Schule nach Corona

Endlich neue Wege gehen

26:13 Minuten
Ein junger Mensch macht Schulaufgaben am Rechner und chattet dabei mit einer Lehrerin.
Spätestens jetzt müssen im Zuge der Coronapandemie die Schulen fit für die Zukunft gemacht werden, so Bildungsexperten. © imago images / Jochen Tack
Von Armin Himmelrath |
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Fast alle Beteiligten sind sich einig, Corona hat massiv die Schwachstellen im Bildungssystem offengelegt. Jammern nütze aber nichts, so Experten. Jetzt müsse nach vorne geschaut werden und auch mal mutig etwas Neues gewagt werden.
"Ich kann schon verstehen, dass man auf jeden Fall, dass man die Schulen jetzt wieder aufgemacht hat, und das ist ja wirklich wichtig, ist die in der Schule und gemeinsam lernen können, das hat ja nicht besonders gut funktioniert in den Monaten vor den Sommerferien, sagt eine Mutter.
"Mich ärgert vor allem, dass Schulen, so wie sie jetzt sind, also die Mehrheit der öffentlichen Schulen, sich nicht reformieren lassen oder zu langsam in die Reform gehen, so eine ehemalige Schulleiterin.
"Was ich beobachtet habe, schlicht und ergreifend während der Coronazeit, ist die Frage: Wer ist eigentlich gut klargekommen und wer ist nicht so gut klargekommen? Und dann ist mir aufgefallen die Beobachtung – persönliche Empirie, wenn man so will, nicht studiengestützt, sondern reine Beobachtung –, ist die Schule, aber auch die einzelnen Lehrkräfte, gut klargekommen, die bereit waren, mutig nach vorne zu gehen und etwas auszuprobieren. Das ist mir aufgefallen", ergänzt eine Hochschullehrerin.
"Wir starten jeden Morgen mit einem Video-Call, mit einer Videokonferenz, mit den Schülern."
Sebastian Funk ist Lehrer für Mathematik und Physik an einem Ganztagsgymnasium im nordrhein-westfälischen Velbert. Dass im März 2020, innerhalb weniger Tage, die Schulen ihren Unterricht ins Netz verlagern mussten, dass Aufgaben per E-Mail gestellt und von den Schülerinnen und Schülern bearbeitet werden mussten, das war für Funk und seine Kollegen kein Problem. Entsprechend entspannt schaut er auf das neue, das aktuelle Schuljahr.
"Das klappt erstaunlich gut. Es gibt allerdings hie und da ein paar Probleme, wenn der heimische Internetanschluss nicht so gut ist. Das liegt nicht unbedingt nur an demjenigen, der bezahlt, sondern auch, dass nicht überall in unserer Region das Internet so gut ausgebaut ist. Im Ruhrgebiet zum Beispiel, in den Großstädten, da ist es gut ausgebaut, aber auf den ländlichen Regionen des Bergischen Landes, da haben wir dann Probleme."

Unterschiedliche Ausstattung in Schulen

Aber: Der Unterricht am Laptop und am Tablet ist an Funks Schule Alltag. Projekte gemeinsam im Netz zu bearbeiten, Aufgaben online zu lösen – alles das kannten die Schülerinnen und Schüler schon vor Corona. Und so haben sie eben im Lockdown nur ein bisschen mehr von dem gemacht, was sie auch schon vor der Pandemie regelmäßig gemacht haben: Unterricht auf digitaler Basis. Genau so, nämlich mit digital gestützten Lernformaten, geht es jetzt auch weiter.
"Ich sehe das Problem, dass wir als Schule zurzeit ganz gut vorankommen sind mit dem Unterricht, allerdings andere Kolleginnen und Kollegen an anderen Schulen leider nicht das Glück haben mit einer so guten technischen Ausstattung. Und wir dann das sehen, was jetzt Realität ist, dass dann Aufgaben übergeben werden an die Eltern – und die Eltern dann eine Mehrbelastung haben als Lehrer."
Julia Offe ist so eine Mutter, die sich belastet fühlt durch die Art, wie die Schule ihrer Kinder mit Corona umgeht. Schon während der vergangenen Monate, vor allem aber jetzt, im neuen Schuljahr, mit den Erfahrungen seit März. Julia Offe ist promovierte Biologin, sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Ihre beiden Kinder besuchen die Mittelstufe eines Gymnasiums.
"Es ist nicht digitaler als vor einem Jahr im Moment der Unterricht. Es ist nicht so, dass die das jetzt grundsätzlich nebenherfahren. Die Schüler haben keine Möglichkeit, sich die Aufgaben anzugucken oder Hausaufgaben noch mal nachzugucken, über diese digitalen Plattformen, die sie vor den Sommerferien genutzt haben."


