlin.
Joachim Scholl: Wir wollen die Schulen nicht abschaffen, sondern fordern das Recht, auf sie verzichten zu können. Das sagt Dagmar Neubronner, eine Frau, die sich weigert, ihre beiden Kinder auf eine staatliche oder private Schule zu schicken. Sie und ihr Mann unterrichten zu Hause, und das ist in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern verboten, denn bei uns besteht Schulpflicht. Gegen diesen Zwang protestieren heute auch die Teilnehmer der ersten internationalen Homeschooling-Konferenz in Berlin. Dagmar Neubronner hat sie mit organisiert und ist jetzt am Telefon. Guten Tag!

Dagmar Neubronner: Guten Tag!

Scholl: Seit 2005, Frau Neubronner, haben Sie einen mühseligen Marsch durch die gerichtlichen Instanzen angetreten – immer vergeblich, dafür sozusagen gegen den Schulzwang Ihrer Kinder. Im Juli dieses Jahres hat auch die EU-Kommission Ihren Antrag abgelehnt. Sie sind inzwischen buchstäblich aus Deutschland geflüchtet, nach Frankreich, wo man Heimunterricht erlaubt. Wenn man das hört, denkt man, was für ein Aufwand, wozu eigentlich?

Neubronner: Für glückliche Kinder. Meinen Kindern geht’s einfach gut. Der Ältere, der wird jetzt bald 16, hat sich in diesem Frühling entschlossen, jetzt möchte ich doch mal irgendeinen Abschluss machen, hat dann ein paar Wochen gelernt und hat mal eben einen Hauptabschluss mit 1,38 hingelegt, ohne nennenswerte Mühe, sodass wir uns gefragt haben: mein Gott, was machen eigentlich die ganzen Kinder neun Jahre lang jeden Tag in der Schule, wenn man das eigentlich auch sich in ein paar Wochen reinzwiebeln kann?

Scholl: Ihre beiden Söhne sind jetzt 13 und knapp 16, was lief denn damals vor sieben Jahren so schief in der Schule, dass Sie sagten, jetzt machen wir das selbst?

Neubronner: Es lief einfach schief, dass es dem Älteren vor allem – der Jüngere ist nur wenige Wochen in seinem Leben zur Schule gegangen –, aber für den Älteren hatten wir extra eine Schule gegründet als hoch engagierte Eltern, eine Montessorischule, die hat letztes Jahr ihr zehnjähriges Bestehen gefeiert. Das ist auch prima, nur unser Kind fühlte sich leider nicht wohl in dieser Schule, die wir mit großem Aufwand gegründet hatten, und es verlor im Grunde die Lebensfreude. Wir haben das beobachtet, was so viele Eltern von Schulkindern beobachten, dass aus ihren unglaublich aktiven, wissbegierigen, fröhlichen, entdeckungshungrigen kleinen Kindern müde und schlappe und übellaunige frustrierte Schulkinder werden.

Und das haben wir uns eine Weile mit angeguckt, haben alles versucht, um die Bedingungen zu bessern, weil natürlich eine selbst gegründete Schule nicht einfach sagt, ach, du gehst da nicht gerne hin, na ja, gut, dann … war nur mal so eine Idee von uns. Wir haben schon viele Versuche unternommen und versucht, ihn da zu begleiten, und haben dann aber gemerkt, in den Ferien wird er wieder unser fröhlicher Moritz, wie er sonst immer war. Und irgendwann, weil wir eben im Gegensatz zu den meisten anderen Deutschen wussten, dass es überall, außer in Deutschland, in allen westlichen Industrienationen problemlos mit mehr oder weniger verschiedenen Möglichkeiten geregelt werden kann, dass die Kinder auch außerhalb der Schule lernen dürfen, haben wir uns dann dafür entschieden.

Scholl: Dann fragt man sich natürlich sofort, können Eltern das überhaupt, also einem Kind Lesen und Schreiben beibringen, ja vielleicht, dazu noch eine Fremdsprache, okay, ja, aber Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Geschichte, wenn’s da mal so in die höheren Sphären geht, wie leisten Sie das denn?

