Schule

"Substanzlose Behauptungen"

Eine Schülerin des Anton-Bruckner-Gymnasiums in Straubing (Niederbayern) schreibt das Wort "PISA" auf eine Tafel.
Eine Schülerin schreibt das Wort "PISA" auf eine Tafel. Zuletzt gab es deutliche Kritik an den Studien. © picture alliance / dpa / Armin Weigel
Moderation: Frank Meyer |
Der Leiter der PISA-Studien bei der OECD, Andreas Schleicher, kann die Kritik von Hunderten Lehrern und Bildungsforschern nicht verstehen. Die Tests fragten nicht nur Basiswissen ab. Sie auszusetzen, lehnt er ab.
Frank Meyer: "Mr. Pisa" kommt gleich zu uns ins Studio – Andreas Schleicher, der den Hut auf hat für die internationalen PISA-Studien. Hunderte von Bildungsexperten haben vor Kurzem in einem offenen Brief an Andreas Schleicher die "Allmacht der PISA-Studien" kritisiert und ein Aussetzen der nächsten Studie gefordert. Diese sehr grundsätzliche Kritik diskutieren wir gleich mit Andreas Schleicher.
"Wir sind tief besorgt über die negativen Folgen der PISA-Rankings." Das schreiben Hunderte von Lehrern und Bildungsforschern in einem offenen Brief. Sie meinen, dass Bildung bei den PISA-Rankings vor allem nach den Interessen der Wirtschaft bewertet wird, dass auf die Besonderheiten einzelner Ländern keine Rücksicht genommen wird und dass PISA den Kindern schaden würde. Dieser offene Brief ist an "Mr. Pisa" gerichtet, an Andreas Schleicher. Bei der OECD – der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – leitet er die PISA-Studien. Und jetzt ist er hier bei uns im Studio – seien Sie willkommen, Herr Schleicher!
Andreas Schleicher: Danke schön!
Meyer: Schauen wir uns mal die Kritikpunkte im Einzelnen an: Sie arbeiten für die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, bewerten aber nun Bildungssysteme. Der Vorwurf in dem offenen Brief ist, dass Sie Bildung danach beurteilen, ob sie Schüler fit macht für den Arbeitsmarkt. Was sagen Sie zu dem Vorwurf?
Schleicher: Ich glaube, die Kritik kann ich so nicht verstehen, denn das PISA-Projekt wird von Bildungsforschern und Bildungspolitikern geleitet, und dann trifft sich hier alles, was Rang und Namen hat im Bildungsbereich, um festzulegen, was junge Menschen heute können müssen in der Gesellschaft. Das hat mit Wirtschaft natürlich etwas zu tun – wir wollen, dass junge Menschen fähig sind im Beruf –, es hat aber auch mit gesellschaftlichen Dingen zu tun. Es geht wirklich darum im Grunde, was brauchen junge Menschen heute, um im Leben erfolgreich zu sein. Dazu zählen natürlich die Grundfertigkeiten, aber dazu zählt ein ganz breiter Bereich von Kompetenz.
Bildungsforscher Andreas Schleicher hält die Kritik Hunderter Lehrer und Bildungsforscher an den PISA-Studien für unberechtigt.
Bildungsforscher Andreas Schleicher hält die Kritik Hunderter Lehrer und Bildungsforscher an den PISA-Studien für unberechtigt.© dpa picture alliance/ Federico Gambarini
Meyer: Aber Sie testen doch 15-Jährige in Sachen Mathematik, Naturwissenschaften, Lesefähigkeit, Sie schauen sich doch nicht an, ob Schüler informiert sind in politischer Hinsicht, ob sie sich mit ethischen Fragen auseinandersetzen, ob sie eigene Interessen artikulieren können – das spielt doch keine Rolle bei PISA-Rankings!?
Schleicher: Das ist ein Missverständnis. Natürlich testen wir Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz, es werden aber auch fächerübergreifende Kompetenzen getestet, zum Beispiel, inwieweit sich junge Menschen in diesem komplexen Leben positionieren können. Es werden Einstellungen nachgefragt, inwieweit zum Beispiel Schule ein Lernraum ist, in dem Schüler sich wohlfühlen – Einstellungen zum Lernen, Lernstrategien, all die Dinge, die im Grunde heute Voraussetzung sind für Erfolg. Wir fangen an jetzt mit dem Testen von gruppenbasierten Problemlösekompetenzen, sozialen Kompetenzen. Ich denke, da erfasst PISA ein breites Spektrum von Kompetenz, die heute wichtig ist. Das ist nicht alles, was man im Leben braucht, aber es sind wichtige Grundvoraussetzungen.
PISA ist umfangreicher als viele denken
Meyer: Aber bei den internationalen Rankings, da lese ich immer, Deutschland steht so und so wegen der mathematischen Fähigkeiten seiner Schüler oder dort und dort wegen der Lesefähigkeiten, da geht es nie um diese komplexen Fragen, die Sie gerade angesprochen haben.