Julia Offe ärgert sich. Weil das, was die Schule in Coronazeiten mühsam an technischen Lösungen entwickelt und aufgebaut hatte, längst wieder verschwunden ist. Und weil immer wieder die Rede ist vom Regelbetrieb oder vom Normalbetrieb an den Schulen. Regelbetrieb?
Beim digital gestützten Unterricht, sagt Julia Offe sarkastisch, gebe es seit dem Ende der Sommerferien durchaus wieder den schulischen Normalbetrieb: mit erheblichen Mängeln und Rückschritten nämlich. Und mit digitaler Konzeptionslosigkeit.
"Es hat zwar nicht optimal funktioniert, aber es hat einigermaßen funktioniert. Und gerade aufgrund der Tatsache, dass die Schüler ja beim kleinsten Kratzen im Hals oder Schnupfen oder so zu Hause bleiben müssen, ist ja davon auszugehen, dass die Kinder öfter krank sind und mehr Stoff verpassen, nachdem sie jetzt schon so viel verpasst haben. Und daher hätte ich es gut gefunden, wenn es sozusagen selbstverständlich wäre, dass die Arbeitsblätter, die man im Unterricht behandelt oder die, die sie zu Hause als Arbeitsblätter machen sollen, dass das hochgeladen wird, das die Kinder darauf Zugriff haben."

Das Dauerproblem mangelnder Informationen

Selbstverständlich aber sei gar nichts. Noch nicht einmal die Kommunikation zwischen dem Gymnasium ihrer Kinder und den Eltern. Lange gab es keine Infos über den neuen Schulalltag unter Coronabedingungen. Und kaum Infos zum Hygienekonzept.
"Über die Sommerferien gabs überhaupt keine Informationen. Also nichts Weiterführendes – das gabs dann alles sehr kurzfristig mit dem Beginn des Schuljahres. In Hamburg gilt grundsätzlich die Maskenpflicht auf den Fluren, im Schulgebäude. Und an unserer Schule war das so, dass der Direktor gesagt hat, dass es eine Maskenempfehlung gibt, auch während des Unterrichts."
Eine Empfehlung wohlgemerkt, keine Pflicht. Während sich Julia Offe ärgert, wundert sich Oliver Hauschke überhaupt nicht. Hauschke ist Vater von zehn Kinder, außerdem Lehrer und ehemaliger Schulleiter. Schule, sagt Hauschke, verändere sich, wenn überhaupt, dann nur ganz, ganz langsam. Es sei für alle Beteiligten hochgradig frustrierend, wenn gute Erfahrungen nicht für den Schulalltag genutzt werden. Das können Unterrichtskonzepte aus langjährigen Schulversuchen sein, aber auch Ideen, die in Krisensituationen wie der Coronapandemie entwickelt wurden.
"Wir kriegen diese Erfahrung einfach nicht in Unterrichtskonzepte umgesetzt, in wirklich andere Schulen. Wir haben immer noch die Schulen, wie ich zur Schule gegangen bin, wie meine Eltern zur Schule gegangen sind, und die kleinen Feinheiten, die immer alle anpreisen: Ja, da hat sich doch was getan! Wir machen nicht immer nur noch lehrerzentriert! Oder: Wir haben Gruppenarbeit! Das sind aber nur Kleinigkeiten, die passieren."
Corona hat wie mit einer Lupe die ohnehin schon bestehenden Schwachstellen des Bildungssystems offengelegt, darin sind sich fast alle Schulfachleute einig.
Digitalisierung. Bildungsgerechtigkeit. Lernkonzepte. Kommunikation. Kompetenzen.
"Wir sehen ja auch, dass am Ende, also nach dem Abitur oder auch nach dem Realschul- oder Hauptschulabschluss, die Bildung nicht nachhaltig ist. Das, was man in der Schule gelernt hat, ist nach wenigen Monaten, Jahren zu 90 Prozent weg. Und das darf nicht sein. Dann ist Schule meines Erachtens Lebenszeitverschwendung für unsere Kinder. Und wenn sie diese Zeit in die Schule gehen, dann muss das, was sie mitnehmen, auch nachhaltig sein. Mit dem müssen Sie etwas anfangen. Und das müssen Schulen leisten können. Und wenn Schule das nicht leisten kann, dann gehört sie abgeschafft und müsste durch etwas ersetzt werden – Lernorte, Lehrwerkstätten oder irgendwas – was diese Aufgaben erfüllt."