Neubronner: Das ist ein Verständnis von Lernen, was ich gelernt habe aufzulösen, denn wir schaffen es ja auch als Eltern, unseren Kindern Sprechen beizubringen, sitzen, stehen, laufen, Fahrrad fahren, Schuhe zubinden. Jetzt werden Sie sagen, ja, wieso, das machen wir doch gar nicht, das machen die Kinder ja selber. Genauso läuft es im Grunde bei uns auch. Die Kinder kommen ja extra hierher, in unsere Welt, um hier mitzumischen, die wollen ja eigentlich lesen lernen, die wollen alle Kulturtechniken lernen, vielleicht zu unterschiedlichen Zeitpunkten, nicht montags morgens um acht oder so, sondern in anderen Zusammenhängen. Die Kinder sind ja eigentlich wissbegierig, und die Eltern müssen im Grunde nur förderliche Bedingungen herstellen und Fragen beantworten. Und je älter die Kinder werden … meinen Kindern bringe ich überhaupt nichts mehr bei, sondern wenn die eine Frage haben, die ich nicht im Gespräch beantworten kann auf den Stutz, dann gucken die im Internet nach.

Scholl: Sie haben jetzt gerade erzählt von Ihrem Sohn, der hat also einen Hauptschulabschluss gemacht, sozusagen als Externer hat er sich dann angemeldet bei der Prüfung. Wie ist das denn eigentlich mal später, welche Chancen haben Ihre Kinder später mal, zu studieren? So Abitur und Studium, das ist ja noch mal ein anderes Brot, oder?

Neubronner: Nein, es gibt ja … Also in den Ländern, wo Home Education, wie man das international auf gut Neudeutsch nennt, erlaubt ist, ist es ja inzwischen so, zum Beispiel in den USA und Kanada, dass die Elitehochschulen eigene Programme auflegen, um ja an die kostbaren Homeschool-Studenten ranzukommen, weil die eben gelernt haben, selbstständig zu arbeiten und sich das, was sie wissen wollen, selber herzustellen, und die Informationen, die sie brauchen, um Dinge tun zu können, die sie gern tun möchten, selber rauszufiltern aus den Weiten des Internets. Das heißt, es ist gar nicht der Punkt, dass da also die Leute, die nicht zur Schule gegangen sind, hinterher unter der Brücke sitzen und Rotwein trinken, sondern im Gegenteil: Die Statistiken zeigen, dass die überdurchschnittlich erfolgreich sind, überdurchschnittlich zufrieden sind, überdurchschnittlich oft sich sozial engagieren, dass sie also eigentlich genau Vorzeigebürger werden, gerade vielleicht, weil sie die Möglichkeit hatten, das Ganze ein bisschen ruhiger angehen zu lassen.

Scholl: Aber Stichwort sozial: Nun ist Schule ja nicht nur dazu da, Wissen zu vermitteln, es ist eben auch ein sozialer Ort, wo man lernt noch, miteinander umzugehen, in einer Gruppe Toleranz zu lernen, sich auszutauschen, Freundschaften zu pflegen, Konflikte zu schlichten. Das ist ja auch das große Argument dafür, dass man sagt, in einer Gemeinschaft sollen Kinder aufwachsen und lernen. All das enthalten Sie Ihren Kindern ja vor?

Neubronner: Ja, also das, was Sie jetzt gerade so formuliert haben, das ist ein wunderbarer, sehr immer wiederholter Mythos, dass Kinder in der Schule lernen, Rücksicht zu nehmen und sie soziales Verhalten üben. Das entspricht eigentlich nicht meiner Beobachtung. Meine Kinder waren beide so in der Schule, dass sie nach Hause kamen und wirklich erschüttert waren davon, wie die Kinder in der Schule miteinander umgingen. Und aufgrund der Tatsache, dass wir aus ökonomischen, wirtschaftlichen Gründen unsere Kinder in der Schule ja in Jahrgänge einteilen und also alle Sechsjährigen und alle Zehnjährigen und alle 14-Jährigen und so weiter zusammensperren, ist die Schule eigentlich eine Brutstätte für Mobbing und für Schulhoftyrannen, die die Schwächeren drangsalieren und so weiter, weil nämlich unser Gehirn, unsere ganze Entwicklung eigentlich auf urtümliche Verhältnisse designt ist, wo eben Menschen in einer altersgemischten Gruppe von anderen Menschen, von anderen Kindern, die jünger sind, die älter sind, von Erwachsenen, von alten Menschen und so weiter aufwachsen und wo jeder seinen Platz hat.

Und in der Schule wird diese natürliche bunte Mischung des Lebens künstlich in so eine Batterie, Monokultur von lauter gleich alten Kindern verwandelt, und instinktiv versuchen die dann, eine Ordnung herzustellen. Und dieser Kampf, wer sitzt neben wem, wer darf von wem abschreiben, wer ist wessen Freund und so, nimmt in der Schule einen unendlichen Raum ein. Und wenn ich die Schulkinder, die ich kenne, so angucke, dann sind die nicht mit 30 Klassenkameraden befreundet. Die haben, wenn sie glücklich sind – es gibt ja auch viele Schulkinder, die sehr, sehr einsam sind –, dann haben sie einen Freund oder zwei Freundinnen oder drei, und der Rest ist Geräuschkulisse.

