Spannendes für Erstleser
Die Schule beginnt, und die Eltern der Erstklässler fragen sich, welche Bücher sie ihrem bald lesenden Nachwuchs in die Hand drücken sollen. Bei 8000 neuen Kinder- und Jugendbüchern jährlich ist die Lage unübersichtlich. Die Vorstandsvorsitzende des Arbeitskreises für Jugendliteratur, Stephanie Jentgens, hilft mit Tipps weiter.
Liane von Billerbeck: In einigen Bundesländern hat die Schule ja schon begonnen oder sie fängt nächsten Montag an, wie in Thüringen und Sachsen, und das geht ja dann Schlag auf Schlag, bis Mitte September tatsächlich alle wieder in der Schule sind.
Immerhin 690.000 Kinder werden in diesem Herbst eingeschult mit dem Ziel, erst mal lesen und schreiben zu lernen. Wir haben in dieser Woche hier schon in einer Reihe über das Lesenlernen und den Verfall der Handschrift gesprochen, und heute soll es darum gehen, welche Bücher man Leseanfängern eigentlich geben sollte und was Spaß macht oder Spaß machen sollte, wenn man dann die ersten Bücher selbst liest.
Stephanie Jentgens ist Expertin für Kinder- und Jugendliteratur, sie forscht an der Uni Köln, gibt Schulbücher im Fach Deutsch heraus und leitet den Arbeitskreis für Jugendliteratur e.V., und sie ist jetzt am Telefon. Frau Jentgens, ich grüße Sie!
Stephanie Jentgens: Guten Morgen! Eine kleine Korrektur: Ich bin nicht mehr an der Uni Köln, seit 1994 nicht mehr, ich arbeite an der Akademie Remscheid als Dozentin für Literatur.
von Billerbeck: Dann darf sich jetzt die Akademie Remscheid freuen, dass sie Sie hat.
Jentgens: Genau!
von Billerbeck: Aber Sie waren da mal.
Jentgens: Ja.
von Billerbeck: Die ideale Anfängerliteratur, das wollen wir natürlich von Ihnen als erstes wissen, wie sieht die aus? Oder besser gesagt: Worauf sollten Eltern achten, wenn sie denn Bücher suchen für ihre Kinder, die jetzt gerade lernen, zu lesen?
Ideale Erstlesebücher: Kurz, einfach, spannend und ein wenig literarisch
Jentgens: Ja, also zunächst einmal ist es wichtig, dass diese Bücher Rücksicht nehmen auf die Fähigkeiten von Leseanfängern. Das heißt, die haben in der Regel eine große Schrift, die haben kurze Zeilen mit wenigen Wörtern darin, die Zeilen enden mit Sinnabschnitten, dann gibt es wenig Text pro Seite, die sind illustriert – das sind eigentlich so formale Kriterien.
Dann auf der sprachlichen Ebene sind es Bücher, die sich eher einer gebräuchlichen Sprache befleißigen und wenig Fremdwörter oder schwierige Begriffe verwenden.
Das ist erst mal nur auf der formalen Ebene. Inhaltlich verlangt man natürlich von den Erstlesebüchern eigentlich, dass sie das Gleiche leisten wie jedes andere Kinderbuch, literarisch gut gelungene Kinderbuch: Es soll spannend sein, es soll unterhalten, es soll witzig sein, es soll aber eben auch literarischen Kriterien entsprechen. Und das zusammenzubringen, ist natürlich eine schwierige Angelegenheit.
von Billerbeck: Wenn Sie seit vielen Jahren genau diesen Kinder- und Jugendmarkt, Kinder- und Jugendbuchmarkt, muss man ja sagen, beobachten, wie sieht denn das Angebot aus? Gibt es da genug Bücher, die genau diesen Kriterien entsprechen, die Sie da gerade aufgezählt haben?
Jentgens: Doch, den formalen Kriterien entsprechen eigentlich eine ganze Menge Bücher.
von Billerbeck: Aber?
Jentgens: Das kann man schon sagen, da gibt es ein reichhaltiges Angebot und es sind inzwischen auch an die 20 Verlage, die sich mit dem Erstlesebuch beschäftigen. Aber das Gros der Bücher, die publiziert werden, die entsprechen eher, ja, einem Einheitsbrei aus Piraten-, Indianer-, Dinosaurier-, Ritter-, Feen- und Pferdegeschichten, und das Ganze ist dann auch noch sehr schön geschlechtsspezifisch getrennt, für Mädchen die Feen und Prinzessinnen und für die Jungs halt die Indianer und Cowboys.
von Billerbeck: Warum ist das so? Es gibt doch sehr viele gute Kinderbücher. Warum stellen Sie gerade in diesem Bereich diese Defizite fest?
