Schullektüre

Warum noch immer 200 Jahre alte Bücher gelesen werden

Goethes Faust im Reclam Bücherregal auf der Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main
Muss es immer "Faust" im Unterricht sein? Schullektüren könnten breiter aufgestellt sein - die Auswahl ist jedenfalls da. © imago / Hoffmann
Faust, Woyzeck, Effi Briest - im Deutschunterricht scheint der Literaturkanon sich kaum zu verändern. Dabei gibt es keine verpflichtenden Lektürelisten, bis auf eine Ausnahme. Warum werden bestimmte Bücher Schullektüre und andere nicht?
Es bleibt ein prägender Eindruck: Schülerinnen und Schülern müssen sich seit Jahrzehnten mit den immer gleichen Klassikern der deutschen Literatur auseinandersetzen. Dabei gibt es keine bundesweit geltende verbindliche Lektüreliste, die vorschreibt, welche literarischen Werke im Deutschunterricht behandelt werden müssen.
Bildung ist schließlich Sache der Bundesländer. Doch auch deren Schul- und Kultusministerien schreiben keine Pflichtlektüre vor. Wieso aber schaffen es dann scheinbar die immer gleichen bisweilen hunderte Jahre alten Werke in den Unterricht?

Wie wird ein Buch Schullektüre?

Der deutsche Staat macht den Schulen schon seit Jahrzehnten keine Vorschriften, welche Schriften und Werke im Unterricht behandelt werden müssen. Für die Lehrpläne sind gemäß föderaler Verfassung die Kultusministerien der Länder verantwortlich und diese Lehrpläne enthalten keine verbindlichen Werk- oder Autorenvorgaben. Einige Bundesländer geben Lektüreempfehlungen heraus, wie etwa Hessen, Mecklenburg-Vorpommern oder Niedersachsen. Auswahl, Umfang und Systematiken dieser Empfehlungen sind von Land zu Land sehr unterschiedlich. Die Listen wollen ausdrücklich lediglich als Hinweise oder Anregungen verstanden wissen. Das bedeutet: Am Ende entscheidet in jedem Bundesland die einzelne Lehrkraft, welche Bücher und Schriften es in den Unterricht schaffen.
Eine Ausnahme gilt in einigen Bundesländern für die letzte Klasse der gymnasialen Oberstufe. Für die schreiben 12 der 16 Bundesländer die Behandlung bestimmter literarischer Werke im Unterricht verpflichtend vor. Grund dafür ist, dass in diesen Ländern die Abituraufgaben für jede Schule zentral durch das Kultusministerium gestellt werden. Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen verzichten dagegen trotz Zentralabitur auf Pflichtlektüre, in Rheinland-Pfalz wird das Abitur noch dezentral durchgeführt.
Die Textauswahl für die Pflichtlektüre liegt im Ermessen der einzelnen Bundesländer. Sie wird in der Regel von einer Kommission aus Lehrkräften und Wissenschaftlern getroffen und anschließend vom zuständigen Kultus- beziehungsweise Schulministerien offiziell als Pflichtlektüre festgelegt. Eine Auswahl weiterer prüfungsrelevanter Werke schlägt das Institut zur Qualitätssicherung im Bildungswesen (IQB) vor. Dabei handelt es sich um eine wissenschaftliche Einrichtung der Bundesländer, die diese bei „Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung im allgemeinbildenden Schulsystem“ unterstützen soll. Allerdings sind die Bundesländer nicht verpflichtet, Vorschläge des IQB zu übernehmen.

Welche Kriterien soll Schullektüre erfüllen?

Die Bildungspläne der Länder machen zwar keine verpflichtenden Vorgaben für die Lektüre bestimmter Autoren und Werke. Sie geben jedoch Kriterien vor, die Schriften und Werke für den Unterricht erfüllen sollen. Genannt werden unter anderem die literarische oder literaturgeschichtliche Relevanz eines Werks. Das heißt, etwa Exemplarität für eine bestimmte Epoche und/oder Gattung sowie Wirkung über die Entstehungszeit hinaus. Zudem sollen die behandelten Werke etwa grundlegende menschliche und philosophische Fragen thematisieren sowie Schülerinnen und Schülern ermöglichen, einen Bezug zur eigenen Lebens- und Erfahrungswelt herzustellen.
Dabei spielen unter anderem Themen wie Freundschaft, Liebe, soziale und gesellschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit aber auch Depression und Suizid eine Rolle. Das zeigt ein Blick auf Unterrichtsmaterialien, die Verlage für Lehrerinnen und Lehrer zur Verfügung stellen. Aber auch historische und gesellschaftliche Kontexte, in denen ein Roman, Theaterstück oder Gedicht entstanden ist, gelten als relevante Kriterien für die Lektüreauswahl. In der Auseinandersetzung mit den Schriften sollen Schülerinnen und Schüler zudem „rezeptive und produktive Textkompetenz“ erwerben, wie es etwa im Kernlehrplan für die Sekundarstufe I Gymnasium in Nordrhein-Westfalen heißt.
An Gymnasien soll die Textauswahl am Ende sicherstellen, dass Schülerinnen und Schüler bis zur Abiturprüfung ein literaturgeschichtliches und poetologisches Überblickswissen haben, das Werke aller Gattungen umfasst. So steht es in den Bildungsstandards Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife der Kultusministerkonferenz. Schülerinnen und Schüler sollen zudem in der Lage sein “Zusammenhänge zwischen literarischer Tradition und Gegenwartsliteratur auch unter interkulturellen Gesichtspunkten“ herzustellen. Vorgaben die letztlich auch den Spielraum für die Auswahl der Pflichtlektüre in Abiturklassen mitdefinieren.