Wo sind die Visionen und Utopien hin?

Die Schulen abschaffen und durch neue Lernorte ersetzen? Oliver Hauschke formuliert damit eine Utopie. Aber wer sich den Alltag im jetzt angelaufenen neuen Schuljahr anschaut, hat das Gefühl, ganz weit weg zu sein von allen Visionen und Utopien. Die Hamburger Mutter Julia Offe berichtet von den Erfahrungen, die ihre Kinder mit dem sogenannten Normalbetrieb unter Pandemiebedingungen gemacht haben.
"Am Anfang war es ja noch so wahnsinnig heiß. Also die Fenster waren dann immer offen, und auch die Türen zum Flur waren offen, damit es da ein bisschen Durchzug gab. Dann haben sie erzählt: Die meisten folgen dieser Empfehlung, die Maske zu tragen im Unterricht. Einige aber nicht, und zwar zum Teil aus Bequemlichkeit und zum Teil auch wirklich, weil sie Corona runterspielen und sagen: Das ist nur eine Grippe, das ist nicht so schlimm. Also wirklich aus Überzeugung. So Maskenverweigerer gibt es auch wenige, aber sie sind da."
Immerhin, die Sache mit dem Durchzug und der Lüftung der Klassenzimmer, das hat sich rumgesprochen in den Schulen. Vielleicht auch deshalb, weil das Öffnen der Fenster zu den wenigen Handlungsmöglichkeiten gehört, die jede Lehrerin und jeder Lehrer schnell umsetzen kann. Auch wenn Hygienekonzept und jugendliche Lebenswelt nicht immer gut zusammenpassen.
"Inzwischen ist es so, dass die Fenster immer noch offen sind, die Kinder zum Teil wirklich dicke Jacken noch mit in die Schule nehmen, weil es seit Tagen unter 20 Grad hat im Klassenraum. Aber sie sehen das auch ein, dass die Fenster offen sein sollen. Und dann ist es aber so: Da es auf den Fluren die Maskenpflicht gibt und im Unterricht diese Empfehlung, ist es so, dass sie in der Sekunde, wo der Pausengong schlägt, sich alle die Masken runterreißen und dann im Klassenraum bleiben. Weil: Da ist ja weder Unterricht, noch sind sie auf dem Flur. Und so umgehen sie das, ich kann das auch ein bisschen nachvollziehen. Das sind Teenager, ich mein: Teenager finden immer Wege, Regeln zu umgehen."

Das Positive mit aus der Krise nehmen

Das Schulministerium ordnet etwas an, die Schulen befolgen die Anordnung, die Auswirkungen im Schulalltag können jedoch ganz anders aussehen als ursprünglich erhofft. Top-Down-Politik ist das. Und dass sie auch bei noch so guten Absichten längst nicht immer zum Ziel führt, weiß auch Myrle Dziak-Mahler. Sie ist für die Ausbildung angehender Lehrerinnen und Lehrer an der Universität zu Köln zuständig und leitet das Zentrum für LehrerInnenbildung in Köln. Außerdem berät sie Schulleitungen bei der strategischen Entwicklung ihrer Einrichtungen.
Myrle Dziak-Mahler hat die Coronakrise genutzt, um gezielt zu schauen, wie Schulleitungen in dieser Krise agiert haben und welchen Einfluss sie damit auf ihr jeweiliges Kollegium ausüben. Nach vorne zu schauen, das sei das entscheidende positive Merkmal, sagt Dziak-Mahler. Mit anderen Worten: Nicht einem Normalbetrieb von vor der Coronakrise nachzuhängen und ihn möglich schnell rekonstruieren zu wollen, sondern neuen Unterricht für die neue Zeit nach und mit dem Virus zu entwickeln.
"Wenn Schulleiter so agiert haben, dann hat das noch mal eine ganz andere, befreiende Wirkung für das gesamte Kollegium. Weil natürlich der Impact, der Wirkungsgrad, größer ist, wenn ein Schulleiter, eine Schulleiterin mit Mut und Innovationskraft und Experimentierfreude vorangeht. Dann kann so ein ganzes Kollegium eine ganz andere Agilität entfalten."

Die Ausbildung der Lehrkräfte ist mit entscheidend

Mut, Innovationskraft, Experimentierfreude. Da bilden sich Lehrerinnen und Lehrer zum Beispiel gegenseitig fort, wie digital gestützter Unterricht aussehen kann und welche Apps und Programme sich eignen – und welche nicht. Sie teilen gut funktionierendes Unterrichtsmaterial und berichten sich gegenseitig von schlechten Erfahrungen und was man daraus lernen kann. Und sie probieren aus, was sich ändern lässt, anstatt sich an alte Unterrichtsrezepte zu klammern, in der Hoffnung, dass alles wieder so wird wie früher.
"Der Gedanke, dass wir mehr Experimentierfreude, Mut und Innovationskraft im Schulsystem brauchen, der bewegte mich schon lange. Das war schon verbunden mit der ganzen Auseinandersetzung: Wie muss eigentlich Schule aufgestellt sein, wenn man sie für eine digital transformierte Gesellschaft vorbereiten will? Also Schülerinnen und Schüler in eine Gesellschaft entlassen will, die sich in dieser rasenden Geschwindigkeit digital transformiert?"


Schule muss sich auf dauernden Wandel und dauernde Veränderung vorbereiten, sagt Myrle Dziak-Mahler. Sich selbst und andere. Die Coronakrise sei daher eine Chance für alle, die Schule aktiv und engagiert weiterentwickeln wollen. Eine These, die auch der ehemalige Schulleiter Oliver Hauschke teilt. Jetzt gerade bestehe die Chance, Schule radikal zu modernisieren. Und nicht nur die Chance, sondern auch die dringende Notwendigkeit.
"Schulen müssen auch von der Politik her einfach mehr Freiheit bekommen, und wir müssen das, was wir über gutes Lernen wissen, was wir aus guten Schulen herausgefunden haben, müssen wir in die Breite der öffentlichen Schulen hineintragen."
"Was dann jetzt passiert ist mit Corona, ist ja nichts anderes, als dass die gesellschaftliche Veränderungsgeschwindigkeit, die vorher schon hoch war, jetzt noch mal wie in so einem Boost irgendwie noch mal viel, viel schneller wurde. Und das war so die Basis, warum ich gedacht habe: Okay, wir brauchen eine Führung, die darauf reagiert. Also eine Führung, Schulleitung, die versteht: Wandel ist der Normalfall.´Veränderung wird uns permanent begleiten.
In einer Hamburger Grundschule gehen mit Abstand Schüler und Schülerinnen eine Treppe hinauf.  
Myrle Dziak-Mahler: "Jetzt gerade bestehe die Chance, Schule radikal zu modernisieren."© icture alliance/dpa/Christian Charisius
Es ist die Zeit vorbei, wo man ein Schulentwicklungsprojekt macht. Das hat ein Ziel, daran arbeitet man ein Jahr, anderthalb Jahre, zwei Jahre, und man hat dann das Ziel erreicht oder auch nicht. Und dann fängt man das nächste Entwicklungsprojekt an. Insider sprechen auch manchmal von den pädagogischen Säuen, die durchs Dorf getrieben werden, die man auch nur aussitzen muss."