Jentgens: Das kann man jetzt so nicht sagen, dass das in dem Bereich so viel anders ist als in anderen Bereichen. Also wenn man sich die Masse ... Das sind ja 8.000 Kinder- und Jugendbücher, die jedes Jahr erscheinen, und wenn Sie sich die Masse anschauen, dann haben wir auch da eher ein Gros, das eben nicht unbedingt den literarästhetischen Kriterien entspricht.
Aber es gibt eben auch viele gute Publikationen. Also gerade im Erstlesebuchbereich hat sich in den letzten fünf Jahren, würde ich sagen, eine Menge getan, und da sind solche ... Also wir wollen ja hier auch für die Eltern was Positives mal hervorheben.
von Billerbeck: Wir sind immer für positive Nachrichten zu haben, wenn es so viele negative gibt.
Die kleinen Verlage gehen voran, die großen ziehen nach
Jentgens: Genau. Da muss man sagen, gerade so kleinere Verlage wie der Tulipan-Verlag, die haben eine ganze Menge getan, und wenn da jemand vorreitet, dann ziehen häufig auch die größeren Verlage nach und merken dann auch, dass man da ein bisschen mehr investieren muss. Also es gibt eine Reihe von wirklich guten Büchern, die sich für Erstleser eignen.
von Billerbeck: Dann nennen Sie uns doch mal ein paar.
Jentgens: Ja, also ein Beispiel, was jetzt gerade aktuell auch auf der Nominierungsliste vom Deutschen Jugendliteraturpreis steht, ist "Besuch beim Hasen" von Christian Oster und Katja Gehrmann. Das ist ein Buch, das beim Moritz-Verlag erschienen ist und es handelt, im Grunde genommen, ja, zunächst mal auf den ersten Blick eine normale Tiergeschichte.
Es handelt von einem Hasen, der in eine neue Gegend zieht, er stattet seine Wohnung behaglich und wunderschön aus, hängt eine besonders glänzende Klingel an seine Tür und hofft natürlich, dass die Nachbarn diese Klingel auch betätigen. Dem ist aber erst mal nicht so.
Aber eines Nachts um genau 13 Minuten nach zwölf – mitten in der Nacht – klingelt es beim Hasen, und er ahnt natürlich schon gleich Böses, und tatsächlich: Der Fuchs steht vor der Tür. Und dass der Fuchs nicht nur einen netten Besuch abstatten will, stellt sich auch sehr bald heraus. Der hat da andere, ja, kulinarische Interessen. Und das ist erst mal auf der Geschichtenebene ein spannender Plot, also man erlebt ...
von Billerbeck: Man wartet auf einen Gast und dann steht der Feind vor der Tür.
Jentgens: Genau, und es ist ein psychischer, ja, Kampf zwischen den beiden auch. Also der Hase bleibt immer auch extrem höflich in seiner Sprache, und man hat so diesen Kontrast zwischen seiner Angst und dieser Situation, die da entsteht.
Daraus entstehen auch häufig witzige Momente. Und die psychologische Gestaltung muss man auch noch hervorheben, die ist einfach hervorragend gemacht.
von Billerbeck: Nun haben Sie ein Buch empfohlen und ich vermute, die meisten Eltern von Kindern in der ersten Klasse haben jetzt schon den Stift genommen, wenn sie uns denn zugehört haben. Aber gibt es so was wie eine Liste, wo man quasi Bücher finden kann, denen Sie so eine Art Qualitätssiegel aufdrücken würden?
Empfehlungen gibt es unter anderem beim Borromäusverein
Jentgens: Ja, so ganz viele gibt es noch nicht, ganz viele Listen, aber sie können sich informieren beim Borromäusverein. Die haben auf ihrer Homepage ein Erstlesebuch des Monats, das sie immer vorstellen, und die geben auch noch unter borromaeusverein.de einen Überblick über aktuelle Erstlesebücher. Also da kann man sich schon mal informieren.
von Billerbeck: Danke, Frau Jentgens! Das war die Kinderbuchexpertin Stephanie Jentgens mit Empfehlungen und Kriterien, wie so ein Erstlesebuch aussehen könnte. Und vielleicht wäre es gut, wenn Sie so eine Liste mal aufschreiben, Frau Jentgens!
Das Gespräch mit ihr, liebe Hörer, können sie nachhören und -lesen natürlich bei uns im Netz, da steht dann auch dieser Borromäusverein. Und, ja, ich hoffe, wir erfahren noch mehr von Ihnen und Sie schreiben diese Liste, Frau Jentgens. Danke für das Gespräch!
Jentgens: Bitte sehr! Auf Wiederhören!
von Billerbeck: Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.