Schleicher: Also noch einmal: Der OECD-Bericht umfasst etwa 900 Seiten, und davon gibt es 15 Seiten mit Rankings im Bereich Naturwissenschaften und Mathematik. Das Problem liegt darin, dass solche Bildungsforscher, die so einen Brief schreiben, sich den Rest dieser Publikation nicht durchlesen, sondern sich durch vielleicht einige Medien informieren, die sich jetzt auf wenige Rankings fokussieren. Ich denke, da ist PISA wesentlich umfangreicher als das, was sich viele davon vorstellen. Es eröffnet auch in meinen Augen – und das ist im Grunde das Wesentliche –, es eröffnet eine Außensicht, weil wir immer aufs eigene Klassenzimmer schauen, immer nur auf die eigene Schule, immer nur auf das eigene Land. Da nehmen wir gar nicht wahr, was im Bildungsbereich wirklich möglich ist, zum Beispiel im Bereich Chancengerechtigkeit, bei vielen Themen, wo man viel verändern kann.
Meyer: Ein weiterer Vorwurf, der in dem offenen Brief geäußert wird, und das ist vielleicht der härteste, das dort steht, dass PISA-Regime schade unseren Kindern, weil durch PISA immer mehr vorgefertigte – jetzt zitiere ich mal aus dem Brief – Multiple-Choice-Testbatterien angewendet werden und die Autonomie der Lehrer weiter verringert wird, was zu mehr Stress an den Schulen führe. Können Sie das widerlegen, dass PISA den Stress an den Schulen steigert?
Schleicher: Absolut! PISA ist eigentlich ein gutes Beispiel, wie man Leistung bewerten kann ohne Multiple-Choice-Aufgaben. Wer sich einmal nur einen PISA-Test anschaut, der wird sehen, dass da ganz spannende Aufgaben drin stehen, mit denen sich Schüler wirklich tief auseinandersetzen müssen. Es geht bei PISA nicht um die Reproduktion von Fachwissen, Fertigwissen, sondern es geht darum, ob junge Menschen kreativ mit Wissen umgehen können, Wissen auf neue Zusammenhänge übertragen können. Das wird bei PISA getestet, das können Sie mit Multiple-Choice-Fragen so gar nicht bewerten. Führt das zu mehr Stress? Ich denke, vielleicht hat PISA den Leistungsgedanken in dem Schulsystem stärker hervorgehoben, das hat aber durchweg positive Auswirkungen. Man muss aber auch mal ganz offen sehen, es hat sich in Deutschland seit der ersten PISA-Studie viel verbessert: Das Leistungsniveau ist deutlich gestiegen, die Verteilung von Bildungschancen, der Einfluss von sozialem Hintergrund auf Bildungsleistung, die Leistung von Schülern mit Migrationshintergrund – bei all diesen Themen sind wichtige Fortschritte festzustellen. Und ob das zu mehr Stress geführt hat, das kann ich so nicht beurteilen, aber zumindest stimmt das Ergebnis heute.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir reden über einen offenen Brief, in dem Hunderte Lehrer und Bildungsforscher aus aller Welt die PISA-Rankings kritisiert haben. Wir sprechen darüber mit Andreas Schleicher, er leitet die PISA-Studien bei der OECD. Es wird Ihnen in dem offenen Brief auch vorgehalten, dass Sie für Ihre Studien mit profitorientierten Privatunternehmen zusammenarbeiten und dass diese Unternehmen zum Teil auch ihr Geld verdienen damit, dass sie an öffentlichen Bildungseinrichtungen ihre Dienstleistung anbieten, was ja zu einem klaren Interessenkonflikt bei diesen Firmen führen kann. Was tun Sie gegen solche Interessenkonflikte?
Schleicher: Das ist absoluter Quatsch! PISA ist ein öffentliches Unternehmen, das wird von den Bildungsbehörden der teilnehmenden Länder gesteuert. An der Umsetzung arbeiten Wissenschaftler aus Universitäten, Instituten aller Länder, die dort teilnehmen. Es ist ein wissenschaftliches Projekt, es geht dort nicht um irgendwelche Interessen von Unternehmen, Unternehmen sind bei diesem Projekt nicht beteiligt – vielleicht mal als Auftragnehmer, wenn wir zum Beispiel irgendwo technische Aufgaben, vergeben wir Verträge, aber die inhaltliche Gestaltung von PISA wird von Experten aus den teilnehmenden Ländern durchgeführt. Das kann sich übrigens jeder, der sich ernsthaft dafür interessiert, im Internet nachlesen, wer bei dieser PISA-Studie mitmacht. Im Anhang unserer Publikation ist jeder Experte, der da mitarbeitet, namentlich aufgeführt.