Auch Eltern müssen mit Druck machen

Diese Zeit, sagt Myrle Dziak-Mahler, die Unterrichtsforscherin, sei vorbei. Wer glaube, im neuen Schuljahr zu alter Normalität zurückkehren zu können, verfolge eine Illusion, ein Trugbild. Und die Eltern? Die stecken in einer Zwickmühle, sagt Oliver Hauschke, weil sie – einerseits – schulische Normalität zurückwollen, Berechenbarkeit, Planbarkeit. Und weil sie – andererseits – diejenigen sind, die am ehesten verhindern können, dass Schule wieder in alte, falsche Muster zurück verfällt. Auch wenn ihr Einfluss auf Veränderungen im Bildungssystem gering sei, gebe es doch Stellschrauben, an denen sie drehen können.
"Eltern können wenig tun. Sie sollten vor allem aber nicht einfach alles abnicken, was die Schule ihnen vorgibt, sondern besonders kritisch sein. Und ich glaube, die einzigen, die wirklich dafür sorgen können, dass Schule sich verändert, dauerhaft, und zwar in der Breite – nicht die wenigen tollen Schulen, die wir sowieso in diesem Lande schon haben – kann nur über die Eltern laufen.
Die Eltern müssen politisch Druck machen, die müssen Veränderungen wollen. Die müssen sagen: So wollen wir unser Kind nicht unterrichtet haben. Wir wollen andere Dinge. Es gibt andere Möglichkeiten! Und sie müssen den Schulen, den Lehrkräften, der Politik, den Verantwortlichen sagen: Wir wollen das anders."

Schlechte Krisenkommunikation

Dass sie Schule anders haben und etwas verändern will, ist für Julia Offe völlig klar. Auch, dass diese Änderungen im neuen Schuljahr umgesetzt werden müssen, am besten sofort. Deutlich wurde das nicht zuletzt bei den bisher zwei Coronafällen am Gymnasium ihrer Kinder in Hamburg.
"Beim ersten Fall war es so, dass mein Sohn erzählt hat, dass ‘ne Freundin von ihm, die ist befreundet mit jemanden aus einem anderen Jahrgang, und deren Bruder hätte Corona. Und das war an einem Wochenende, und dann hab‘ ich immer meine Mails gecheckt. Hab gedacht: Na ja, wenn das jetzt stimmt, wenn es jemand in der Parallelklasse ist von meiner Tochter, und die haben ja auch Kurse zusammen, dass diese Kinder auch gemeinsam unterrichtet werden, dann wird sich ja jemand melden und irgendwelche Handlungsanweisungen weitergeben. Aber es kam nichts."
Vielleicht, dachte sich die Biologin, war das Ganze nur ein Gerücht. Ein Fehlalarm.
"Bis eine andere Mutter am Dienstag dann an den Elternverteiler schrieb: Heute steht in der Zeitung, dass es an der Schule einen Fall gibt. Warum hören wir nichts davon?"
Kommunikation und Transparenz gehen anders.
"Daraufhin kam so eine bemühte Mail, Stunden später, des Direktors, der meinte sinngemäß, es hätte zu Unsicherheiten aufseiten der Eltern geführt, dass sie diese Nachricht in der Zeitung gelesen haben. Es ist so gewesen, dass eine andere Mutter von ihrem Arbeitgeber darauf angesprochen wurde, dass es einen Fall gäbe an ihrer Schule. Und sie wusste nichts davon. Das sind natürlich alles Beispiele dafür, dass die Kommunikation da überhaupt nicht funktioniert hat."

"Es ist total absurd"

Ein weiterer Kritikpunkt, den Julia Offe hat, ist der strategisch-medizinische Umgang mit dem Infektionsfall.
"Es wurde nur der Sitznachbar von dem Kind in Quarantäne geschickt, und zwar auch nur der Sitznachbar in der Schulklasse. Und in den Kursen, in den Sprachen, die sie haben, oder Kunst und Musik, die sie dann mit anderen Schülern zusammen haben, da werden die Sitznachbarn auch nicht nach Hause geschickt. Anscheinend kann man sich während Kunst nicht anstecken. Es ist total absurd."
Man könnte es auch anders formulieren: Hauptsache, der Unterricht geht so normal wie möglich weiter. Hauptsache, es gibt keine Störungen. Ein gutes Beispiel dafür, warum Schulleitungen und andere Verantwortliche umdenken müssen, findet die Kölner Schulforscherin Myrle Dziak-Mahler.
"Man braucht ein anderes Mindset, nämlich eins, was wir bisher in einem Schulsystem nicht haben, das auf Beharrung ausgelegt ist. Wir haben ein beharrliches, konservativ ausgerichtetes Schulsystem. Das hat auch viele positive Seiten. Wenn wir gerade mal historisch denken, die Zeit nach 45. Wir wollen Werte vermitteln in der Schule. Wir wollen die nicht einer permanenten Veränderung ausliefern – alles nachvollziehbar. Aber jetzt brauchen wir eben einen Paradigmenwechsel und müssen sagen: Werte ja, aber konkrete Umsetzung und Inhalte, die müssen auf den Prüfstand und möglicherweise auch permanent wieder angepasst werden."
Wie aber lassen sich Veränderungen in Schulen und Unterricht anregen? Wie lassen sie sich provozieren und fördern? Durch Menschen, die Grenzen überschreiten, sagt Myrle Dziak-Mahler. Menschen, die bisher geltende Regeln infrage stellen – und sie brechen.

Wer mutig ist, wird belohnt

"Wir sehen das ja auch an den Schulen des Deutschen Schulpreis. Also: Der Regelverstoß ist der Gewinner. Keine Schule, die jemals den Deutschen Schulpreis… den wir alle sicher als Preis feiern und gut finden und sagen: Das sind unsere Best-Practice-Schulen … Ich kenne niemanden, der das nicht vertreten würde. Keine dieser Schulen hat diese Ergebnisse erzielt, ohne gegen Regeln zu verstoßen."
Der Berliner Schulforscher Hans Anand Pant ist einer der Köpfe hinter dem Deutschen Schulpreis. Er beschäftigt sich seit Jahren mit den Preisträgerschulen, schaut auf die Bedingungen, unter denen sie neuen und begeisternden Unterricht entwickelt haben. Beispielsweise, indem sie radikale Inklusion betreiben. Oder Schulnoten abschaffen und auf ganz andere Arten des Feedbacks setzen. Oder indem sie bisherige Klassenstrukturen aufbrechen und neue, altersgemischte Lerngruppen bilden. Was muss passieren, dass sich eine Schule auf einen solchen neuen Weg begibt?
In einer Hamburger Grundschule wird in einem Klassenzimmer mit einem Aufkleber auf einen Abstand von 1,5 Metern hingewiesen.
Nicht irgendwann, sondern heute kann die Krise für Veränderungen im Bildungssystem genutzt werden.© picture alliance/dpa/Christian Charisius
"Das liegt in der Regel an einer krisenhaften Auslösesituation und passiert häufig eben gerade unter den Bedingungen, nicht toller Ressourcen. Die Ressourcen sind dann in einem weiteren Schritt. Wenn man gesagt hat, wir haben unsere Konzepte klar, wird unsere Strategie klar. Wir haben unsere Leitbildvorstellung so gut entwickelt, dann brauchen wir auch an den Stellen konkret Ressourcen für einzelne Sachen, aber eben nicht so ein Gießkannenprinzip. Einfach nach Ressourcen rufen, damit wir eine besser ausgestattete Schule sind, das hilft nichts."
Die Krisensituation aber, die den Ausschlag geben kann – sie ist da. Die Coronapandemie kann, als große gesellschaftliche Krise, nicht nur die einzelne Schule, sondern das gesamte Schulsystem auf den Weg bringen zu besseren Wegen des Lernens. Und nicht irgendwann in einer fernen Zukunft, sondern heute, jetzt, in diesem gerade begonnenen, neuen Schuljahr. Aber, sagt Hans Anand Pant, es gebe dafür keinen Automatismus und keine Garantie.
"Das entscheidende, ob das irgendwie wirkt, zu einer guten Schule führt und gutem Unterricht, ob es sinnvoll verwendet wird, und das bedarf der Arbeit und Verständigungsprozesse und Reflexionsprozesse aufseiten der Schule. Also wiederum: Geld kann auch total versemmelt werden."

Lehrkräften noch besser ausbilden

In der Gesamtschau auf die Diskussion um die Zukunft der Bildungseinrichtungen und des Unterrichts ergeben sich fünf Bausteine einer neuen Schule. Erstens: Lehrerinnen und Lehrer mit einem anderen Selbstverständnis. Und mit anderen Vorgesetzten. Myrle Dziak-Mahler, die Schulforscherin.
"Wir brauchen Menschen, die so ausgebildet sind, dass sie verantwortungsvoll und kenntnisreich und kompetent für sich selbst entscheiden. Und es ist ja eigentlich ohnehin verwunderlich, dass das so wenig passiert, weil: Lehrkräfte sind hoch qualifiziert ausgebildete Menschen, sie sind Akademiker mit einem langen Studium … Also wirklich, das sind viele Semester Studium. Das ist ein Vorbereitungsdienst, wie er seinesgleichen sucht. Warum traut man diesen Menschen nicht zu, die guten und richtigen Entscheidungen für ihre jeweilige Schule oder Schrägstrich für ihre jeweilige Klasse zu treffen? Das finde ich auch merkwürdig, dass man das nicht tut."
Daraus ergibt sich, zweitens: Mehr Autonomie. Für ganze Schulleitungen und für einzelne Lehrerinnen und Lehrer.
"Wo ist denn eigentlich die Furcht, den Schulen mehr Freiraum zu geben? Es erschließt sich mir auch nicht, warum man das nicht tut. Ich verstehe den Mechanismus nicht, weil es wäre für alle viel leichter. Und deswegen würde ich gerne einfach mal ausprobieren. Und ich schwöre, es ist auch nicht der Untergang des Abendlandes. Es geht auch nichts kaputt, und es tut auch nicht weh. Einfach mal ein bisschen mehr Freiraum geben."

"Jeder hat ein iPad"

Mehr Freiraum auch bei der Gestaltung des Lernens. Mehr Freiraum für, drittens, eine umfassende Digitalisierung des Unterrichts. Sebastian Funk, der Lehrer.
"Unser Vorteil beim ganzen Start dieses Projektes war, dass wir auch schon vorher eins zu eins mit iPads ausgestattet sind. Das heißt, jeder Kollege, jeder Lehrer, jede Lehrerin und jeder Schüler, jede Schülerin haben ein eigenes iPad zur Verfügung gestellt, und auf diesem iPad erhalten sie dann digital über entsprechende Softwareaufgaben. Diese Aufgaben werden von uns Lehrern zur Verfügung gestellt. Die Schüler bearbeiten diese Aufgaben und reichen dann diese Aufgaben ein."
Digitalisierung bringt dabei handfeste pädagogisch-didaktische Vorteile.
"Für mich ist das Ganze auch eine große Chance, denn wir können zum einen viel projektorientierter arbeiten, das heißt, die Schüler haben auch mal mehr Zeit für eine Aufgabe. Und zum anderen: Dadurch, dass ich nicht ständig im ganzen Klassenraum anwesend bin, kann ich mir auch einzelne Schüler herauspicken und dann mit denen Eins-zu-eins-Videogespräche führen, um Probleme, Fragen zu erläutern. Das ist ein ganz großer Vorteil, den ich jetzt da habe. Und gerade dadurch, dass man wirklich nur alleine ist, nämlich eins zu eins, dann werden auch Fragen gestellt, die man vielleicht sonst in der Klasse, wenn der Lehrer vorbeigekommen wäre, nicht gestellt hätte."

