Flüchtlinge erzwingen Reformen
Die Zuwanderung hunderttausender Flüchtlinge fordert Deutschland heraus, aber das Problem bedeutet auch eine Chance, meint der Journalist Markus Reiter.Es zwingt die Regierung zu Reformen, die ohnehin überfällg seien. Die Chance auf eine gute Bildung und attraktiven Wohnraum müsse gerechter verteilt werden.
Die Flüchtlinge werden unsere Gesellschaft verändern. Diese oft gehörte Aussage ist ohne Zweifel richtig. Falsch wäre aber der Umkehrschluss: Ohne Zuwanderung müsste sich unsere Gesellschaft nicht verändern. Veränderung ist unausweichlich - egal, ob wir versuchen, uns gegen Einwanderer abzuschotten oder nicht.
Ich stimme der Kanzlerin zu, dass niemandem gedient wäre, jetzt zu verkünden: Diese Veränderungen überfordern uns. Wir schaffen das nicht. Nein, diesmal gibt es wirklich keine Alternative: Wir müssen das schaffen.
Deshalb hilft es, die überraschende Herausforderung durch die Ankunft Hunderttausender als Katalysator zu begreifen. Sie zwingt uns, endlich jene Probleme anzugehen, die ohnehin in Angriff genommen werden müssen. Dabei haben wir die Chance, aus alten Fehlern zu lernen und neue zu vermeiden.
Wohnungsneubau soll sozialgemischte Quartier fördern
Ich nenne hier nur zwei Politikfelder als Beispiele: Erstens hätte es ohnehin angestanden, mehr Wohnraum in den Ballungsgebieten zu schaffen – und zwar für sozial Schwache ebenso wie für Besserverdienende. Dabei sollten wir es diesmal besser machen als in der Vergangenheit. Es war nämlich ein großer Fehler, durch konzentrierten sozialen Wohnungsbau Armutsghettos einzurichten.
Die Sozialsiedlungen der 1960er und 70er Jahre haben sich längst zu Problemzonen entwickelt, nicht zuletzt deshalb, weil der billige Wohnraum viele Migranten angezogen hat. Dort haben sie sich von der Mehrheitsgesellschaft abgeschottet. Zusätzlich entwickelten sich bestehende Stadtteile durch sozialen Abstieg zu weiteren Ghettos.
Städtebauliche Monokulturen und Parallelgesellschaften sind aber nicht nur in sozialen Brennpunkt-Vierteln wie dem Duisburger Stadtteil Marxloh entstanden. Auch Öko-Ghettos der Wohlstandsbürger wie dem Quartier Vauban in Freiburg und generell den Villenvierteln der Reichen fehlt es an sozialer Durchmischung.
Die Flüchtlinge, die jetzt ins Land kommen, lassen sich aber nur integrieren, wenn sie Tür an Tür mit Menschen aus allen Schichten wohnen. Mit Reichen, mit Deutschen und mit jenen Migranten aus vielen Ländern, die schon länger hier leben. Das bedeutet, in Zukunft in gutbürgerlichen Vierteln sozial geförderte Wohnungen zu bauen und in Problemvierteln Wohnraum für Wohlhabende schaffen.
Schulen müssen sozialen Aufstieg ermöglichen
Ein zweites, ein seit langem bestehendes Problem ist die Bildungspolitik. In kaum einem anderen Mitgliedsland der OECD hängen die Chancen der Kinder so sehr von Bildung und Wohlstand der Eltern ab wie in Deutschland. Schüler mit Migrationshintergrund und Kinder aus Arbeiterfamilien haben eine signifikant geringere Aussicht, Abitur zu machen und zu studieren – und das auch bei gleichen Leistungen.
Der türkischstämmige Neuköllner Yigit Muk schildert in einem gerade erschienen Sachbuch, wie er sich gegen Vorurteile von Lehrern, Freunden und Gesellschaft durchbeißen musste. Und wie er das Chaos aus Perspektivlosigkeit und Gewalt überwinden musste, das in seinem Umfeld herrschte. Aber am Ende wollte er nicht auf einer schlecht beleumundeten Hauptschule landen – und machte 2012 das beste Abitur in der Geschichte seines Berliner Gymnasiums. Ein solcher Aufstieg auf dem Bildungsweg darf kein Einzelfall bleiben.
Der Migrationsdruck zwingt uns zu Reformen. Hunderttausende Flüchtlingskinder dürfen nicht enttäuscht werden, weil unser Bildungssystem soziale Ungerechtigkeit verfestigt anstatt sie zu überwinden.
Niemand zweifelt daran, dass riesige Aufgaben auf Deutschland zukommen. Noch nie aber war dieses Land besser dafür gerüstet, sie zu bewältigen. Wenn wir anpacken, was schon lange anstand, gestalten wir gemeinsam unsere eigene Zukunft. Und die Chancen stehen gut, dass wir am Ende in einem besseren und moderneren Deutschland leben werden.
Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und FU Berlin. Unter anderem war er Feuilletonredakteur der FAZ und schreibt Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation. Mehr unter www.klardeutsch.de