Wieso werden in Schulen bis heute die „alten Klassiker“ gelesen?

Die in den Bildungsplänen genannten Kriterien erfüllen auch zeitgenössische Bücher und Schriften. Doch auf den Lektüre-Empfehlungslisten der Schul- und Kultusministerien und bei den Pflichtlektüre-Vorgaben für die Abiturklassen sind die „alten Klassiker“ überproportional vertreten. Laut dem „Deutschen Schulportal“ der Robert Bosch Stiftung hat das vor allem pragmatische Gründe: „Es ist mit viel Aufwand verbunden, Lehrkräfte für die Auseinandersetzung mit einem neuen Werk zu schulen und Unterrichtsmaterialien zu entwickeln.“
Unterrichtsmaterialien ganz alleine zu entwickeln ist für eine Lehrkraft im Schulalltag kaum zu leisten. Viele greifen daher auf Unterrichtsmaterialien zurück, die von bestimmten Fachverlagen angeboten werden. Und die liegen meist nur für die bekannten, klassischen Werke vor. Aus Sicht von Lehrerinnen und Lehrern sind es mithin also zumeist praktische Gründe, eher auf Bekanntes und Bewährtes zurückzugreifen. Abgesehen davon stellen diese Werke als Klassiker gerade ihre literarische und literaturhistorische Bedeutung unter Beweis – ein Attribut, das zeitgenössische Literatur durch anhaltende Bedeutung erst noch bestätigen muss.

Redaktionell empfohlener externer Inhalt

Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren.

Welche Kritik gibt es am klassischen Literaturkanon?

Schülerinnen und Schüler klagen immer wieder, darüber, dass im Unterricht zu wenige Autorinnen und ihre Werke behandelt werden. Kritikerinnen und Kritiker bemängeln, dass die Literaturempfehlungen der Kultusministerien ebenso wie die Auswahl der Pflichtlektüre für das Abitur zu unausgewogen sind. Die Autoren auf den Listen seien mehrheitlich männlich und weiß, die Werke zu eurozentristisch und zu heteronormativ. Bücher von Autorinnen, von People of Colour, von Menschen mit Behinderung und queeren Menschen seien nur vereinzelt oder gar nicht vertreten. Eine durchaus berechtigte Kritik, wie ein Blick auf die Abitur-Pflichtlektüre und Empfehlungslisten zeigt.
Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die Auswahl der Pflichtlektüre und der Literaturempfehlungen vom klassischen – überwiegenden weißen und männlich dominierten - Literaturkanon maßgeblich mitbestimmt ist, und diesen dadurch weiter verfestigt. Dass der klassische Kanon wiederum so weiß und männlich ist, habe damit zu tun, dass er meist von weißen Männern definiert worden sei, wie die Schriftstellerin Sibylle Berg betont.
Eine Feststellung, die von der Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert bestätigt wird. Sie belegt in ihrem 2021 erschienenen Buch „Frauenliteratur – abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“, dass Frauen in jeder Epoche hochwertige Literatur veröffentlichten. Ihre Werke wurden in der Folge jedoch vom männlich dominierten Literaturbetrieb abgewertet und in vielen Fällen einfach nicht weiter verlegt.
Seifert versucht daher, in Vergessenheit geratene Werke von Frauen wieder bekannt zu machen. Das gleiche Ziel verfolgen auch Berg und eine Gruppe Autorinnen mit „Die Kanon“, eine Liste mit Werken von Frauen, die ihrer Meinung nach zum Kanon gehören sollten. Damit diese Werke auch den Weg in den Schulunterricht finden, müssten zu ihnen aber wohl auch Unterrichtsmaterialien angeboten werden.

Miriam Zeh, Wulf Wilde

Mehr zum Thema