Es gibt große Herausforderungen

Mit solchen Unterrichtsanteilen ließe sich, viertens, auch verhindern, dass Schülerinnen und Schüler in bestimmten Lebenssituationen einfach abgehängt werden. Dass Bildungsungerechtigkeit nicht noch größer wird. Julia Offe, die Mutter.
"Ich würde mir halt wünschen, dass es leichter ist für Kinder, zu Hause nachzuvollziehen, was sie in der Schule dran gehabt haben. Dass es Arbeitsblätter gibt oder dass da steht: Wir haben heute die und die Seiten aus dem Buch oder die Aufgaben gemacht. Oder lest euch mal durch aus dem Buch, oder die und die Zettel haben wir verteilt, die sind hier für euch noch mal hochgeladen. Dass man so was macht, weil: Das findet zurzeit überhaupt nicht statt. Es gibt zurzeit auch überhaupt keine Möglichkeit, dass Kinder, die krank zu Hause sind, mit ihren Lehrkräften in Kontakt treten."
Fünftens: Das Bildungssystem müsste insgesamt flexibler werden und Lernstoffe so vorbereiten, präsentieren und vermitteln, dass sie auf ganz verschiedenen Wegen von den Kindern und Jugendlichen gelernt werden können.
"Ja, das würde ich mir wünschen, gerade vor dem Hintergrund, dass man, wenn Kinder in Quarantäne müssen … Dann ist ja schon mal zwei Wochen Stoff, die die verpassen. Wenn Kinder erkältet sind, müssen sie sofort zu Hause bleiben, bis sie wieder ganz gesund sind. Es werden mehr Kinder Unterricht verpassen, und es wäre schön, wenn das dann nicht zu deren Nachteil wäre bzw. wenn es so gut wie möglich abgefedert werden würde."


Die Basis für all das: funktionierende Kommunikation, jederzeit und in allen denkbaren Lebenslagen. Mit Corona und ohne Corona, kurzfristig und langfristig. Der Umgang mit Unwägbarkeiten, sagt Oliver Hauschke, der frühere Schulleiter, sei eben der neue Normalfall.
Ein junger Mensch arbeitet in einem Klassenzimmer in Baden-Württemberg mit einem Tablet.
Schüler, Schülerinnen und Lehrkräfte mit der notwendigen Technik auszustatten, würde vielen im Schulalltag auch schon mal helfen. © icture alliance/dpa/Sebastian Gollnow
Und zwar einerseits für die Schulleitungen, die flexibel auf Situationen wie die Pandemie reagieren müssen. Andererseits aber auch für die Schülerinnen und Schüler, für die der Umgang mit solchen Unwägbarkeiten eine Kompetenz sei, die sie in der Schule vermittelt bekommen sollten. Flexibilität wird damit zu einem inneren und äußeren Ziel von Schule – und nicht das Festklammern an altem Unterricht von früher.
"Wir müssen unsere Kinder auf die Zukunft vorbereiten. Und jetzt bereiten wir sie im Grunde auf eine Vergangenheit vor, die nicht mehr wiederkommt."
"Das macht mich wirklich wahnsinnig. Da gibt es Lehrer, die haben noch nicht mal eine E-Mail-Adresse, die sie irgendwie herausgeben. Bei einer Schule, die sich sehr viel darauf einbilden, dass sie die Kinder fit macht für die Zukunft, dass sie den ganzen Herausforderungen der Zukunft gewachsen sein sollen."

Regie: Cordula Dickmeiß
Technik: Hermann Leppich
Sprecher: Max von Pufendorf
Redakteur: Carsten Burtke

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