"PISA ist ein ergebnisoffener Prozess"
Meyer: Nun gibt es ja die Kritik an den PISA-Studien im Prinzip von Anfang an, sie kulminiert jetzt in diesem offenen Brief mit einer wirklich beeindruckenden Unterzeichnerliste. Das fängt in New York an, geht über Deutschland in viele Länder hinein. In Deutschland haben inzwischen mehrere Hundert Lehrer, Schulverbände und so weiter diesen Brief unterschrieben. Ich nehme an, dass Sie so eine Kritik auch nicht ignorieren wollen, oder wie erklären Sie sich, dass gerade im Moment sich die Kritik so ballt an Ihren Methoden?
Schleicher: Also wenn wir das mal in der Anfangszeit sehen, im Jahr 2000, 2001, da war die Kritik sehr viel intensiver, da haben wir uns sehr viel damit auseinandersetzen müssen, heute sind das vereinzelte Briefe. Ich muss sagen, in diesem Brief ...
Meyer: Nun, das ist ja ein Brief, der von sehr vielen, auch von maßgeblichen Bildungsforschern unterstützt wird, den kann man nicht als vereinzelten Brief abtun, glaube ich.
Schleicher: Ja, aber wenn wir uns fragen, was dieser Brief an substanzieller Kritik bietet, ist es relativ dünn. Da werden Behauptungen aufgestellt – darüber haben wir gesprochen –, die wirklich substanzlos sind. Da werden im Grunde Thesen aufgestellt, dass PISA das Blickfeld verengt – das sehen wir genau im Gegenteil. Da haben wir, muss ich ehrlich sagen, in den ersten Jahren der PISA-Studie wesentlich substanziellere Kritik bekommen und auch Kritik, mit der wir uns wirklich intensiv mit führenden Wissenschaftlern auseinandersetzen mussten.
Meyer: Aber wenn Sie sagen, Sie sind offen, wofür sind Sie denn offen, welche Kritikpunkte werden Sie aufgreifen?
Schleicher: Also man kann immer sagen, dass ein Test wie die PISA-Studie bestimmte Kompetenzbereiche in den Vordergrund rückt, und da müssen wir dieses Feld der erfassten Kompetenzen kontinuierlich erweitern. Wir werden zum Beispiel jetzt, ich sagte das schon, soziale Kompetenzen im Jahr 2015 stärker in den Vordergrund rücken, im Jahr 2018 geht es auch darum, globale Kompetenzen miteinzubeziehen, inwieweit gelingt es jungen Menschen, sich in verschiedenen Wertesystemen, Einstellungen, Kulturen zu positionieren. All das sind neue Bereiche, aber da sind die Anregungen von Wissenschaftlern aus aller Welt auch sehr wichtig. Denn wie gesagt, PISA ist ein offener, ein ergebnisoffener Prozess, da hat nicht irgendwo eine Organisation oder ein bestimmter Kreis von Bildungspolitikern sich etwas ausgedacht, sondern das wird jedes Jahr – oder man muss es genau sagen – alle drei Jahre, da wird genau überlegt, was ist heute für die jungen Menschen besonders wichtig und wie wollen wir das bewerten.
Meyer: Die Autoren des offenen Briefes haben auch ein ganz konkretes Anliegen, und sie fordern oder schlagen vor, um ihre Einwände sich genauer anzuschauen von Ihrer Seite, die nächste Stufe der PISA-Tests auszusetzen – also das passiert ja alle drei Jahre –, eine Stufe zu überspringen, um sich in Ruhe mit ihren Einwänden und ihrer Kritik auseinanderzusetzen. Wären Sie dazu bereit?
Schleicher: Ich sehe dafür keine Veranlassung. Wie gesagt, der PISA-Test von der Bildungspolitik, von der Bildungspraxis, von der Wissenschaft in allen Ländern intensiv unterstützt und begleitet. Den Prozess werden wir weiterentwickeln, aber jetzt im Grunde den Schulen, der Bildungspolitik drei Jahre lang keine Rückmeldung zu geben, das wäre einfach verantwortungslos. Wir müssen doch einmal sehen: PISA schafft eine absolut notwendige Außensicht. Die PISA-Studie zeigt uns, was im internationalen Vergleich möglich ist. Wer hat in Deutschland zum Beispiel vor PISA über Finnland diskutiert oder über Japan oder über Kanada? Ich denke, dieses Blickfeld ist absolut wichtig, und das drei Jahre lang nicht zu haben, denke ich, wäre absolut verantwortungslos.
Meyer: In einem offenen Brief haben viele Hundert Lehrer und Bildungsforscher aus aller Welt die PISA-Rankings kritisiert. Wir haben über die Einwände gegen die PISA-Tests gesprochen mit Andreas Schleicher, er leitet die PISA-Studien bei der OECD. Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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