Das ist ja ein Mythos, dass Kinder die ganze Zeit mit 30 Klassenkameraden interagieren und da die tollsten Sachen erleben. Nicht umsonst ist in der Kinderliteratur und bei den "Drei Fragezeichen", in allen Büchern, wo es um Kinder und Jugendliche geht – alle diese Bücher spielen immer … entweder klingelt auf der ersten Seite des Buches gerade die Schulglocke zum letzten Mal, endlich große Ferien, dann kommt das Leben und das Abenteuer, und am Ende des Buches sind dann die Ferien zu Ende. Viele Kinder gehen in der Schule – das lässt sich auch entwicklungsneurologisch nachweisen, die Professor Hüther und Spitzer und all diese Gehirnforscher erzählen uns das ja …

Scholl: Frau Neubronner, uns läuft ein bisschen die Zeit weg. Ich möchte unbedingt noch einen Punkt ansprechen, und zwar ist es ja oft so, dass man also auch von Schulverweigerern hört und Eltern sie aus religiösen Motiven sozusagen die Kinder nicht in die Schule bringen. Gerade in den USA gibt es evangelikale Christen, die ihre Kinder sozusagen vor dem Teufelswerk der Evolutionsbiologie verweigern wollen. Diese Gruppierungen unterstützen jetzt Sie auch, also in Deutschland, und sagen, wir müssen unseren deutschen armen, verfolgten, staatlich geknechteten Schulverweigerern helfen. Wie ist das mit dieser Schützenhilfe? Also das kann eigentlich nicht so ganz in Ihrem Sinne sein, dass man Kinder ja doch auch vor wissenschaftlicher, ja, wissenschaftlicher Erkenntnis in dem Sinne schützt, oder?

Neubronner: Ich glaube auch nicht, dass man Kinder vor wissenschaftlicher Erkenntnis schützen kann, denn das Problem von diesen Kindern, die in, sagen wir mal jetzt, was Sie ansprechen, es sind ja Sektenzustände … Das Problem ist ja, dass die Kinder ihre Eltern lieben, und das ist bei den Kindern der Zeugen Jehovas, die ihre Eltern auch lieben und die aber zur Schule gehen, ganz genauso.

Das heißt, diese Schranken können ja nur aufgebaut werden in einer sehr indirekten Weise, und ich arbeite mit allen Menschen zusammen und meine Mitstreiter hier eben auch. Es sind ja Menschen aus über 20 Ländern hier auf der Konferenz, die uns alle unterstützen, und sie kommen aus den unterschiedlichsten Regionen. Natürlich sind da auch Christen dabei, da sind auch Atheisten dabei, Leute, die Kinder mit besonderen Bedürfnissen haben, oder hochbegabte Kinder oder die oft umziehen müssen, es ist also eine bunte Mischung.

Und es gibt dieses wunderbare Gedicht von Niemöller, der gesagt hat, als die die Kommunisten verhaftet haben, habe ich stillgeschwiegen, denn ich bin kein Kommunist, und als sie die Katholiken verhaftet haben, habe ich auch nichts gesagt, und so weiter und so weiter – als sie dann zu mir kamen, war niemand mehr da.

Und diese Aufspaltung in, ja, wir wollen alle Bildungsfreiheit, aber wir wollen dann unseren Kindern das und das beibringen und ihr wollt was anderes, die können wir uns im Moment überhaupt nicht leisten. Ich hab natürlich da wenig Sympathien für Leute, die ihre Kinder indoktrinieren und so weiter, das sind aber viel weniger, als man so denkt. Es ist nämlich auch ein bisschen so, dass die Leute, die irgendeine fest gegründete Überzeugung haben, auch diejenigen sind, die eher sagen, so, jetzt gehen wir mal ungewöhnliche Wege. Das ist meine Erfahrung. Das sind also alles nicht Leute unbedingt, die ihre Kinder indoktrinieren, sondern die einfach Zivilcourage haben.

Scholl: Schule zu Hause. Heute findet in Berlin eine internationale Konferenz zum …

Neubronner: Nein, globale, Entschuldigung, aber da muss ich … das ist die erste globale Konferenz.

Scholl: Eine internationale, globale, weltweite Konferenz, Frau Neubronner zum Thema, und Sie mit dabei. Herzlichen Dank für das Gespräch.

Neubronner: Tschüss!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema